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Fuffzig - Norddeutsche und Süddeutsche - Am Konzentrationslager in Oranienburg - Polzin - Auf dem "Columbus" - Wieder Zöpfe statt des Schnittkopfes - Neues von der Ufa - Man möchte Hitler verheiraten.
"Fuffzig!"
Das ist klar, knapp, knurrig. Das ist Tempo. Das ist Berlin. Am Zeitungsstand im Flughafen auf dem Tempelhofer Felde, nach meiner Landung daheim aus den Ferien. Ich bin also zu Hause. Das kurze "Fuffzig" ist der untrügliche Beweis. Zwei Tage vorher bin ich noch durch das uralte Städtchen Ravensburg, Heinrichs des Löwen Geburtsort, in Württemberg geschlendert. Endlich einmal nicht drüberweg, sondern mittendrin. Es ist wunderschön. Ich erstehe mir zum Andenken ein paar Bildkarten und frage nach dem Preise. Da ist der Ton ganz anders. Da sagt der Verkäufer:
"Bin so frei, fünfzig Pfennige."
Das ist Süddeutschland. Etwas für uns stramme, stoßende, stürmende Norddeutsche ganz erstaunliches und unendlich anheimelndes. Ich weiß natürlich, daß der Bayer saugrob und grantig sein kann. Aber als ich einmal in einem Dorfe in der Gegend von Partenkirchen nur zwei Semmeln kaufte, knixte das Mädchen im Bäckerladen und flötete: "Beehren's ins bald wieder!" Da schmilzt einem doch das Herz, nicht wahr?
Wir aus dem Norden haben allesamt die Sehnsucht nicht nur nach der Natur, sondern auch nach den Menschen fünf Breitengrade südlicher. Wenn die dort ebenso häufig uns im preußischen Kolonialland besuchten, würden auch sie umgekehrt vielleicht unser Kurz-angebunden-sein empfehlenswert finden.
Dazu kommt, daß Berlin ebensowenig wie andere Orte dem großen Läuterungsprozeß entgangen ist. Der anspruchsvolle und erfurchtslose Berliner, der sich durch nichts außerhalb der Hauptstadt erheben läßt und immer etwas auszusetzen hat, ist im Dahinschwinden. So ist die Geschichte von dem Berliner, der zum ersten Male die Schweiz erlebt hat, typisch - gewesen. Er wird gefragt, ob er an vielen herrlichen Aussichtspunkten geweilt habe, und er antwortet: "Aussicht? Wieso Aussicht? Sind ja überall Berge vor!" Wenn man eine Anzahl von Wochen weg war, ist man erstaunt über die Umwandlung. Es ist immer noch "Betrieb" in Berlin, aber doch ein anderer, nicht mehr nur Tretmühle hier und Völlerei dort, sondern irgend etwas geheimnisvoll Gemeinsames ist da und leuchtet aus vieltausend Augen. Man denke: der hastende, eilende, wortkarge Berliner ist sangesfreudig geworden! Früher summte oder grunzte er nur und interessierte sich allenfalls für die Schlager-Frage: "Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?", aber heute ist diese Sorte Schlager so kraftlos geworden wie der ehemalige Parlamentarismus und das ehemalige Schiebertum; Volksweisen und Soldatenlieder beherrschen die Straße und das Heim.
Das Ausland kann sich das alles noch nicht so recht vorstellen. Einmal, zum Schluß dieser Ferien, bei einer kurzen Spritztour in die Schweiz, habe ich ein Beispiel dafür erlebt. Es kam dabei zu dem kürzesten Zwiegespräch meines Lebens, als mein Gegenüber im Eisenbahnwagen von der Zeitung, Rubrik "Deutschland", aufschaute und eine Bemerkung herüberwarf, die ich alsbald beantwortete.
"Der Kommunismus marschiert!"
"Ja, ins Konzentrationslager!"
Aus. Mein Mitreisender verstummte jäh. Und nun bin ich also wieder im Lande, denke an diese Begegnung zurück und fahre hinaus nach Oranienburg, wo sich das Berliner Konzentrationslager (warum sagt man nicht Besserungslager?) befindet. Hinein darf man nicht ohne besondere schriftliche Genehmigung der Geheimen Staatspolizei. Das ist gut so. Vielleicht möchte manch einer den roten Heilmann oder andere Bonzen bei ehrlicher Arbeit sehen und dieses Weltwunder anstaunen, aber die Lager sind doch kein Zoologischer Garten für Wißbegierige. Es stehen übrigens zwei Posten mit scharfgeladenem Karabiner vor dem Tor dieses umfangreichen ehemaligen Fabrikgeländes mit seinen kasernenartigen Bauten und großen Höfen. Auch die ausmarschierenden und heimmarschierenden Arbeiterkolonnen werden von Bewaffneten geleitet. Auskneifen ist lebensgefährlich.
Ich sitze bei einer Tasse Kaffee auf der Veranda des kleinen Hotels Eilers. Da kommt sowieso alles vorüber. Klipp klapp, klipp klapp. Das einzig uniforme sind die Holzpantinen der Leute. Sie sehen alle gesund und gebräunt aus. Auch der frühere Rundfunkintendant Dr. Flesch, den ich in einer Gruppe entdecke, wird sich auf das Ungewohnte noch einspielen. Wer auf verbissene oder vergrämte Gesichter in dem Besserungslager rechnet, der irrt sich. Diese sogenannten Gefangenen singen sogar herzhaft. Und - Sie werden lachen - was ertönt da aus den Reihen der gerade das Denkmal der Kurfürstin Luise Henriette passierenden Kolonne?
"Was nützet mir ein schöner Ga-arten, |
Das alte Soldatenlied. Hier werden wirklich, soweit dies bei Erwachsenen möglich ist, die Seelen umgeformt. Es sei denn, daß die Rasse sich dagegenstemmt. Deutsche sind immer noch bildungsfähig. Natürlich sind Freiheitsentziehung und primitive Arbeit bitter. Aber ein großer Teil der Leute wächst doch in das neue Deutschland hinein. Das bisherige, das von 1918 bis 1933, war nicht das wirkliche Deutschland. Das war wirrer, kranker Fiebertraum eines seelisch verseuchten Volkes.
