"Rumpelstilzchen"

"Nee aber sowas!"
(Jahrgangsband 1934/35)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1935

Glossen 16 - 18
24. Januar bis 7. Februar 1935


16

Wo man sich jung fühlt - Kriegsfreiwillige von 1870 - Der Karneval kommt - Das Jahresfest der Buchhändler - Zwei Tage vor Ultimo.

Ein guter Rat, mein lieber Freund! Wenn Du glaubst, Du fingest an alt zu werden, dann mische Dich nicht etwa unter die Jugend, um von ihr wieder beflügelt zu werden. Man wird Dich dulden, man wird nett zu Dir sein, gewiß. Aber im Grunde hat man für Dich nichts übrig, Du bist, wenn Du nicht störst, zum mindesten überflüssig, mitunter vielleicht sogar leise lächerlich. Du fühlst Dich nicht jünger, wenn Du wieder zurückkommst. Nein, mein Freund, Du mußt - zu noch Älteren gehen!

Das Durchschnittsalter der Deutschen hat sich dank Hygiene und Diät und allgemein besserer Fürsorge für die Abgebrauchten sowie durch den Rückgang der Säuglingssterblichkeit von 38 auf 57 Jahre erhöht. In der Zeit unserer Großmütter war das Wort "Menschenalter" die übliche Bezeichnung für 35 Jahre, heute müßten es über 50 sein, und die Steinalten nehmen überhand, man hat also immer Gelegenheit, höhere Semester aufzusuchen.

Kennst Du die Burggrafen in Berlin?

Das ist so ein loser Klub von Herren, meist Offizieren außer Dienst, die eigentlich schon im Jenseits stehen, aber doch noch ganz vergnügt sind. Zufällig hat sich ein bloß Sechzigjähriger dahin verirrt. Die Neunzigjährigen nennen ihn lächelnd den Säugling. An jedem Dienstag, vormittags ½12 Uhr, treffen sich die Burggrafen, zu einer Zeit also, wo man allenfalls Lust zu einer Tasse Fleischbrühe hat. So nennen sie denn ihre Zusammenkunft den Brühschoppen.

Eine andere Gemeinschaft ist die der Kriegsfreiwilligen von 1870/71, von denen es noch etliche hundert in ganz Deutschland gibt, für die sogar ein eigenes Mitteilungsblatt gedruckt wird. Die Geschäfte der Berliner Gruppe - Jahresbeitrag 3 Mark - besorgt der quicklebendige ehemalige Apotheker und Hauptmann der Reserve a.D. Heinke, der 1870 mit dem Premierlieutenant v.Kluck, dem späteren großen Heerführer, zusammen bei der 9. Kompanie des Infanterieregiments 55 stand. Er hat einen schönen weißen Vollbart, aber kaum ein Fältchen im Gesicht, und spielt noch zweimal wöchentlich Kammermusik: Bach, Schubert, Beethoven. Seit 70 Jahren meistert er das Cello! Seine Handschrift ist wie gestochen, nicht im geringsten zittrig. Hält er sein randvolles Glas Wein empor, so geht kein Tropfen verloren.

Der Jüngste in diesem Kreise ist 85 Jahre alt. Jeweils am 22. März, am Geburtstag des alten Kaisers, ist Jahresfest. Am diesjährigen 22. Januar wurde der Reichsgründung gedacht. Da habe ich mich glückselig herankristallisiert. Herrgott, ist das Leben schön! Da könnte man doch wahrhaftig noch ein kleines Menschenalter lang auch so frisch sich erhalten, denkt man, wenn man unter diesen Herren sitzt. Da ist der Generalarzt a.D. Dr.Gelau, 86 Jahre alt. Im Juli 1933 wurde er von einem Auto überfahren, wobei ihm der linke Oberarm zersplittert und vier Rippen gebrochen wurden. Heute ist alles wieder in Ordnung; im März will Gelau eine billige Mittelmeerreise machen.

Exzellenz v.Knesebeck, 92 Jahre alt, ist an diesem Dienstag ausnahmsweise nicht erschienen. Aber Oberstleutnant a.D. Witzleben, die Generalleutnants a.D. Andrae und Doussin, der General der Kavallerie Graf v.Schlieffen und mancher andere, der 1870/71 und mitunter sogar noch 1914/18 mitgemacht hat. Nur einer, der ehemalige Architekt Zippel, ist nicht bolzengerade, sondern kommt ein bißchen windschief daher. Das hat aber seine besondere Bewandtnis, daran sind die Mitrailleusenkugeln von Amiens schuld, von denen er eine noch heute, seit 65 Jahren, in seinem zusammengeschossenen Körper mit sich herumträgt. Der Vorsitzende der Vereinigung in Berlin ist ein Herr Geheimrat, dessen Namen ich vergessen habe, auch steinalt; aber frisch und straff, durchaus nicht mit brüchiger Stimme, hält er die Begrüßungsansprache.

