Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 69 vom 22. März 1895 Seite 2

Bilder aus dem preußischen Unteroffizierkorps.

Von Graf Günther Rosenhagen.


VI.
Der Unteroffizier als Arrestaufseher und als Lazarethgehülfe.


Fast in unmittelbarer Nähe einer jeden Kaserne befindet sich ein kleines, aus rothen Mauersteinen gebautes Haus mit einer Etage. Über den wenigen Fenstern bemerkt man von außen gar sonderbar dicke Bretter, die herabgelassen werden können und dann selbst dem hellsten Lichtschein den Durchbruch verwehren. Kein Schmuck, kein Zierath ist an dem Hause bemerkbar, tiefe, feierliche Stille herrscht ringsherum, kein Laut, kein Geräusch ist von den Bewohnern zu hören und jeder Vorübergehende wirft einen scheuen Blick zu den Fenstern hinauf, um dann schnell weiter zu eilen. Nur der Posten, der mit geladenem Gewehr jeweils zwei Stunden auf- und abpatrouillirt, bis die Ablösung kommt, widmet dem kleinen Haus und dessen Bewohnern die größte Aufmerksamkeit. Sobald er einen verdächtigen Ton hört, nimmt er seine Flinte von der Schulter in die Hand, bereit, wenn es sein muß, von seiner Waffe Gebrauch zu machen, aber nur selten wird er dazu gezwungen, denn die Mauern sind stark, die Fenster klein und die mit eisernen Riegeln verschlossenen dicken Eichenthüren spotten jedem gewaltsamen Versuch, sie zu öffnen.

Das ist das Arresthaus und der Einzige der vielen Bewohner, der sich daselbst frei und nach Belieben bewegen darf, ist der Arrestaufseher. Wohl keins der vielen Ämter, die die Unteroffiziere bekleiden, erfordert so viele militärische Tugenden wie dieses. Absolute Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, peinlichste Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Redlichkeit, kurz Alles, was man überhaupt von einem Menschen fordern kann und noch vielmehr, wird von dem Arrestaufseher verlangt. Schon hieraus geht hervor, daß man zu diesem wichtigen Amte keinen jungen Unteroffizier verwenden kann, meistens wählt man einen solchen Unteroffizier, der in der langen Dienstzeit Invalide oder Halbinvalide geworden ist, den man aber doch nicht vor Ablauf der gesetzlichen zwölf Jahre entlassen will, um ihm bei seinem Fortgang die Zulage von tausend Mark nicht vorenthalten zu müssen.

Der Arrestaufseher, der unten im Parterre ein oder zwei Stuben bewohnt, befindet sich immer im Dienst, Tag und Nacht. Die Einlieferungsstunde für die Arrestanten ist gewöhnlich Mittags zwischen ein und drei Uhr. Der mit Arrest bestrafte Soldat wird dem Arrestaufseher durch den Unteroffizier vom Compagniedienst zugeführt. Dann beginnt die Durchsuchung der Uniform des Sünders, d.h. es wird nachgesehen, ob der Arrestant irgend welche verbotenen Sachen in die Zelle hineinzuschmuggeln versucht. Es ist unglaublich, was die Leute Alles ersinnen, um den Arrestaufseher zu täuschen und wie sie auf alle nur mögliche Art und Weise versuchen, den heißgeliebten, aber streng verbotenen Tabak mitzubekommen. Im Mund, in der Nase und in den Ohren wird häufig nicht vergebens gesucht, aber ein schlauer Arrestaufseher läßt sich nicht täuschen. Die Leute müssen sich meistens ganz entkleiden, dann wird Alles untersucht und dreimal umgekehrt und der Sünder muß schon ein "höllisch heller Junge" sein, wenn es ihm gelingt, den Vorgesetzten zu "beluggsen". Ich habe es einmal erlebt, daß ein Arrestant sich die auseinandergewickelte Rolle Kautabak der Länge nach unter die Biesen der Hose genäht hatte. Er glaubte ganz sicher zu gehen, aber dem scharfen Auge des Unteroffiziers kam die Biese "unvorschriftsmäßig" dick vor, er forschte nach und fand, was er suchte.