Der Eindruck dieses Bummels nach Oranienburg ist stark, sehr stark.
Fast verblaßt ob all dem Neuen in Berlin, ob der Berichte von der Tagung des deutschen Volkes in Nürnberg und allem übrigen das, was man in den vergangenen Wochen, wo man sich bewußt aus Berlin ausschaltete, erlebt hat.
Zunächst hatte ich mich erholen müssen, um zu einer Erholungsreise fähig zu sein. Die Leser hatten es zum Glück nicht gemerkt, wie sehr ein paar Monate Schultergelenksentzündung, schließlich Schrumpfung der Kapsel, mich heruntergebracht hatten. Kann jedem widerfahren: beim Morgenturnen ein Muskelriß und starker Bluterguß ins Gelenk. Da haben wir die Bescherung. Jetzt, wo ich nach der langen Zeit voll Schmerzen und Bewegungslosigkeit wieder rudern und schwimmen kann, weiß ich erst, was ich entbehrt habe. Was tut man, um nicht einen steifen Arm zu behalten? Ich bin "ausgerechnet" nach Bad Polzin gegangen und habe dort in knapp zwei statt der sonst üblichen vier Wochen mit Hilfe des Generalstabsarztes a.D. Dr. Zabel, der strammen kleinen Turnschwester Anneliese und vieler warmen Moorbeutel alles Gewünschte erreicht.
Der Berliner, der immer gleich nach Landeck oder Kissingen oder Oberschlema will, wiß nicht, wie nahe das Gute liegt. Vier Stunden Bahnfahrt in direktem Wagen, dann ist er im Kaiserbad-Sanatorium in Polzin. Das Städtchen selbst ist mäßig und tut nichts für sich, hat also nichts Anziehendes für Leute, die etwa Vergnügen und Sommerflirt suchen. Aber das Kurviertel mit seinen Parks und die Umgebung - "OTäler weit, o Höhen!", möchte man mit den Lerchen um die Wette singen - in der pommerschen Seenschweiz sind herrlich. Und das Kaiserbad-Sanatorium, das für dreihundert Schmerzbehaftete Platz hat, ist eine Musterehe zwischen der Hygiene eines Krankenhauses und dem Komfort eines Hotels ersten Ranges, dazu gerade pommersch billig.
Außerdem hatte ich da so meine persönlichen Beziehungen. Zu Hans dem Vierzehnten. Das ist eine wunderliebe Geschichte. Also dieser Hans, dessen Familiennamen ich nicht nennen will, hat uns in den letzten Jahren mit seiner Frau häufig in Berlin besucht. Er ist der große Anonymus, von dem in noch leidlich guten Zeiten die Wurstkisten stammten, deren Inhalt ich als Liebesgabe ebenfalls anonym dann an verarmte Berliner Familien verteilen konnte. Besagter Hans, jetzt Hauptmann a.D., war einmal Oberleutnant in der Reichswehr, preußischer Offizier schwäbischer Erziehung und schwäbischen Gemüts, und bekam Urlaub "z.W.d.G.", zur Wiederherstellung der Gesundheit. "Au fein", sagte er sich, "das gibt ein paar Wochen Rheumakur in Wiesbaden." Sache! Und da kam seine Marschordre heraus: Polzin.
Ist ja ekelhaft! Polzin? Wo liegt überhaupt dieses Nest? Atlas her!
Mißmutig sitzt Hans ein paar Tage später da, fest entschlossen, mit keinem Menschen ein Wort zu reden, wenn auch verblüfft, weil das Sanatorium doch eigentlich Weltklasse ist.
Die Oberschwester legt ihm dringend nahe, bei der Besitzerin, der Witwe des Sanitätsrats, der das Haus begründet hat, Besuch zu machen. So ein Quatsch! Was soll er da? Aber schließlich, man kann ja gleich einmal hingehen. Und sofort bekommt Hans eine Einladung zu einer Gesellschaft am nächsten Abend. Nanu? Er ahnt nicht, daß er der Frau Sanitätsrat gänzlich gleichgültig ist, daß sie nur Ordre gegeben hat, man solle irgendeinen anständigen jungen Herrn schicken, denn da ein eingeladener Bekannter abgesagt habe, seien es just 13 bei Tisch. Also Hans XIV. erscheint, fühlt sich in der durchaus nationalen und hochmusikalischen Familie außerordentlich wohl und ist heute - Ehegemahl der einzigen Tochter des Hauses.
Also da habe ich mir die Unternehmungslust zu der Sommerreise geholt. Man sieht natürlich im Zandersaal und anderswo gelegentlich Kranke mit schwer geschwollenen Gelenken, aber in der Mehrzahl doch hoffnungsfrohe Gesichter und neue Kraft und Gesundheit. Hin und wieder lasse ich meine Blicke verstohlen zu einer alten Dame an dem Mitteltisch im Speisesaal schweifen. Exzellenz v.Willisen. Neunzig Jahre alt, aber bolzengerade, mit immer noch raumgreifenden Schritten dank Polzin, und mittags und abends immer mit dem Glas Rotspon in sicherer ruhiger Hand. Ich habe mich nicht vorstellen lassen, obwohl wir beide voneinander wußten, denn ich mache in den Ausruheferien ungern Konversation. Ich grüße nur. Und sie dankt mit einer Verneigung wie eine Königin aus Vorzeit.
Dann hinaus ins Weite. Allerdings nicht ins ganz Weite. Neun Tage mit dem "Columbus" des Norddeutschen Lloyd auf eine Irland-England-Fahrt. Deutsche Schiffe sind deutscher Boden. Das Reisegeld - es wird überraschend wenig verlangt - bleibt im Lande. Ich bin viel zur See gefahren. Aber noch nie auf solch einem Riesenschiff. Nicht weniger als 1570 Passagiere werden auf dem "Columbus" betreut.