Materiell geht es nicht etwa allen gut. Da ist ein Major der Reserve a.D., der 25 Jahre lang Berliner Standesbeamter war. Die Republik hat ihm seine Pension so gekürzt, daß er sich keinen Abendimbiß im Landwehrkasino zu seinem Viertelliter offenen Weines leisten kann. Von Hause, aus einem Berliner Vorort, hat er aber zu früh aufbrechen müssen. Also hat er sich ein belegtes Butterbrot von da mitgenommen und schneidet es sich mit seinem Taschenmesser in Bissen. Dafür sitzt er unter Kameraden aus großer Zeit.

Noch kaum je habe ich eine Zusammenkunft so verlassen, voll frohen innerlichen Trällerns. Nun weiß ich es, daß man seinen Jungbrunnen am sichersten bei viel Älteren findet.

Das leben besteht aber nun einmal aus Kompromissen. Man soll das eine tun, das andere nicht lassen. Im Vertrauen: ich gehe auch manchmal zur Jugend.

Die Zeit des Karnevals ist ja im Anzug. Die Münchener haben gestaunt, als ihnen dieser Tage die Kölner mit Elferrat und spritzigen Vorträgen "aus der Bütt" einen Besuch machten. Rheinischer geht doch noch über bajuwarischen Humor. In Berlin mischt sich mit dem rheinischen der ortsansässige, wenn es hier eine Karnevalssitzung etwa des "Alaaf" gibt. Nur das Publikum geht nicht so selbstvergessen-hingebend mit wie im Westen und Süden des Reiches; es ist stumpfsinniger. Man schunkelt natürlich den Kehrreim:

"Ov krüzz oder quer, ov Knäch oder Här,
Meer losse nit vum Rhing un nit vum Fasteleer"

fröhlich mit, man klatscht mit sogenannten Pelotonsalven in die Hände, man schmunzelt zu der Bütt empor, einer turmhohen Redekanzel in Form eines riesigen Weinglases, aber die vielen jungen Mädchen starren entsagungsvoll auf die alten Ehepaare, die nachher mit glänzenden Augen untereinander tanzen. Es fehlt an männlicher Jugend, die heute so sehr anderweitig beschäftigt ist, daß sie weniger als früher dazu kommt, "eine kesse Sohle hinzulegen".

Vielleicht ist der Berliner Ballkalender auch schon wieder zu ausgiebig geworden. Alle alten Feste tauchen wieder auf, das der Bösen Buben, das der Reimann-Schule, das der Bunten Laterne; auch die Berliner Presse hat sich nun doch noch auf ihre Tradition besonnen und will uns am 2.Februar durch unerhörten Glanz verblüffen, obwohl nicht weniger als neun große Berliner Tageszeitungen, die roten ungerechnet, in den letzten zwei Jahren eingegangen sind. Dazu feiert jeder Berufsstand, jeder Sportverein. Sicherlich hat auch wieder der "Verein der Hebammen von Berlin-Lichtenberg und Umgegend" sein Wintervergnügen, auf dem ich einmal vor Jahren so viel urwüchsig-köstliches erlebt habe. Eines der geschmackvollsten Feste ist und bleibt immer das der Buchhändler, das die Verleger, die Sortimenter, die Antiquare als die Könige des Gewerkes mit den Kärrnern am Bau, etlichen prominenten Autoren, zu vereinen pflegt.

Im Vorraum zum Kaisersaal des Zoo studiert man die Tischordnung. Da haben altbekannte Firmeninhaber die Plätze für sich und ihren Hofstaat belegt, da liest man die Namen Hillger, Dr.Stilke, Bischoff, Langenscheidt, Graf Schlieffen, Sohnrey, Dr.Elsner, Weidemann und viele andere. Aber die dem Zoopächter garantierte Mindestzahl der Gäste ist doch nicht ganz zusammengekommen, denn manch einer hat sich in der Ungunst der Zeiten den Besuch verkniffen. Ich vermisse den vor dem Kriege im Schloßviertel so florierenden Inhaber der Firma Puttkammer & Mühlbrecht und noch den und jenen alten Bekannten, aber dafür sind illustre Ehrengäste erschienen, u.a. der Präsident der Reichsschrifttumskammer, Dr.Blunck, und es sind viele wunderbare Toiletten da: ich sitze zwischen einer Malerin und einer Schauspielerin, und beide verstehen sich auf Wirkung. Walter Bloem tanzt mit Frau Oskar Höcker, Freiherr Grote führt die jüngere Kriegsgeneration an, es sind sogar, schätzungsweise, noch kostbarere Jahrgänge zu sehen, so daß einem das Wort des Fürsten Bismarck wieder einfällt:

"Neunzehn Jahre sind nicht für Verfassungen, wohl aber für Damen ein sehr empfehlenswertes Alter."

Im Sommer läuft alles mehr auseinander, im Winter ballt sich die Geselligkeit. So kommt der winterliche Berichterstatter leicht dazu, Berlin irrtümlicherweise als die Stadt der Feste erscheinen zu lassen. Es ist doch die für das ganze Reich vorbildliche Stadt der Arbeit, wovon sich jedermann überzeugen kann, der auf einer Rundfahrt mit dem Neubau der Reichsbank an der Spree beginnt und an der Abtragung des Kilometerberges hinter Wannsee endet. An der Börse spricht man manchmal von Ultimosorgen. Für den Arbeitenden bedeutet aber das Monatsende die Befreiung, denn da gibt es wieder Gehalt.