Hat der Arrestant sich wieder angezogen, so wird er in seine Zelle abgeführt und mit der Hausordnung bekannt gemacht und Sache des Unteroffiziers ist es, darauf zu achten, daß dieselbe voll und ganz aufrecht erhalten wird. Auf seinen Rundgängen bei Tag und bei Nacht hat er sich davon zu überzeugen, daß Keiner seiner Schutzbefohlenen sich ein unerlaubtes Vergnügen oder eine unerlaubte Erleichterung verschafft. Die Leute müssen stets vorschriftsmäßig angezogen sein, dürfen bei Tag nicht schlafen, dürfen nicht zum Fenster heraussehen, die Stube nicht durch Zeichnungen oder Gedichte verunzieren, und dergleichen mehr. Aber die Langeweile und die Hoffnung, "es sieht ja Keiner", lassen die bestehenden Vorschriften nur zu bald vergessen werden. Doch das Auge des Gesetzes wacht. [Offensichtlich liegt hier ein Textverlust vor. Der Hrsgb.] es ist eine Frage, die selbst der Arrestaufseher nicht beantworten kann, wenn er schläft. Er ist immer auf den Beinen, er muß immer unterwegs sein, wenn die Zucht und Ordnung aufrecht erhalten werden soll, wenn die Leute nicht nur ihre Tage "abreißen", sondern wirklich gebessert das Lokal verlassen sollen. Der Unteroffizier muß also nicht nur der strenge Wächter, sondern auch der Erzieher sein.

Oftmals, wenn auf der Wache Zapfenstreich geblasen wird, hat der Aufseher nochmals alle Zellen abzugehen, für die Nacht wollene Decken auszugeben und sich davon zu überzeugen, daß Alles in Ordnung ist. Während der Nacht muß er jeden Augenblick darauf gefaßt sein, geweckt zu werden; in jeder Zelle befindet sich ein Glockenzug, den der Arrestant ziehen darf, wenn er irgend welche mit der Hausordnung in Einklang zu bringende Wünsche hat. Oft kommt es auch vor, daß nachts Arrestanten abgeliefert werden, daß Leute oder Posten von den Patrouillen bei einem Vergehen abgefaßt werden, die dann sofort in Untersuchungshaft aufgenommen werden müssen. Dann gilt es, das warme Lager zu verlassen und oft in strengster Kälte eine Untersuchung des Eingelieferten vorzunehmen, die noch genauer sein muß als am Tage. Morgens beim Wecken muß der Unteroffizier wieder revidiren, die Decken abnehmen, das Reinigen der Zellen und der Uniformen beaufsichtigen und aus seinem Buch feststellen, wer von den ihm Anvertrauten heute seinen "schlechten" oder "guten" Tag hat. Bei längeren Strafen folgt auf drei Tage streng immer ein guter Tag, der Unterschied besteht darin, daß im ersteren Falle die Anfangs erwähnten dicken Bretter vor dem Fenster heruntergelassen werden, während Derjenige, der seinen guten Tag hat, nach drei Tagen völliger Finsterniß das Licht wieder auf vierundzwanzig Stunden begrüßen darf. Auch in der Kost ist an diesen Tagen ein Unterschied und es erfordert die ganze Aufmerksamkeit des Unteroffiziers, um "Jedem das Seine" zu geben. Auch gilt es nachzusehen, wer heute entlassen wird, denn schwere Strafe würde ihn treffen, wenn er, auch völlig unbeabsichtigt, einen Mann auch nur eine Stunde über die befohlene Zeit im Gewahrsam behielte. Sie Alle, die dort oben in den engen Zellen hausen, sehnen sich mit allen Fasern ihres Herzens nach der goldenen Freiheit und ginge es nach ihnen, sie würden je eher je lieber wieder davongehen. Sie zählen die Stunden, Minuten und Sekunden, die sie noch zu sitzen haben, aber wenn man wartet, vergeht die Zeit so langsam, so entsetzlich langsam, und die Gefangenen zerbrechen sich darüber den Kopf, wie sie es machen können, um früher als befohlen wieder herauszukommen. Entfliehen ist ein Unding, da bleibt nur eins, "sich krank zu stellen".

Täglich wird der Gesundheitszustand der Arrestanten untersucht, wie auch jeder vor seiner Einlieferung vom Arzt befragt wird, ob ihm etwas fehle - aber innerliche Leiden können so schnell nicht entdeckt werden und so erreichen die Leute es denn manchmal durch "Angabe falscher Krankheiten", daß sie zur Beobachtung dem Lazareth überwiesen werden. Unter gewöhnlichen Umständen ist der Aufenthalt daselbst auch nicht beliebt und fast ebensoviel Angst wie vor dem Arrestaufseher haben die Leute vor dem Lazarethgehülfen.