Herrlich auf der Grünen Insel, im Lande der O'Connel, O'Shea, O'Sullivan, O'Brien, die Fahrt von dem Fjord von Glengariff übers Gebirge zu den Seen von Killarney.
Deutsche kommen!
Die Gesichter glänzen, sobald dies bekannt ist. Immer wieder sieht man Iren, die dann den Arm zum Hitlergruß erheben. Der Lloyd hat alles fabelhaft gut organisiert, so daß die 1570 geflößt werden, ohne daß es irgendeine Reibung gibt. Geradezu vorbildlich das Picknick in Muckroß Abbey, wo, wie aus der Erde gewachsen, uns die Stewards vom Schiff schon erwarten. Und nach uns bleiben sie noch mit einem Lastauto da, um die Reste wegzuräumen: Papier, Obstschalen, Kotelettknochen, Zigarettenschachteln. Reinschiff auch zu Lande! Es soll niemand nach dieser "German Invasion" von deutschen Schweinen sprechen können.
Nun London, wiederum nach einem glänzenden Mobilmachungsplan. Mit heimlicher Freude bemerke ich, daß der Deutsche, der sonst nur über alles eigene meckert, jetzt auch in der Fremde kritisch wird. Er bewundert nicht mehr das Englische mit offenen Mäulern.
Zwar weilt er ergriffen in der Westminster-Abtei an dem eingelassenen Grabstein des Unbekannten Soldaten, der sein Leben "für Gott, König und Vaterland" hergegeben habe. Unsere Berliner verflossene Regierung hat solch einen Satz nicht einmeißeln wollen, überhaupt keinen Satz, am Ende gar von "Helden". An unserer Kaaba in der Neuen Wache Unter den Linden steht lediglich: "1914-1918". Also das in der Westminster-Abtei hat unseren 1570 "Columbus"-Fahrern als heroisches Selbstzeugnis einer Nation imponiert. Aber sonst? Die City stinkt entsetzlich. Der Verkehr, der doch nicht Zivilisation bedeutet, sondern nur Notventil der Zusammengepferchten, ist greulich. Und das verbrannte Gras in Hampton Court soll englischer Rasen sein? Da könne man doch in Berlin, um von Schwetzingen oder Nymphenburg nicht erst zu reden, ganz anderes sehen!
Erst am nächsten Tage, auf der Insel Wight, beruhigen sich die Gemüter. Und dann ist man froh, noch die Heimfahrt auf dem "Columbus" zu haben. Eine Verpflegung, wie kein englisches Schiff oder Hotel sie aufweisen kann. Ein Schwimmbad an Bord. Und auf dem Sonnendeck alsbald ein Strandleben, als befinde man sich auf der Digue von Ostende oder an sonst einem "fashionablen" Ort.
Es ist schwer, sich von so köstlichen Erinnerungen loszureißen und wieder in Berlin herumzusausen. Etliches Alte ist ja hier geblieben, so das kleine Markt-Einholnetz, das die jungen Damen, auf ein Ohr gestülpt, als "Kopfbedeckung" tragen. Aber auch manches Neue ist da. Neben der Sangesfreude wächst auch sichtlich wieder der Zopf, sieht man auch schöne offene Haarflut. Es kommt noch die Zeit, wo der Bubikopf als fürchterlich altmodisch gelten wird. Laßt wachsen, laßt wachsen . . .
Und überall stürzt man sich auf wachsende Arbeit.
Wir wissen freilich, daß eine blühende Wirtschaft nicht allein dadurch erreicht wird, daß man etliche hunderttausend Deutsche auf Straßen- und Kanalbau ansetzt. Das ist erst ein Anfang. Wir müssen wieder einen zahlungskräftigen Mittelstand bekommen, der etwas draufgehen lassen kann.
Aber die Hoffnung ist wieder eingekehrt und damit der Mut zum Unternehmen. Der Inhaber einer deutschen Wäschefabrik gesteht mir freudig eine Absatzsteigerung um 70 Prozent. Sogar das darniederliegende Gaststätten-, Schau- und Vergnügungsgewerbe glaubt an bessere Zeiten. In den Ufa-Ateliers wird bienenfleißig geschafft. Da bin ich gleich draußen in Neubabelsberg gewesen und habe die naturgetreu aufgebauten Stadtviertel von Charbin mit ihren chinesischen, russischen, englischen Aufschriften mit angesehen, den Schauplatz des werdenden Films "Flüchtlinge". Das ist die größte Film-Architektur, die es je in der Welt gegeben hat, und sie hat, obwohl nur Imitation, doch etliche hunderttausend Mark gekostet. Ein Mitglied des Kreisausschusses von Niederbarnim geht neben mir und dem Landrat Dr. Weiß durch die Gassen und ruft plötzlich: "Da, da! Die Russisch-Asiatische Bank! Genau so! Da war mein Vater Direktor!" Und dann gucke ich noch hier hinein und da hinein und gehe und höre allerlei vom Hitlerjungen Quex. Das ist wirklich fix gegangen. Der eigentlich ausersehene Junge bekam am ersten Aufnahmetage eine kranke Hüfte, alles stockte, viele Tausende von Mark mußten verloren gehen, wenn nicht sofort Ersatz beschafft würde. "Ich habe einen gesehen, der könnte vielleicht passen, ein frischer Bengel", sagt Domgraf-Faßbender. "Wer ist es? Wo ist er?", schreit man. Telephonischer Anruf bei dem Vater, einem Ingenieur, der draußen nördlich der Havel am Großglienicker See wohnt, und sofort hin im Auto. Der Junge schwimmt gerade im See. "Raus, sofort raus!" Und siehe da, es ist wirklich ein Prachtsbengel, und er filmt sofort so, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan.