Zwei Tage vor Ultimo ("dem einzigen Tage im Monat, wo man für Geld arbeitet") gehen zwei Männer betrübt die Potsdamer Straße entlang; einer von ihnen ist mir ein lieber Bekannter. Der eine hat noch 28, der andere 23 Pfennige in der Tasche, beide haben aber sehr viel Durst. Sie reden von einer schönen, saftigen Molle, auf die man einen schönen, scharfen Korn setzen möchte. Die Lippen werden ihnen immer trockener. Plötzlich sagt mein junger Bekannter, seines Zeichens Dichter und Schriftleiter, zu seinem Begleiter: "Nu aber rin!", und zieht ihn in eine kleine Stampe dicht am Potsdamer Platz. Da steht, stämmig und wohlgenährt, der Wirt hinter der Theke, spült Gläser und hört alsbald folgende Ansprache:

"Herr Wirt, ich sehe Sie hier stehen, so recht ein Bild des Mannes, der durch Arbeit zu Wohlstand gelangt ist. Und nun sehen Sie uns an! Wir sind nur Angestellte, wir warten auf den Ultimo, auf übermorgen. Unser Durst aber ist von heute, ach, so sehr von heute! Sie stehen an den blitzenden Zapfhähnen, und uns möchte der Mund schäumen. Empfinden Sie, Herr Wirt, dieses Mißverhältnis? Wüßten wir nur einen Menschen in der Welt, der das erlösende Wort fände und sagte, ist gut, Jungens, ihr habt..."

"Kredit!", unterbricht prustend der Wirt.

"Jawohl, Ella", fährt er fort, "gib den Herren auf Kredit, was sie wollen, ich selbst muß weg. Auf Wiedersehen, meine Herren!"

Ella ist eine ganze Stunde lang mit Hergabe von Getränken auf Kredit beschäftigt. Es ist sehr fidel. Auf der Rolltreppe des Bahnhofs Schöneberg machen beide Leute nachher die schwierigsten Turnübungen, um sie zu erklimmen. Nach zwei Tagen sind sie wieder an Ort und Stelle, bezahlen und bleiben noch länger.

"Sagen Sie mal, Herr Wirt, bloß so auf unser ehrliches Gesicht hin, wir sind noch ganz baff, sind Sie eigentlich noch nie bei so was hereingefallen?"

"Nein, in Berlin noch nie", sagt der Stämmige.
24. Jan. 1935 (Donnerstag)


17

Nach der Grünen Woche - Werbung durch Anschauung - Bei den Tieren - Reit- und Fahrturnier - Jubel um Mackensen - Von den Ausgebürgerten - In der Staatsbibliothek.

Die Grüne Woche für die Landwirte findet in Berlin alljährlich statt, wenn es noch nicht grün ist; denn wenn es grün ist, haben die Landwirte keine Zeit mehr für eine Grüne Woche in Berlin.

Selbstverständlich hat sich die Geschäftswelt der Hauptstadt für die Besucher gerüstet, in den Schaufenstern sieht man Jagdstiefel, Joppen, Lodenmäntel; eine Gaststätte in der Friedrichstraße hängt ein Plakat mit den Versen aus:

"Willst Du essen,
Trinkst Du Bier,
Deutscher Bauer,
Tu' es hier!",

und die Ansager in den Kabaretts machen ausnehmend biedermännische Mienen und etwas deutlichere Witze als sonst, obwohl sie aus Erfahrung wissen müßten, daß die deutschen Bauern solche Lokale nicht begehren, wenn sie zur Grünen Messe erscheinen.

Von der Düngerstreumaschine bis zur Milchzentrifuge, vom Rassekaninchen bis zum Turnierpferd, vom Urzeitbauernblockhaus bis zum Getreidesilo ist das hier in den Ausstellungshallen am Kaiserdamm gleichzeitig Anschauungsunterricht und Mustermesse. So kennen wir diese und ähnliche Veranstaltungen rund um den Funkturm seit langen Jahren. Neu ist daran seit 1933 die starke, eindringliche Werbung, die der Staat für die heutige Weltanschauung und Geschichtsauffassung betreibt, um auch den letzten Besucher geistig zu erfassen. "Maul halten, Steuern zahlen, Wacht am Rhein singen!" sei die Parole für den Staatsbürger, hieß es einst; das gilt, mit kleinen Veränderungen, noch immer, und das nicht zu knapp. aber der Hauptunterschied gegen früher ist der, daß das "Warum" einem klargemacht wird. Im Vorkriegs-Deutschland wurde die Bedeutung der Propaganda amtlich nicht erkannt, und als 1907 zum erstenmal ein Minister, Bernhard Dernburg, sozusagen als Reklamechef für die Kolonien in einer öffentlichen Volksversammlung sprach, stand die Behördenwelt Kopf. Heute ist solche Propaganda etwas Alltägliches. Wir werden auf Schritt und Tritt umworben, durch den Rundfunk auch daheim, und wenn wir die Ausstellung der Grünen Woche betreten, so nimmt man uns auch sofort in Bearbeitung.