Auch dieser geht aus der Reihe der Unteroffiziere hervor und scheidet mit dem Tage, an dem er in das Lazareth übersiedelt, vollständig aus dem Frontdienst aus. Die Anforderungen, die an einen guten Lazarethgehülfen gestellt werden, sind nicht gering; er muß eine gute Schulbildung genossen haben, vollständig fertig lesen und schreiben können, stark sein im Ertragen von Strapazen und Mühseligkeiten und wirklich Lust und Liebe zu seinem oft sehr schweren Berufe haben. Seine Ausbildung erhält er durch die Instruktionsstunden seitens des Assistenzarztes, denen dann durch den Unterricht im Krankenträgerdienst die weitere Belehrung folgt. Der erste Platz, an dem er Gelegenheit findet, seine Kenntnisse praktisch zu verwerthen, ist die Revierstube, wo dem Arzt jeden Morgen die Kranken vorgeführt werden. Hier ist es, wo der Soldat die heilige Scheu vor dem Lazarethgehülfen empfängt. Die lange Übung schärft seinen Blick; er weiß in der Regel, wer von den Vielen, die über innere "Stiche", "allgemeines Unwohlsein", "Schwindelanfälle" und derartige Leiden mehr klagen, wirklich krank ist oder wer nur den "Kranken markiert". Er redet den Leuten scharf ins Gewissen, sich nicht so viel vom Dienst zu drücken und erst wenn er sieht, daß alle seine Worte vergebens sind, greift er zu dem letzten wirksamen Mittel, dem selbst der eingebildetste Kranke gegenüber noch nicht Stand gehalten hat, er verordnet Kraft seines Amtes alle zwei Stunden einen gehörigen Eßlöffel voll Rhicinusöl und ebenso wie sein Freund, der Arrestaufseher, sorgt er dafür, "daß Jedem das Seine " wird.

Der Lazarethgehülfe ist die rechte Hand des Arztes bei allen Untersuchungen und Operationen, denn auch bei diesen muß er zugegen sein und hat, wenn dieselben vollzogen, Nachts die Wache bei dem Kranken zu übernehmen. Er ist dafür verantwortlich, daß der Kranke in allen Punkten genau die gegebenen Anordnungen befolgt. Gelegentlich hat er den Kranken zu messen - glaubt er, daß das Fieber gestiegen oder sonst irgend eine Verschlimmerung in dem Befinden eingetreten ist, so hat er sofort den im Lazareth wohnenden Arzt rufen zu lassen und bis zu dessen Erscheinen selbstständig das Nothwendige zu veranlassen. Also auch auf seinen Schultern ruht eine große Verantwortung.

Des Morgens, wenn die Ärzte ihre Visite machen, muß er sie auf ihrem Rundgange begleiten und hülfreiche Hand leisten, wenn die Verbände erneuert oder die Umschläge gewechselt werden. Ist dies geschehen, so begleitet er den Chefarzt nach seinem Arbeitszimmer, um dort entweder nach Diktat oder nach mündlichen Anleitungen die Berichte und Atteste zu schreiben, eine Arbeit, die gewöhnlich mehrere Stunden erfordert, denn in den großen Lazarethen liegen oft mehrere hundert Kranke. Mittags gilt es, sämmtliche Stuben abzugehen und nachzusehen, daß alles in Ordnung ist. Auch für das Lazareth giebt es eine Hausordnung, die aber ebenso wie im Arrest sehr häufig überschritten wird. Auch hier spielt der Tabak eine wichtige Rolle. Rauchen ist nur im Rauchzimmer oder in dem großen, schönen Garten erlaubt. Aber die vielen, die wegen eines schlimmen Fußes oder wegen eines kranken Beines an das Bett gefesselt sind, möchten so gern, so unendlich gern einmal wieder einen Zug thun. Ein guter Freund hat ihnen ein halbes Dutzend Cigarren hineingeschmuggelt, die wohlverwahrt im Strohsack des Bettes liegen. Der Lazarethgehülfe hat soeben revidirt und Alles in Ordnung gefunden - einen Augenblick zögert der Kranke noch, dann siegt das Laster und er zündet sich den Tabak an. Ach, wie das schön schmeckt, fast zu schön, - da öffnet der Unteroffizier die Thür: "I, das ist doch sonderbar, daß im August die Öfen so stark rauchen, daß man es weilenweit riecht."