Auf Reisen wird man als Deutscher heute natürlich immer zuerst nach Hitler gefragt. Und Damen fragen immer, ob er denn nicht bald heiraten werde. Er habe vorerst noch etliche größere Aufgaben zu lösen? Ach, da sieht man nur enttäuschte Gesichter.
Aber eine nette Anekdote, mehr ist es nicht, habe ich bei solchen Gesprächen eingeheimst. Hitler ist bekanntlich von Musik besessen, hat allein Tristan und Isolde wohl schon mehr als dreißigmal gehört. Wird da der eine Junge einer auch der Musik verfallenen jungen Witwe, die übrigens nicht in Berlin wohnt, neulich von einem Schulkameraden gefragt, ob Hitler seine Mutter heiraten werde, und antwortet zögernd und etwas errötend:
"Na, Mutti möchte schon!"
7. September 1933 (Donnerstag)
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Ein gutes Weinjahr - Unser "Tag der Waschfrau" - Soldaten, Tornister - Die Saison beginnt - Herr Gerron in Paris - Leni Riefenstahl bei der Arbeit - Hammer und Sichel.
Das gibt ein gutes Weinchen dieses Jahr. Fast den halben September eitel Sonne, da wird den Trauben so warm ums Herz wie uns nachher, wenn wir den 1933er trinken. Der muß ja köstlich werden. Das gehört sich so für einen Wein aus dem Jahre des Aufbruchs der Nation. Einstweilen hält anderes das Volk im Schwung, jeweils irgendeine große Kundgebung, irgendein großes Fest, irgendeine große Einweihung. Es gibt Leute, die darob den Kopf schütteln, aber die verstehen von der Massenpsychologie nichts.
Man werde ja müde, sagen sie. Tag von Potsdam, Tag der Arbeit, Tag der Ostmark, Tag Schlageters, Tag der Frau, Tag der Kameradschaft, Tag Luthers, Tag der Mutter, Tag von Nürnberg, Tag der Schule, Tag des Staatsrats. Mein Gott, soll man denn immer flaggen?
Herrschaften: nur der dionysische Mensch ist der schöpferische. Also schweigt fein stille.
Wir zu Hause meckern jedenfalls nicht, sondern überlassen das den alten Ziegen, begrüßen nicht nur jeden aufwühlenden Tag, sondern veranstalten noch dazu privatim unsere eigenen. Am Mittwoch feierten wir den Tag der Waschfrau. Nicht der von Chamisso aus dem bekannten Gedicht, sondern der anoch lebenden und unbedichteten aus unserem Hause. Seit 1918 wäscht und putzt die gute Alte bei uns, nun wird sie 70 Jahre alt, kann nicht mehr so recht und zieht nach auswärts. Natürlich müssen wir die treue Seele abfeiern. Das Abendbrot ist nur kalt, aber oho; so mit allerhand Nettigkeiten, die nach was aussehen und Appetit machen, dazu bestes Geschirr und Silber und bis zur Traubenschere jede Bequemlichkeit. Es sieht, mit den Blumen und dem Kristall, wirklich festlich aus. Die Alte sitzt rechts von mir, unser Mädchen rechts von meiner Frau. Sonst sind wir Städter nicht für das gemeinsame Essen von Herrschaft und Gesinde, wie es in einzelnen hansischen Patrizierfamilie noch Sitte ist, denn man muß den Leuten ihr Behagen lassen; wenn sie müde von der Arbeit sind, schaufeln sie am liebsten mit aufgestützten Armen das Essen in den Mund und lassen den Kopf über den Teller hängen.
Also dieses Mahl zu vieren ist eine Ausnahme.
Aber wir freuen uns, mit welch natürlichem Takt die beiden Hausgenossen sich benehmen; sie wissen froh, daß bei uns immer Volksgemeinschaft war.
Ich klopfe gleich zu Beginn an das Glas und sage: "Vor einem jrauen Haupte sollste aufstehen, heißt es in der Bibel. Also Sie sitzen und ick stehe, und so jehört es sich an diesem Abschiedstage." Schon heult die Alte.
Aber dann fängt sie an zu strahlen, als ich das übliche Weihnachtsgeschenk, um das sie auch diesmal nicht kommen soll, im voraus ihr überreiche, dazu unsere Bilder mit einer herzlichen Widmung, und ihr weitererzähle: "Wir zwei beede wissen ja, was Arbeet is, und Sie haben ehrlich geschafft. Alle Achtung davor! Einer muß natürlich Herr im Hause sein, det bin ick, und neulich habe ich Sie einmal sojar feste anjeschnauzt. Aber wissense, dann haben Sie keen Jesicht jemacht, sondern den Mund jehalten und mir bloß still den Arm um die Schulter jelegt. Det hieß: ick seh' ja alles ein, nu sei man wieder jut! In diesem Momang war ick direkt verliebt in Sie!" Da glänzt das Gesicht unserer Waschfrau wie mit Butter beschmiert, sie unterbricht mich lebhaft mit den Worten:
"Det stimmt, ick hab' mir nie verdefendiert!"
Dann plaudern wir von alten Zeiten und freuen uns unserer relativen Rüstigkeit. Von meinen 32 Zähnen hat 27 noch kein Arzt in Behandlung gehabt. Und die Alte nickt und sagt:
"Jawoll, immer orntlich Schwarzbrot jekaut, ick brauch' ooch keen' Zahnklempner!"
Dabei hat sie nur noch fünf Zähne im Munde.