Es ist außerordentlich einprägsam, wenn man da gleich in der Ehrenhalle auf Schaubilder stößt, die geschichtlich belehren.

In sehr moderner Form. Wir alle kennen die bildliche Darstellung eines Index, die auf- und abschwellenden oder Zickzacklinien über ein Gradnetz von Monaten oder Reichsmark oder Tons hinweg. Hier nun leuchtet auf riesiger Wandtafel elektrisch die Dolomitenkurve des Auf und Ab in der Geschichte des deutschen Bauerntums. Du magst manches Buch darüber gelesen, viel davon behalten haben. Aber alle früheren Eindrücke werden von diesem überkerbt. Also die Linie beginnt waagerecht hoch oben links mit dem freien Hof der Vorzeit, fällt unter den Merowingern und Karolingern durch Einführung des Frondienstes, fällt unter dem Römischen Recht und unter Adel und Geistlichkeit bis zur Leibeigenschaft ab, hebt sich nur gelegentlich in den Zuckungen der Bauernaufstände vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, ein wenig doch wohl auch durch die Kolonisation unter den Hohenzollern, um dann erst ständigen Auftrieb wieder durch die Reformgesetze des Freiherrn vom Stein zu bekommen, die aber abgeschwächt werden, und im liberalistischen Zeitalter sinkt durch Börsendemokratie und Marxismus die Bauernschaft in die tiefsten Tiefen, aus denen dann seit zwei Jahren der nationalsozialistische Aufschwung erneut heraufführt, wieder bis zu der Höhe der waagerechten Urlinie hinauf. Dieser ungeheuer plastische Eindruck wird in den Nebensälen durch Bilder, Urkunden, Flugschriften, Statistiken aus allen Jahrhunderten belegt. Am laufenden Bande ("Immer rechts entlang bitte!") werden die Gruppen der Besucher daran vorübergeführt. Mit hallender Stimme geben gutgeschulte Führer die Erklärungen. Es liegt erstaunliche Organisation in der Sache.

Unsereins kommt nachher bei den Maschinen natürlich ins müßige Schlendern. Erst die Forstwirtschaft mit ihrem in einer Riesenhalle wirklich aufgebauten echten Wald, mit ihren Zwei-Jahr-Pflänzchen, ihren größeren Bäumchen, ihrer Dickung, ihrer Schonung, schließlich ihren Veteranen, und deren Pflege und Ausnutzung fesselt mehr. Und dann landet man für ganze Stunden stillbeseligt bei den Tieren.

Eine Halle birgt u.a. den Musterkuhstall, eine andere ist ganz von prämiiertem Geflügel erfüllt. Da ist es sehr laut und lustig. Ich höre scharf in das Massenkonzert hinein. Ich kann aber trotz allen Bemühens nicht feststellen, ob phonetisch die Deutschen, die den Hahn "Kikeriki" krähen lassen, recht haben oder die Franzosen, die das in Sprache und Druck mit "Cocoroco" wiedergeben. Ganz benommen ist man von dem verschiedenartigen Getön in der Hundeausstellung. Das ist schon beinahe artikuliert. Es gibt da Prachtstiere, die man gleich besitzen möchte, wenn man nicht in eine Etagenwohnung der Großstadt gebannt wäre. Aber auch sehr moderne, für meinen Geschmack scheußliche kleine Biester. Bestenfalls wirken sie als Komiker, wie geschaffen zum Abguß in Terrakotta. Manchmal denke ich, es sind Kreuzungen zwischen Wollknäuel und Klosettbürste.

Ganz innig wird einem bei den Hunderten von Turnierpferden zumute.

Es gibt Leute, die kraulen gern ein kleines Kätzchen. Sie haben keine Ahnung davon, wieviel schöner es ist, die seidenweiche Schnauze eines Pferdes zu streicheln. Es gibt aber junge Mädchen, denen haben es noch mehr die Pferdepfleger angetan. Vor der Box des bildhübschen Fuchses "d'Artagnan" stehen zwei Blondköpfe in Tracht und haben keinen Blick für das Pferd. Sie raffen nur mühsam und stockend und lächelnd ihr bißchen Schulfranzösisch zusammen, um mit dem Burschen, einem kleinen Dragoner von der Kavallerieschule in Saumur, ins Gespräch zu kommen.