Er untersucht den Ofen ganz genau, während dem Sünder der Angstschweiß auf die Stirn tritt, denn er weiß ganz genau, "drei Tage mittel" sind ihm bei seiner Entlassung sicher, wenn nicht ein Wunder ihn vor der Entdeckung schützt. Aber die Zeit der Wunder ist vorüber, der Unteroffizier kennt seine Pappenheimer, nur zum Schein und um die Qual des Betreffenden zu erhöhen, läßt er seinen Blick herumschweifen, er weiß ganz genau, wer der Schuldige ist. Er tritt auf das Bett zu und öffnet dem Kranken die krampfhaft geschlossene Rechte und nimmt ihm die Cigarre fort.

Die im Lazareth Liegenden haben eine höllische Scheu vor dem Unteroffizier, der streng, aber gerecht seines Amtes waltet.

Ist die Revision der Stuben beendet, so wird das Essen ausgegeben. Gekocht wird im Lazareth selbst von einem dorthin, meistens auf ein Vierteljahr kommandirten Küchenunteroffizier. Der Arzt du jour hat täglich das Essen zu prüfen, aber der Lazarethgehülfe ist dafür verantwortlich, daß Jeder die ihm verordnete Kost empfängt. Nur zu oft kommt es vor, daß Leute, die keinen Appetit haben, ihr Essen den Kameraden abgeben, oder daß diejenigen, die auf "halbe Ration" gesetzt sind, den Andern ihre ganze Ration abzukaufen suchen; oft gelingt es auch, aber hinterher merkt es der Unteroffizier doch. Er weiß genau, wie die Leute nach Tisch aussehen und wenn einer gar zu fröhlich ist, sagt er nur "Aha" und die Leute kennen die seltsame Betonung, mit der diese wenigen Buchstaben gesprochen werden und denen gegenüber kein Leugnen hilft.

Am Nachmittag erscheinen die Ärzte wieder zur Visite und abends vor dem Schlafengehen begleitet er den im Lazareth wohnenden Arzt noch auf seiner Ronde.

So vergeht ein Tag nach dem anderen in anscheinend sich stets gleichbleibendem und doch immer wechelndem Dienst. Zuweilen tritt auch die Pflicht an ihn heran, die Truppen bei großen Ausmärschen und Übungen zu begleiten. Er marschiert dann an der Queue der Abtheilung und hat die Pflicht, jedem, der unterwegs zurückbleibt, die erste Hülfe angedeihen zu lassen. Gewöhnlich sind es die Füße, die den Mannschaften das Weitermarschieren erschweren, oft sind es leider auch Ohnmachten und Hitzschläge. Ist die Truppe im Quartier angekommen, so beginnt erst für den Lazarethgehülfen die Arbeit. Während die Leute sich schlafen legen und von den Strapazen ausruhen, muß er, der selbst den ganzen Vormittag hin- und hergelaufen ist, von Quartier zu Quartier gehen und sämmtliche Füße revidiren. Oft wird es abends, ehe er damit fertig ist, aber an Ausruhen darf er dann noch nicht denken. Er muß den Tagesrapport, den Krankenbericht schreiben, zu dem vielleicht weit weg wohnenden Arzt gehen, um ihm über einen besonders schweren Fall Bericht zu erstatten, den Kompagnien Meldung schicken, wer von den Kranken der Schonung bedarf und wer dem Lazareth überwiesen werden soll. Erst spät in der Nacht findet er Ruhe, um nach wenigen Stunden wieder aufzustehen und einen Tag voll neuer Arbeit zu beginnen.

Unsere Armee hat den Ruf, den besten Gesundheitszustand zu besitzen - es ist dies ein Verdienst unserer hervorragend guten Ärzte, aber zum großen Theil auch ein Verdienst unserer vorzüglichen Lazarethgehülfen, die, jeder nach bestem Können und Wissen, unermüdlich, ohne die geringste Rücksicht auf die eigene Bequemlichkeit, ihren verantwortlichen Posten auszufüllen bemüht sind.



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© Karlheinz Everts