Wir beide sehen rosig in die Zukunft und freuen uns, daß wir wohl noch die Wiederkehr der allgemeinen Wehrpflicht erleben werden. Die Mannsbilder müssen ran, nich? Schon wird ja im Wehrsport unser erwachsenes Jungvolk geschliffen, daß es richtig dampft. Die ganz Kleinen brennen darauf, auch bald so weit zu sein. Weshalb pressen sie ihre Näschen so an die Schaufenster? Wieder Soldaten! Nicht die irgendeines sagenhaften Inka-Königs, sondern richtige Reichswehr im Stahlhelm ist da aufgebaut, Zinnsoldaten, Holzsoldaten, Stoffsoldaten. Weihnachten kommt diesmal wieder mit Trommeln und Trompeten, mit Säbeln und Uniformen. Und die Mädel, bis zu den Abiturientinnen hinauf? Gerade schiebt sich eine seitwärts auf den Vorderstand eines Straßenbahnwagens, weil es sonst, ginge sie geradeaus, Kollisionen mit den Nasen der Mitfahrer gäbe. Nämlich: sie hat einen Tornister auf dem Rücken, mit richtig gerollter Lagerdecke, nicht den aus Wandervogelzeiten üblichen Rucksack. Sie hat einen Freund, einen Freund im guten Sinne des Wortes, der ist S.A.-Mann und hat ihr das Möbel gepumpt. Tornister ist heute große Mode. "Der gepackte Affe ist das einzig Wahre!", sagen die Mädel und tragen aufrecht und frohgemut ihren halben Zentner auf dem Rücken.
Sie sehen nicht, daß andere ihnen nachsehen. Sie haben kein Verständnis und keinen Blick für die "zurechtgemachten" Damen aus Berlin W, für die der Tornister den Zusammenbruch einer Welt bedeutet. Deren Welt heißt Saison. An diesem ersten kühlen und regnerischen Tage des Herbstes geht sie an: Die Königin-Bar am Kurfürstendamm, die einst dem Schwiegersohn Scheidemanns gehörte, hat ihre Pforten vor einiger Zeit schließen müssen, weil zu viele Stammgäste nach Frankreich, England, Österreich, der Schweiz, Holland, Palästina ausgewandert waren, und jetzt ersteht sie unter dem Namen "Sanssouci" aufs Neue für die Dagebliebenen.
Da kann also die Saison beginnen.
Sie wird in allen Ländern ungefähr gleichzeitig eröffnet, abgesehen allein von London, wo sie in den Frühsommer fällt. Nur steht sie diesmal vielfach im Zeichen des schärfsten Wettbewerbes und der Preisunterbietung durch die ehemaligen Betriebsmacher aus Deutschland.
Da ist der fette Filmregisseur Kurt Gerron-Gerson, der schon fast aus den Hosenriemen platzte, ehe er nach Paris flüchtete. Dort heißt er jetzt C. Guéron und hat sich für die Hälfte des üblichen Regisseurgehalts angeboten. So kommt man ins Geschäft. Die französischen Kollegen schimpfen, aber C. Guéron-Gerron dreht schon den dritten Film.
Übrigens hat die Ufa jeglichen Vertrag auch mit dem letzten jüdischen Mitarbeiter oder Lieferanten aufgehoben, was an Abfindungsgeldern das artige Sümmchen von fast 2½ Millionen Mark ausmacht.
Dafür ist der Weg für die deutschen Filmschaffenden frei. Unter ihnen ist der deutschesten eine Leni Riefenstahl, deren Name heute in aller Munde ist und sozusagen automatisch weiterläuft, während sie früher nur mit einem geradezu ungeheuren körperlichen, seelischen, künstlerischen Kraftaufwand sich gegenüber der Mischpoke durchsetzen konnte. Sie kommt wie Lilian Harvey vom schrägen Parkett und der Messingstange her. Ihre "Tänze des Eros", ihr Daherschweben in der "H-Moll-Symphonie" sind noch unvergessen. Dann lernte sie sozusagen im Handumdrehen das Laufen auf Skiern, und die wurden für sie die Bretter, die die Welt bedeuten. Auch im Sommer ist das höchste Hochgebirge Leni Riefenstahls, der sportgestählten, Tummelplatz, die trotz unerhörter Kletterleistungen das Feingliedrige und Damenhafte nicht verloren hat. Und heute ist ihre beste Reklame der Film "SOS-Eisberg", der fabelhafte Grönlandfilm, der nur an zu häufiger Wiederholung an sich packender, aber einander ähnelnder Bilder leidet; auch Udet fliegt darin zu viel, und er fliegt wie bei einem Luftakrobatentag auf dem Tempelhofer Felde, nicht wie auf der Suche nach vermißten Polarforschern. Aber die Bilder sind berückend. Eine Anzahl der schönsten kann man in Leni Riefenstahls bei Hesse & Becker in Leipzig erschienenem Lebensbuch "Kampf in Schnee und Eis" versammelt sehen.
Von ihrer vielbeschriebenen Atelierwohnung in der Hindenburgstraße will ich nicht erzählen. Das hat schon die "Filmwelt", reich bebildert, getan. Leni auf dem Dachgarten beim Turnen. Leni am Telephon. Leni bei Zubereitung eines Rohkostessens. Leni am Schreibtisch bei der Bilderauswahl. Leni an der Wand. Leni liegend auf der Couch. Beiläufig bemerkt: der Berliner nennt dieses fremdbenamste Ding "Knautsch", und wir zu Hause sagen weniger verschmitzt: das Liegelang.
Also nichts von dem Drum und Dran. Auch ein Interviewer bin ich nicht.
Nun hat aber Leni Riefenstahl von der Regierung den Auftrag erhalten, den Reichsparteitag des deutschen Volkes in Nürnberg tonfilmisch zu einem bleibenden Kunstwerk zu ballen, das über die bloße Reportage der Wochenschauen wie ein Monument herüberragen soll. Das reizt mich. Das gibt noch etwa vier Wochen angestrengten Schaffens. Das ist nicht das Schaffen vor dem Kurbelkasten in Neubabelsberg oder auf dem Matterhorn, sondern es ist fast Fabrikfrohn, nur unter künstlerischen Gesichtspunkten, in dem Schneideraum einer Filmanstalt in Berlin-Mitte. Da hantiert Leni Riefenstahl täglich von 9 Uhr morgens bis 7 Uhr abends; als Handlanger dienen ihr ihr junger Bruder, dessen bayrischer Tonfall noch unverkennbar ist, und eine Angestellte.