Nachmittags und abends findet in der Halle II die große reiterliche Heerschau statt, an der neben Deutschen auch Schweden und Polen und andere Nationen sich beteiligen. Einst standen die Italiener an der Spitze der Turnierreiter der ganzen Erde, heute sind es seit einer Reihe von Jahren unbestritten die Deutschen. Unser Anstieg begann schon vor einem kleinen Menschenalter, als der Kaiser, nach üblen Erfahrungen der deutschen Abordnung auf der internationalen Konkurrenz in Turin, weitere Entsendungen vor grundlegender Umgestaltung unserer Dressurausbildung verbot. Seither wurde tüchtig gearbeitet, am schärfsten erst nach dem Kriege in der Reitschule in Hannover. Heute lacht unserem Ziethen aus dem Busch, dem 85jährigen Generalfeldmarschall v.Mackensen, das Herz im Leibe, wenn er auf solch einem Turnier die Erfolge sehen kann. Für die Tausende der Zuschauer aber, die just am 29. Januar die Halle II bis auf den letzten Platz füllten, war es die größte Freude, - ihn zu sehen. Schlank wie eine Tanne, rüstig und frisch wie ein junger Soldat, so war er in seiner Leibhusarenuniform aus der Ehrenloge, wo er mit den fremden Offizieren geplaudert hatte, in die Arena herniedergestiegen und stand nun umjubelt im Innenraum beim letzten Stechen der ausländischen Reiter um den für sie gestifteten Ehrenpreis. Das ist eine ritterliche Geste: einmal sollen die Herren der deutschen Konkurrenz ledig sein.

Unsere Turniere sind allabendlich in jedem Jahre ausverkauft. Auch Nichtreiter zieht es mit magischer Gewalt dahin. Viel tragen dazu die glänzenden - meist in historischer Uniform gerittenen - Schaunummern bei. Auf diesen Gedanken sind zuerst wir gekommen, heute wird er in allen Ländern ausgeführt. Bestimmend war aber für den Schöpfer der Schaubilder, den Oberlandstallmeister Rau, wohl weniger der Publikumsgeschmack, als der Wille, die Wehrfreudigkeit in der Novemberrepublik anzuregen. Diese Republik war grundsätzlich antimilitaristisch. Sie führte den Totalisator bei den Springkonkurrenzen ein, der jetzt wieder verschwunden ist, und zog dadurch eine Schicht an allem übrigen uninteressierter gewinnsüchtiger Wetter in den Sportpalast. Für dieses Publikum waren die Schaunummern nichts. Uns aber hämmerten die Pulse in stolzer Freude, wenn etwa ein Zug Maschinengewehre oder Feldhaubitzen wie ein Wirbelwind in die Bahn fegte und im Galopp seine Achten fuhr.

Die Zuschauer sind heute nicht mehr so zusammengewürfelt von Kurfürstendamm bis Grenadierstraße wie damals, sondern guter Mittelstand, SA., SS., viel Patriziertum und alles, was irgendwie mit Pferd oder Heer zusammenhängt und national empfindet.

Jenes eingesprenkelte Publikum von damals ist zu einem nicht sehr großen, aber auffallenden Teil heute ausgebürgert. Namentlich seine Damen lebten eigentlich nur in der Angst vor dem Nichtauffallen; um jeden Preis, auch um den der Geschmacklosigkeit, mußte man auffallen. Die Männer trugen eine Intelligenzmähne und Brillanten, die Frauen zeigten rasierte, lackierte Maskengesichter und gewagte Toiletten. Jetzt können sie nur noch in der "Kleinen Bar" in der Jakobstraße in Prag, einer üblen Halbweltgasse, das Auffallen betreiben. Herr Goldmann, der sich in Berlin einst Godal nannte, Herr Alfred Kerr-Kempner, Herr Stampfer und Herr Wels, Herr Eppstein und Herr Herzfeld und die übrigen alle samt weiblichem Anhang wirken dort, wie sie meinen, dekorativ und fallen auch im "Europa" oder im "Savarin" auf, denn so viel Geld haben sie immer noch, um glänzend essen und glänzend sich kleiden zu können, während ihre frühere Gefolgschaft vielfach hungert. Sogar unser Café Größenwahn, das Romanische an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ist heute fast ganz frei von dieser Sorte Menschen, die ehedem tonangebend waren. Sie sind wirklich und wahrhaftig, nicht nur nach dem Gesetze, ausgebürgert, und das Stadtbild Berlins hat dadurch nicht verloren.

Am stärksten kommt einem die Veränderung zu Bewußtsein, wenn man das literarische und akademische Berlin mustert, vor allem durch das Universitätsviertel wandert. Da hat der junge Deutsche heute wieder freie Bahn. In musterhafter Stille bei emsigster Arbeit sitzen ihrer viele Hunderte täglich in dem grtoßen Lesesaal in der Kuppelhalle der Staatsbibliothek und machen für irgendwelche wissenschaftlichen, schöngeistigen, fachmännischen Zwecke aus dem zur Verfügung stehenden Material, aus den rund 2,8 Millionen Druckbänden aller Sprachen und Disziplinen und aus den Handschriften bis in uralte Jahrhunderte hinauf, schriftliche Auszüge. Mit der Rohrpostanlage für die Bestellzettel, mit ihren sonstigen Einrichtungen, vor allem mit den Tausenden von Bänden ihres Realkatalogs ist die Preußische Staatsbibliothek eine vorbildliche Organisation, wie man sie kaum anderswo findet. Grundlage war die vom Großen Kurfürsten dem Staat übereignete Hausbücherei. Alte Besucher dieser Schatzkammer des Geistes schmunzeln freilich aber auch über manche notgedrungene Kuriosität, da man die Katalogisierung nicht nach jedem Kriege - das würde Jahre kosten und gewaltiges Geld - ummodeln kann. Eroberungen oder Abtretungen lassen den Bücherpalast kalt, er registriert seit 1840 alles, was Elsaß-Lothringen betrifft, unter Frankreich, und die Tschechoslowakei gehört dort noch heute zum deutschen Kulturgebiet. Ein Sonderkatalog mit über 52 000 Nummern umfaßt allein die Literatur über den Weltkrieg.