Gustav Freytag hat seinem "Soll und Haben" das Wort Julian Schmidts vorangestellt: "Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit."
Da sitze ich nun, interessiert, aber still und nicht als Störenfried, in dem kleinen Schneideraum und will noch wiederholt da sitzen. Das kühne, schöne Gesicht mit dem willensgestrafften Munde Leni Riefenstahls unter dem kastanienbraunen Gelock ist Nebensache. Ich sehe nur den weißen Arbeitsmantel und die behandschuhten flinken Finger. Fräulein Riefenstahl ist bald hier, bald dort, wird auch mal an den Fernsprecher gerufen. Aber ihr eigentlicher Platz ist an dem Lyta-Tisch mit seiner beleuchteten Glasplatte und dem kleinen Guckkasten, durch den man zur Prüfung die Filmbänder kurbeln kann.
Kleine Rollen, große Rollen, viele Rollen davon. Leni Riefenstahl hat selber mit drei Operateuren in Nürnberg gedreht. Dazu kommen die parteiamtlichen Aufnahmen. Dazu die der zahlreichen Wochenschauen in- und ausländischer Filmgesellschaften. Prüfen, sortieren, auswählen, zerschneiden, kleben.
Es ist eintönig, es ist anstrengend. Jeden Tag. Jeden Tag vom Morgen bis zum Abend.
"Schauen Sie mal nach, ob da Ton drauf ist oder ob es eine Stummkopie ist!" "Das stellen wir dorthin, wo das Wochenschaumaterial ist!" "Ist Fox und Emelka schon gedoubt oder nicht?" "Hier, Walter, mach' einen Zettel drauf: Ufa-Positiv mit Ton!" "Bitte an die andere Rolle kleben, ungefähr ein Meter Schwarzfilm!" "Die Schachtel mit Nürnberger Stadtmotiven ist schon freigeworden." "Haben wir schon eine Rolle Diplomaten-Ankunft?" "Tribünenbau ist da auch, richtig!" "Adolf-Hitler-Platz und Anfahrt des Führers bitte extra!"
Nur solche kurzen Bemerkungen schnellen durch den Raum. Spindeln surren, Rollen fliegen, der Klebeapparat knackt. Kaum Zeit zu einem Seitenblick auf den frischen Rosenstrauß, den einzigen Schmuck des Zimmers. Arbeit, Arbeit. Es sind sonst nur nüchterne Tische, Regale, Pappkästen, Handwerkszeug da.
In einer Kopieranstalt in Freiburg hat die Riefenstahl einmal das "Schneiden" gelernt und sagt darüber:
"Beim Zusammensetzen der vielen, vielen kurzen Szenen begeistere ich mich daran, wie man aus dem auseinanderstrebenden Material neue Stimmungsmomente zu komponieren vermag. Manche Aufnahmen erhalten nachträglich einen ganz anderen Sinn, es wird aus ihnen durch einen schöpferischen Vorgang wiederum eine vollkommen neue Idee gewonnen."
Wenn das Werk vollendet ist, werden wir satt und zufrieden vor der Leinewand in irgendeinem Kino sitzen. Die meisten von uns ohne Ahnung, welches Tun dazu nötig war. Hoffentlich wird die Werbekraft so stark, daß die letzte Hütte erfaßt wird. In der Beziehung bin ich in diesem Jahr aus einem Saulus zu einem Paulus geworden: ich weiß, was künstlerische Intuition für die Propaganda in der Politik bedeutet. Sie darf nicht einschlafen, wir brauchen sie wie das liebe Brot.
Noch ist nicht jedermann für das Dritte Reich geworben, für den Opfergedanken, für die Kameradschaft an Stelle des Klassenkampfes.
Ein früheres Dienstmädchen von uns, in unserem Hause national bis ins Mark geworden, hat einen Mann geheiratet, der leider auch heute noch links steht und leider seit Jahr und Tag arbeitslos ist. Sie kommt mit Kartoffeln im Netz von der Markthalle nach Hause. "Na, hast du schon in jede Kartoffel dein Hakenkreuz geschnitzt?", fragt er sie höhnisch, erhält aber die seelenruhige Antwort: "Du müßtest in ein Konzentrationslager, dann kriegst du da endlich deinen Hammer und deine Sichel in die Hand!"
14. September 1933 (Donnerstag)
3
Hüftweite 96 gesucht - Herrenschultern und Verwandlungskleider - Gegen den Primitivitätskult - Im Oskar-Helene-Heim - Wie krank wir waren - Hitlerjunge Quex - Der verpönte Schnurrbart.
Was wird Mode? Mannequins mit Doppelkinn!
Es springt einem unwillkürlich solch ein Satz über die Lippen, wenn man diesmal die alljährlich größte Kleiderschau Berlins bei Kroll mitmacht, die der Berliner Damenschneider-Innung und der Firma Cordes. Gerade habe ich eine Anzeige gelesen: "Vorführdame gesucht, Hüftweite 96." Vor Jahr und Tag waren noch 88 Zentimeter die Höchstgrenze, und "Magere Ziege ist wohl Trumpf?", schmetterte eine abgewiesene Mollige. Heute dürfen sie ruhig wieder fraulich aussehen, brauchen nicht mehr Plättbrett zu markieren. Auch die Stoffe "tragen auf", sind vielfach rauhwollig, fast möchte ich sagen: bauernhaft.
Man sucht das Bodenständige, das Deutsche. Aber etliches, was wir heute schon als pervers empfinden, ist noch da, so die betonte Männlichkeit in den Schultern, mit ausgebauten Stabilisierungsflächen. Kaufende Damen seien davor gewarnt, denn diese Mode wird sehr kurzlebig sein. Mal sind es also abstehende Flügel, die zum Erweitern der Schultern angewendet werden, mal sind es wattierte Würste, mal sind es sogar große Tütentaschen, nach oben offen. Wenn sie vollgeregnet sind, kann man vielleicht Blumensträuße hineinstellen. Aber das ist nicht der "dernier cri" in übertragenem Sinne, sondern wirklich der letzte verhallende Schrei aus einer vergangenen Epoche. Was sonst die 34 Firmen der Modeschau-Vereinigung der Innung zeigen, das ist geschlechtsgemäß, also gut, und hat, was besonders von der Verwendung von deutscher Plauener Spitze gilt, trotz aller praktischen und billigen Machart höchsten Schick.