Gelegentlich, wenn auch sehr selten, gibt es in dieser Musteranstalt vergnügliche Irrläufer. In den Katalogbänden über "Wintersport" fand ich dieser Tage ein Buch mit dem Titel verzeichnet: Die Kunst des Schminkens.
31. Jan. 1935 (Donnerstag)


18

Der Schluckauf - Historisches zur Bockbiersaison - Presseball - Der "Rex"-Film - Eine neue Köpenickiade.

Wenn um diese Zeit im Winter der Berliner - hupp - den Schluckauf hat, dann sagt er - hupp -, es stoße ihn der Bock. Das passiert Vatern im Februar häufig auf dem spätabendlichen Heimweg. Man hat eben - hupp - mit ein paar Freunden zusammengesessen, und das Bockbier - hupp - war gut.

Ich weiß übrigens nicht, weshalb der Schluckauf immer mit "hupp" wiedergegeben wird. Ich möchte sagen, daß "hück" viel naturgetreuer klänge.

Einerlei. Jedenfalls das weiß ich, daß ein Berliner Hundertjähriger nicht um seine Geburtstagsehrung gebracht werden darf. Wer das ist? Das Bockbier! Jawohl, es ist in Berlin zum erstenmal im Winter 1834/35 von einem Pfälzer gebraut worden. Er hatte eine Weinstube in der Leipziger Straße Nr. 6, wo heute - neben dem ehemaligen Kriegsministerium Ecke Wilhelmstraße - im Erdgeschoß sich noch (bis zum demnächstigen Abbruch) Läden befinden, der Schülerschen Nähkastenfabrik und der Berndorfer Metallwarenfabrik.

Vor hundert Jahren gab es da also einen guten Tropfen bei Herrn Hopf, der von den Rebenhängen des Hardtgebirges zugewandert war. Besser Pfälzer Wein als Berliner Dünnbier, meinten die Gäste. "Ja, wenn es überall Bayrisch Bier gäbe!", sagten sie und wischten sich die Mäuler. Das war seltene Importware. Da kam dem guten Hopf ein Gedanke. Weshalb soll man nicht mit zweierlei Stoff Geschäfte machen? So fing denn der Weinhändler in einem abbruchreifen alten Hause der Friedrichstraße starkes Bier zu brauen an, das er nachher in einem von ihm erworbenen und ausgebauten Ausflugslokal am Kreuzberg, der Bockmühle, zum Ausschank brachte. Scharenweise zogen die Berliner zum Bockmühlenbier, das sie bald abgekürzt nur noch Bockbier nannten. Kräftiges Bräu, das wissen die Münchener von ihrem Nockher-Berg und anderen "erhebenden" Stätten her, bedarf immer eines Abhanges, den man nachher hinuntertrudelt, nachdem man sich aufi Durst geholt hat. So war es auch in Berlin.

Dem Tempelhofer Bock folgte bald der Spandauer Bock, auch auf einem Berge. Heute zeigt aber schon jede kleinste Kutscherkneipe in allen Stadtgegenden den Wintertrunk mit einem Bockplakat an. "Großes Bockbierfest!" heißt es nicht nur in der Neuen Welt in der Hasenheide, wo es eine Art Münchener Gaudi gibt, sondern überall. In den winzigen Lokalen wird es bescheiden nur durch eine Girlande verstaubter Papierblumen angedeutet. Mensch, freu' Dich doch, soll es heißen; spül' allen Ärger hinunter!

Als ganz junger Mensch - das niedrige Zweirad war gerade damals aufgekommen - radelte ich einmal über Belgien nach Frankreich hinein und wollte in Roubaix mich mit einem Glase Bier stärken. Diesen Wunsch trug ich in gewähltestem Französisch dem Kellner vor, der mich verständnislos ansah, dann aber plötzlich sagte: " Ah, un boc!" Später habe ich es erfahren, daß dies überall in Westeuropa der gebräuchliche Ausdruck für ein Glas Bier ist. der Bock vom Kreuzberg ist international geworden. Hoffentlich platzen die Berliner nicht vor Stolz, wenn ihnen einmal dieser kleine historisch-geographische Exkurs vor Augen kommt.

Den Salvatoranstich in München in allen Ehren. Aber auch der Berliner Bock hat es in sich. Nachgeahmt wird er schon in ganz Deutschland.