Ja, das Praktische. Das - Verwandlungskleid . . .
Im vorigen Jahre erlebten wir die Anfänge, als die Behelfsärmel mit Gummischnur zum ärmellosen Kleid aufkamen. Sah man beim Mantelablegen im Theater, daß "die anderen" besonders festlich gekleidet waren, je nun, so streifte man die Ärmel eben ab. Heute gibt es kurze "Complets" (in Frankreich ist übrigens dieser Ausdruck gänzlich unbekannt), auf der Straße zu tragen, die im Handumdrehen zu einem langen Abendkleid verwandelt werden können. Man nimmt den Umhang herunter und - bindet sich ihn als Rock um die Taille.
Oder ein hochgeschlossenes Brautgewand, das man früher nach dem Hochzeitstage nur in die Lade legen konnte, ist mit wenigen Griffen in ein keckes Tanzkleidchen zu verwandeln. Es gibt auf dieser Modenschau Sachen, die sich, wenn man hier eine Schleife löst oder da ein paar Druckknöpfe anknackt, für drei oder vier verschiedene Zwecke umbauen lassen.
Da haben wir also endlich das Universalkleid, sehr zeitgemäß; und wenn man gelegentlich irgendeinen Teil davon andersfarbig ersetzt, ist ein ganz neues Kleid erstanden, das "die anderen" nicht wiedererkennen.
Schade, daß für Männer noch nichts dergleichen erfunden ist. Etwa eine zweireihige Jacke, aus der man durch Einschlagen oder Hervorziehen einen Smoking oder einen Frack machen kann. Für uns existiert bisher nur - das ist der Anfang - ein doppelseitig tragbarer Mantel oder ein Mantel mit abzuknöpfendem Futter.
Auf der teppichbelegten Brücke quer durch den großen Saal bei Kroll schreiten die Mannequins daher, wiegen sich wohl mal auch nach den leisen Klängen der S.S.-Kapelle, aber sie schwänzeln nicht mehr. Unvermerkt ist das verschwunden. Auch viele stadtbekannte Mannequins aus der vorigen Saison sind verschwunden. Vielleicht mit ihren fetten Brotgebern aus der Konfektion nach Paris oder sonstwohin. Ebenso fehlt die wulstlippige Modeberichterstatterin als Ansagerin. Wir sind endlich einmal unter uns Deutschen. Das alles stellt der Kritiker mit dem ersten Blick fest, während das große Publikum nur dumpf fühlt, irgend etwas sei anders geworden. Wenn es einmal gelänge, Berlin gegenüber Paris und Wien führend in der Mode zu machen, gäbe es für Tausende von geschickten Händen neue Arbeit.
Neue Arbeit: das ist das A und das O unseres ganzen Wollens. Auf allen Gebieten. Wir wären blöde, wenn wir etwa der Mode überhaupt die Fehde ansagten, am Ende gar eine Art "Reformkleid" als Einheitstracht einzuführen gedächten. Bunt und freudig sei das Leben! Der Reichskanzler, der für sich selbst fast asketisch zu leben vermag, hat sich im Generalrat der Wirtschaft gegen den Primitivitätskult erklärt:
"Das Entscheidende ist nicht, daß alle sich beschränken, sondern daß alle sich bemühen, vorwärtszukommen und sich zu verbessern!"
Das ist trotz Opferns und trotz Eintopfgericht die Magna Charta des neuen Optimismus.
Den stärksten Optimismus, den tätigsten und erfolgreichsten Wunderglauben mitten in schier verzweifelten Umständen, den sichtbarsten Segen der Arbeit habe ich an einer Stelle gefunden, wo man dies wohl am wenigsten vermutet, im berühmten Oskar-Helene-Heim draußen in Berlin-Dahlem.
Im - Krüppelheim.
Aber dieses Wort hört man dort nicht gern. Nein, es ist eine Entkrüppelungsanstalt, die dieser Tage ihre Jahresfeier beging. Ich konnte dabei außer mehreren Professoren als gewichtigsten Ehrengast, der sozusagen die Parade abnahm, den energiegeschwellten jungen Ministerialrat Dr.med. Conti begrüßen, der als Feind alles Kranken und Morschen bekannt ist. Im Oskar-Helene-Heim handelt es sich freilich nicht um Erbfaulige, die sterilisiert werden müssen, sondern um zufällig Unglückliche, die glücklich werden sollen und können. Früher waren es viele Kriegsverletzte, die hier wieder für einen bürgerlichen Beruf zurechtgeflickt wurden, während es heute in der Hauptsache ein paar Hundert Unfallverletzte sind, außerdem Kinder, die an Verkrümmungen oder Lähmungen leiden. An ihnen allen wird das große Wunder wahr, daß man sie der arbeitenden Menschheit wiedergibt. Das erste ist die seelische Entkrüppelung. Unter liebevoller Einwirkung wächst in diesem Heim, das mit seinen 45 Morgen unmittelbar am Grunewald liegt, zunächst der neue Lebensmut, wenn man den Verunglückten ihre Arbeitsfähigkeit ermöglicht und beweist.
Da ist ein Fleischer, der die halbe Hand verloren hat: ein für ihn konstruierter Messergriff, in dessen Ausbuchtungen seine Fingerstummel passen, befähigt ihn wieder für sein Gewerbe. Da ist ein Mädchen vom Lande, dem der ganze rechte Arm ausgerissen ist; trotzdem kann es Wäsche waschen und wringen und jegliche Hausarbeit ersichtlich fröhlich leisten. Da ist ein völlig beinloser Ladengehilfe, der lächelnd auf seinen Prothesen, die so kunstvoll wie Daedalos-Arbeit sind, daherkommt und von seiner Umschulung auf einen anderen Beruf erzählt. Da ist ein einarmiger Stenotypist, der mit fabelhafter Geschwindigkeit die Tasten der Schreibmaschine abklappert und die Auslösung der großen Buchstaben durch eine Zugschnur mit dem Fuß bedient. Da ist ein Schuhmachergeselle, dem beide Beine amputiert werden mußten, heute - der beste Fußballspieler von Dahlem und Umgegend! Die Tischler-, Schneider-, Wäsche-, Korbflechter-, Buchbindereiarbeiten, die in dem Heim, vielfach auf Bestellung aus privaten Kreisen, von Entkrüppelten angefertigt werden, sind in der Ausführung ganz hervorragend.
Es handelt sich also nicht um erbkranke, sondern um eugenisch wertvolle Bestandteile des deutschen Volkes, um Opfer der Arbeit, die in die Arbeitsfront zurückwollen, die auch heiraten und kerngesunde Kinder bekommen können.
Man muß nur mit Kunst und List und Liebe ihre Bewegungsstörungen beseitigen.
Bei dem Fest im Freien saß ich am Kaffeetisch eine Weile dem Leiter der Anstalt gegenüber und konnte nach dem vielen Gesehenen nun auch noch mein blaues Wunder hören. Seinen Namen habe ich just eben vergessen, sonst möchte ich ihn hier verewigen. Sagen wir also: der Herr Professor. Selten hat es einen Mediziner gegeben, dem ich so herzlich die Hand zu drücken den Drang hatte. Und das Fest selbst war köstlich und rührend. Viele, viele Kinderbetten in der Waldlichtung, etliche der Kleinen darin im Streckverband, aller Augen aber glückselig auf die Freilichtbühne gerichtet. Da spielt eine Kapelle von Krüppeln fidel drauf los, und es wird ein Märchen aufgeführt, in dem ein durch einen Unfall verkrümmter Diener den Humoristen und ein hüftkrankes noch stark watschelndes Mädchen strahlend die Prinzessin gibt.
Den Grund zu der Anstalt, die heute aus ganz Deutschland ihre Insassen erhält, haben vor 22 Jahren Oskar und Helene Pintsch gelegt. Diesem Großindustriellen-Paar wurde spät ein frisches und gesundes Töchterchen geboren. Da gaben die beiden als Dankopfer einen erheblichen Teil ihres Vermögens her, eine halbe Million Mark. Damit sollten andere Kinder gesund gemacht werden.
Der Besuch im Oskar-Helene-Heim gehört zu den stärksten Eindrücken, die man in Berlin haben kann, und wäre allen den Ausländern zu gönnen, die da glauben, das Dritte Reich züchte nur Soldaten für die Revanche und vernichte jedes schwächliche Kind, so wie die alten Spartaner es taten.
Nein, jedes Kind kommt pflegsam auf seinen richtigen Posten, auch das schwerverletzte. Hat es freilich, gottlob, ganze und gerade Glieder, dann mag es in der Hitlerjugend marschieren lernen. Allmählich wird auch das Ausland begreifen, daß wir nicht eine Revolte hinter uns haben, die eine neue Parteibuch-Schicht nach oben gebracht hat, sondern daß ein unerhörtes Ringen um die körperliche und seelische Gesundung des Volkes begonnen hat. Wie krank wir waren, das müssen Reden, Bücher, Filme jetzt der Welt erst klarmachen. Daß wir kurz vor dem politisch-bolschewistischen Umsturz standen, ist nicht einmal das Entscheidende. Sondern, daß wir buchstäblich an Leib und Seele vergiftet, daß wir "entartet", daß wir dem eigenen Volkstum entfremdet waren. Daher jetzt auch der ungeheure, erschütternde Eindruck eines Films, wie der "Hitlerjunge Quex" es ist, dessen Aufführung nicht umsonst als steuerfrei erklärt worden ist. Denn das ist tonbildlich urkundenhafte deutsche Weltgeschichte.
Jeder Deutsche, wenn er nicht gerade Einödbauer im Gebirge ist und nie herunterkommt, wird das kennenlernen können. Nur nicht ganz so festlich-imponierend, mit Egmont-Ouverture und allem Drum und Dran, wie es am Dienstag in Berlin geschah. Auf der Bühne ausgerichtet, Hand über Hand, genau hundert frische, helle Buben und Mädel, die das neue Lied des Reichsjugendführers Baldur v.Schirach singen. Rund um den gewaltigen Ufa-Saal am Zoo und draußen eintausend andere, in Dreier-Kolonne scharf auf Vordermann, lauter junge Kraft, Disziplin, Siegesglaube. Ein unvergeßliches urdeutsches Bild. Dem Propagandaminister Dr. Goebbels lacht das Herz im Leibe. So, genau so, hat er sich das gedacht, was man im Film schaffen kann.
In unserer nächsten Nachbarschaft, im stammverwandten Österreich, macht man dazu allerdings noch verzerrte Gesichter.
Selbstverständlich wird dort wie jedes nationalsozialistische Abzeichen und wie "Deutschland, Deutschland über alles" auch der Hitlerjunge Quex von der dollfüßischen Regierung verboten. Diese rotgemusterten Zentrumsleute, die ihren Sturz vor Augen sehen, sind ganz hysterisch geworden. Als zeitgenössisches Dokument, das nur stürmische Heiterkeit erwecken kann, seien ein paar Sätze eines Dollfuß-Organs hier angeführt:
"Der Hitler-Schnurrbart findet Verbreitung; dies wirkt aufreizend, und daher wäre dieser Unfug dringend abzustellen. Denn der Hitler-Schnurrbart ist gleichbedeutend mit einem nationalsozialistischen Parteiabzeichen, und diese sind verboten."
21. September 1933 (Donnerstag)
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