Auch der Berliner lernt ja wieder Wein trinken, weil dies für ihn eben das vornehme Getränk ist. In Italien ist es anders. Wenn da ein Verehrer seiner Angebeteten eine Flasche Chianti vorsetzt, ist das zu gewöhnlich. Erst am gespendeten Bier erkennt man dort den wahren Kavalier. Bei uns fängt man also auf großen Festen vornehm mit Wein an, begrüßt es aber mit innigem Behagen, wenn man das Plakat "Kein Weinzwang!" entdeckt oder wenn es wenigstens ein abgelegenes Bierstüberl gibt. Da steuert man zum Schluß immer hin. Sogar der alljährliche Presseball, diesmal zu neuem Glanze auferstanden, verlöre ein gutes Teil seiner Anziehungskraft, wenn nicht unten im Gartensaal des Zoo Bier ausgeschenkt würde, während oben in den repräsentativen Räumen noch die Sektpfropfen knallen. Beim Wein ist der Berliner, im Gegensatz zum Rheinländer, eisig korrekt. Erst beim Bier taut er wirklich auf und entdeckt seinen Humor.

Also der Presseball hat seinen alten Stil wiedergefunden, es ist erneut "die" Berliner Gesellschaft, die sich da zusammenfindet, nur geläutert im Vergleich zu der Nachnovemberei. Der Übergang war schreckhaft. Die Wehen vor der Wiedergeburt waren greulich.

Der Übergang am 29. Januar 1933 sah einen in den Ehrenlogen fast leeren Marmorsaal. Der Vossische Chefredakteur Georg Bernhardt, "das Gesicht der Republik", der jetzige Neupariser, hatte als Vorsitzender des Vereins Berliner Presse sonst immer die Spitzen aller Reichsbehörden begrüßen können. Diesmal stand Hannibal-Hitler schon vor den Toren, packte das Kabinett Schleicher gerade seine Koffer. Kein Minister, kein Staatssekretär machte von der Ehrenkarte Gebrauch. Auch sonst "bemerkte man" nur - Lücken.

Die Wehen am 31. Januar 1934 schienen an Stelle der für In- und Ausländer repräsentativsten Veranstaltung der Reichshauptstadt eine Art spartanischen Volksfestes hervorzubringen. Man erschien mit langen Schaftstiefeln, man verzehrte ein Eintopfgericht, der ganze Zoo roch nach gekümmeltem Hammelkohl, die fremden Attachés zogen sich entsetzt zurück und erklärten die neue Berliner Kultur für barbarisch. Infolge dieser Erfahrung ging man mit dem Gedanken um, den traditionellen Ball überhaupt eingehen zu lassen.

Erst kurz vor Weihnachten hat der jetzige Vorsitzende des Vereins, C.M.Köhn, deutsche Kolossalfigur, dabei ein sprühender Satiriker, sich entschlossen, erneut den Berliner Presseball zu Ehren zu bringen.

Das ist gelungen.

Es wird zwar noch weniger getanzt als sonst, der Presseball ist nun mal mehr Augenweide als Wiederholungskursus für die Grammatik der Beine, aber es gibt viel Gutes zu sehen. Nicht ein einziges überluxuriöses oder gar groteskes Kostüm, dafür außerordentlich geschmackvolle Abendkleider mit oft ganz persönlicher Note, nur noch bei wenigen Damen wegrasierte Augenbrauen; dazu ein merkbarer Rückgang der Lippenstift-Industrie. Die Herren, auch die uniformierten, alle in langen Beinkleidern, also im Gesellschaftsanzug, nicht mehr, wie zum Teil noch im Vorjahr, in Schaftstiefeln. Auch der Führer und Reichskanzler trägt ja in der Oper oder bei Diplomatenempfang die übliche zivile Festkleidung. So erschienen denn auf dem Presseball die Minister im Frack, ebenso die Würdenträger des deutschen Schrifttums Weiß und Kampmann und alle die anderen. In der Ufa-Loge der große Junge Brausewetter, der allmählich gesetzte Willi Fritsch, dann der schon ergraute Liedtke, dazu ein Flor hübscher Darstellerinnen, gegenüber neben dem preußischen Ministerpräsidenten der Staatsschauspieler Werner Krauß, überall interessante Gesichter, überall Köpfe, von denen man spricht. Als Emmi Sonnemann einen Rundgang macht, fluten Hunderte von Neugierigen hinter ihr drein. Die meisten Wallfahrer aber beehren die obere Galerie, sobald bekannt wird, daß dort das Ehepaar Schmeling-Anny Ondra sitzt, der herkulische schwarzhaarige Bärenkerl neben dem duftig-blonden kleinen Wölkchen.

Natürlich wollen alle wissen, wer in der Tombola den Haupttreffer macht. Ein Ring mit mehreren großen Smaragden, in der Mitte einem synthetischen, dem Erfolg deutscher Alchemisten, und vielen kleinen Brillanten. Götz Otto Stoffregen, der Herr des Deutschlandsenders, ist der glückliche Gewinner. Er wird den Ring, so wie er ist, wohl nur in dieser einen Nacht, zuletzt im Presseklub in der Tiergartenstraße, getragen haben. Eine solche Juwelensammlung würde nicht einmal ein brasilianischer Kaffeegroßhändler zeigen. Man müßte sie auseinandernehmen und zu mehreren Schmuckstücken für Frau oder Töchter verarbeiten lassen.

Ein paar Tage später, auch in der Zoo-Gegend, aber vor dem Ufapalast, großer Menschenauflauf, Absperrung durch Feldjäger. Da steht eine Truppe "langer Kerls" von der Potsdamer Wachtparade, so von Anno 1735, Offiziere mit dem Sponton davor, Trommler nebenbei, und präsentiert unter dumpfem Wirbel das Gewehr, wenn der Wagen eines Prominenten naht. Nach Stuttgart und Düsseldorf hat nun auch Berlin den Friedrich-Wilhelm-Film "Der alte und der junge König" von Rolf Lauckner und Thea v.Harbou, der als künstlerisch und staatspolitisch wertvoll von der Zensurbehörde, als "besonders wertvoll" von dem Minister Goebbels begutachtet worden ist, und Berlin ist hingerissen. Schon die äußere Aufmachung - der längste unter den langen Kerls mißt 2,20 Meter - ist sehr suggestiv, der Film selbst durch die einzigartige Menschendarstellung Emil Jannings' von ergreifendem Zauber, weil sie uns das Tragische in dem Leben dieses eisern harten Pflichtmenschen Friedrich Wilhelm I, aufzeigt.

Er ist, als Rex, als Urpreuße, ungeliebt, und doch tut er alles, was er tut, und sei es barbarisch, derb, tyrannisch, nur aus tiefer Liebe zu den Seinen, zu Land und Volk. War er nur ein Despot, war er nur ein Iwan der Schreckliche, oder war er nicht vielmehr Preußens größter König?

Wer den Film gesehen hat, der weiß die Antwort. Aber auch schon der, der den im Brunnen-Verlag erschienenen "Rex", das anekdotenreiche und oft humorvolle Buch aus der Feder eines alten preußischen Gardeoffiziers, gelesen hat. Die Jahrhunderte haben das Genie Friedrichs des Großen angebetet, haben vielfach vergessen, daß auch er auf den Schultern anderer hervorragender Hohenzollern stand: seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, und vor allem seines Vaters, Friedrich Wilhelms I. Der sorgte für Volkswohlstand und Volksbildung, der war sparsam und schuf die Kriegskasse und das Heer, mit dem sein Sohn nachher seine Schlachten schlagen konnte. Für Künstler und Gelehrte hatte er freilich wenig übrig. Der berühmte Winckelmann schleuderte, als er glücklich nach Dresden entkommen war, den Fluch zurück:

"Ich gedenke mit Schaudern an dieses Land; besser ein beschnittener Türke werden als ein Preuße!"

Aber dieses Preußen Friedrich Wilhelms I., der als erster auf seinen Domänen die Leibeigenschaft der Bauern aufhob, war es doch, das das Gemeinwohl auf seine Fahnen schrieb. Nur dafür ließ der "Rex" seinen Krückstock auf die Rücken der Undisziplinierten, auch des eigenen Sohnes, sausen. Und Heinrich v.Treitschke schreibt in seiner Deutschen Geschichte uns Heutigen aus der Seele:

"Nicht das Genie, sondern der Charakter und die feste Manneszucht gaben diesem Staate sittliche Größe; nicht der Reichtum, sondern die Ordnung und die rasche Schlagfertigkeit seiner Mittel gaben ihm die Macht."

So soll man einmal auch von unserem heutigen Staate sprechen können. Die Krückstockerziehung hat ihr Gutes gehabt. In Jahren der Vorbereitung, wie wir sie auch jetzt durchleben, mag freilich mancher Winckelmann sich entsetzen. Aber wir besseren Geschichtskenner freuen uns der allmählichen Disziplinierung, Auch der Soldat oder der Offizier, der heute an einem Neubau vorübergeht, bekommt keine gehässigen Zurufe mehr, sondern man sieht stolz und froh auf ihn.

"Der Soldate, der Soldate, ist der schönste Mann im Staate", dachte sich jedenfalls ein bei einer militärischen Behörde angestellter Arbeiter und kam dieser Tage auf Hauptmann-von-Köpenick-Gedanken. Aus dem Schrank eines Verwandten, der bei der Reichswehr gedient hatte, holte er sich dessen alte Wachtmeisteruniform, zog sie an und ging so mit seinem Mädel in ein Theater in Berlin.

Dem weiland Bürgermeister von Köpenick, Dr. Langerhans, wäre nichts aufgefallen. Aber zwei Referendaren in derselben Sitzreihe fiel etwas auf, worüber heute ganz Berlin lachen würde, wenn es das wüßte. Sie holten in der Pause Polizei, die Polizei holte den angeblichen Wachtmeister heraus, und jetzt ist ein Strafverfahren gegen den Bruder Leichtfuß im Gange.

Woran die Referendare etwas gemerkt hatten?

Je nun, der Mann trug zu seiner Uniform, weil er besonders elegant sein wollte, Zivilstiefel mit sogenannten Fußröllchen, nämlich hellgelben Tuchgamaschen.
7. Feb. 1935 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts