"Rumpelstilzchen"

Nun wenn schon!
(Jahrgangsband 1931/32)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1932

Glossen 4 - 6
24. September bis 8. Oktober 1931


4

Saisonbeginn - Man wandert ab - Schillers "Kabale und Liebe" bei Reinhardt - Die beiden Höflich - Auf dem Reichsparteitag - Anekdoten um Hugenberg - Zeittheater.

Ob wir in diesem Winter in Berlin überhaupt eine Saison erleben?

Das ist buchstäblich eine Lebensfrage für Zehntausende, die hungern müßten, wenn nicht der Drang zu Vergnügen und Geselligkeit ihnen Arbeit gäbe. Eine richtig tote Saison haben wir seit dem Kriege kaum gehabt. Auch als man in der Inflationszeit alles verlor, gab es Tanz und Theater und Gästerei. Und der echte Berliner, halb stolz und halb verschämt, seufzte den Kollegen vor:

"Man kommt ja aus dem reinen Hemde überhaupt nicht mehr raus!"

Sicherlich wird es diesmal noch weniger Bälle als im vergangenen Jahre geben, wo zum ersten Mal die starke Einschränkung sich bemerkbar machte. Auch manche anderen herkömmlichen Feste der Saison fallen aus. Trotzdem wird, wenn auch bescheidener, immer noch genügend gefeiert, und wenn es auch nicht immer wörtlich nach dem Liede "ein rheinisches Mädel bei rheinischem Wein" ist, das dem nach Freude Durstenden winkt, wenn auch heute schon travestierend gesungen wird

"Ein reinliches Mädel
Bei reichlichem Wein,
Das muß ja der Himmel
Auf Erden sein",

so lädt doch noch hie und da die Lust zu Gaste, finden sich wie immer die Pärchen, gibt es noch überall etwas zu schauen. Freilich: man "wandert ab", wie es so schön hieß, als auf der Eisenbahn die zweite Klasse zu veröden begann und Leute, die früher sogar erster gereist waren, sich mit der Holzbank begnügten. Man wandert ab: vom Kabinettswein zum Surius, von der Importe zur Uckermärker, vom Parkett zur Galerie. Und - von der kaltschnäuzigsten Moderne wieder zur verträumten Empfindsamkeit. "Schminkt Euch ab!", ruft ein Berliner Kulturkenner auch den Frauen zu; denn es komme sehr bald die Zeit, wo unsere Herrenwelt den Lippenstift unerträglich und ekelhaft finden werde.

Das beste Anzeichen der Wandlung: die Jugend strömt wieder zu Schiller.

Vor ein paar Jahren galt er unseren jungen Garçonnes als eine verstaubte Lächerlichkeit aus der Lavendeltruhe der Großmütter. Heute schluchzen unsere jungen Mädchen wieder mit Luise Millerin, heute preßt ihnen der wieder monokellose Begleiter bei Ferdinand v.Walters Beteuerungen leidenschaftlich die Hand. "Kabale und Liebe" bei Reinhardt im Deutschen Theater! Es ist vielleicht die vierte Neuinszenierung, Neueinstudierung seit 1906, wo, irre ich nicht, Max Reinhardt noch selber mitspielte; und es ist die am meisten schillerische, die wir je gesehen.

Wer auf diese ganze Zeit zurückschauen kann, für den bringt die heutige Aufführung etwas unendlich rührendes: damals spielte Lucie Höflich, unser größter eigenleuchtender Fixstern am Berliner Theaterhimmel, die Luise, während heute Lucie Höflichs Tochter Ursula diese Figur holdester Kindlichkeit verkörpert. Und die Mutter - ist die Mutter. Lucie Höflich spielt die Frau Stadtmusikant Miller, ganz groß auch in dieser verhältnismäßig kleinen Rolle.

Überhaupt nur sogenannte Prominente. Rudolf Forster als Präsident v.Walter, Paul Wagner als sein Sohn, Gustaf Gründgens als Hofmarschall, Lili Darvas als Lady Milford, Eugen Klöpfer als Stadtmusikant: kein Theater in Europa kann heute eine solche Liste zusammenstellen. Auch der Filmrusse Wladimir Sokoloff als eminent schillerscher Schurke Wurm ist unübertrefflich.

Der und jener im Publikum schüttelt sich und meint, da komme man nicht mehr mit, Schillers Edelinge und Kanaillen seien zu kraß, das ganze sei doch im Stil der Moritaten.

Aber neun Zehntel der Besucher, die jungen voran, rasen vor Begeisterung.

Und in diesem Sturm neigen sich zwei Frauen. Die reife, schon stämmige, urdeutsch-blonde Lucie Höflich, die vor Freude weint; und die blutjunge, zarte, feingeschnittene Debutantin Ursula Höflich, die vor Freude lacht. Es ist ein Doppelsieg an diesem Abend; und man ist der Mutter dankbar, daß sie uns diese Tochter geschenkt hat.

Lucie Höflich - das ist ihr Theatername, mit ihrem bürgerlichen Mädchennamen heißt sie, glaube ich, Holwede und stammt aus dem Hannoverschen - war einst als "Schwester Beatrix" in ihrer weizenblonden Muttergottesschönheit so unser Entzücken, daß fieberkranke Frauen ruhig wurden, wenn man ihnen das Bild dieser begnadeten Darstellerin in die Hände legte. Und wenn sie als Gretchen in Goethes "Faust" mit unerhörtem Wohllaut, unerhörtem Wehlaut ihr

"Meine Ruh' ist hin,
Mein Herz ist schwer"

daherhauchte, so klang es, als fielen Metalltropfen durch eine plötzlich ungeheure Helligkeit. Als "Rose Bernd" und in vielen, vielen anderen Rollen haben wir Berliner Frau Höflich noch gesehen, immer blieben unverwischbare Eindrücke haften, und nun - gibt sie dem Kinde das reiche Erbe, während sie selber auch noch mitten in schöpferischer Tätigkeit steht.

Die junge Ursula stammt aus Lucie Höflichs Ehe mit einem Manne, der einst sächsischer Husarenoffizier war, ist zweier begabter und kultivierter Menschen Tochter, hat aber bis vor kurzem an die Laufbahn der Mutter nicht gedacht. Ist still daheim herangewachsen. Hat im vorigen Jahr, noch nicht 18 alt, ihre Reifeprüfung mit Auszeichnung an einem Gymnasium bestanden und eigentlich - Theologie studieren wollen. Sie ist in ihrer Kindheit nicht so herumgestoßen worden wie etwa die junge Toni van Eyck, über die übrigens soeben Hans Frentz-Sudermann im Verlage von Erich Wiebezahl ein entzückendes reich bebildertes Buch herausgegeben hat, sondern ihr Leben verlief einfach und geradlinig wie das auch anderer Töchter aus gutem Hause. Vielleicht sogar noch schlichter. Die Bücher waren immer die besten Freunde ihrer Versonnenheit, sie spricht ein korrektes Französisch und Englisch, es ist fast ein Wunder, daß sie dem Berliner Westend-Luxus fern und fremd geblieben ist.

Sollte man es für möglich halten, daß dieses junge Mädchen noch mit 18 Jahren keine Tanzstunde gehabt hat?

Und als Max Reinhardt - Ursula Höflich hat ein Jahr der Ausbildung in Ilka Grünings gründlicher Theaterschule hinter sich - die ersten Proben zu "Kabale und Liebe" ansetzte, da mußte man diesem Pastellbild eines Mädchens, dieser Ursula, erst beibringen, wie ein Mädchen einem Mann, den es lieb hat, an den Hals fliegt . . .

Und nun stehen wir vor dem Wunder. Das ist wirklich die junge Unschuld von 16 Jahren, wie Schiller sie vorschreibt. Gelegentlich noch etwas schrill. So sind aber junge Mädchen in dem Alter; wäre sie schon ausgeglichener, wäre sie nicht wahr. Wenn je das Wort von dem vielversprechenden Talente zutraf, dann wohl hier. Gewiß, wir haben es auch schon erlebt, daß manchmal "ein großer Aufwand schmählich ward vertan". Jugend leuchtete meteorgleich auf - und verschwand wieder im Dunkel. Meist, weil sie nicht zu arbeiten verstand und weil nicht an ihr gearbeitet wurde. Hier liegen die Dinge anders; bei der Tochter wie bei der Mutter.

Es ist zu schön, wenn es in unserer tristen Zeit noch Erhebendes gibt.

Ein paar Tage vorher habe ich es außerhalb Berlins gesucht. Aber ein ganzer, langer Eisenbahnzug voll von Berlinern fuhr hin. Aus Dortmund kamen zehn Arbeitslose, die das Fahrgeld nicht hatten, zu Rade. Aus Ostpreußen hatten Dörfer, die Mann für Mann erscheinen mochten, aber heute die Reise sich nicht leisten können, je einen Vertreter geschickt. Von Flensburg bis Berchtesgaden, von Aachen bis Beuthen jede deutsche Landschaft aufgestört. Zum Reichsparteitag der Deutschnationalen in Stettin.

Die Berichterstatter, die Politiker haben darüber geschrieben. Der Feuilletonist sitzt am Rande der Ereignisse, in dem Treppenhaus, wo alles zu kurzer Atzung, zu einem Glase Bier oder zu einem Zuge aus der Zigarette, mal durchkommt. Im großen Saal des Konzerthauses ist der Menschendunst zentnerschwer. Es ist Platz für 1320 Delegierte, beim vorigen Parteitag waren es 745, aber diesmal müssen über 1700 in den Saal.

Draußen irrt vor polizeilich geschlossenen Türen in der Menge eine alte Dame, kriegt den Hauptgeschäftsführer der Partei am Rockzipfel. Gleich darauf entschwindet sie beglückt. Und er sagt:

"Eine Karte habe ich ihr gegeben, Platz kriegt sie keenen, aber die Karte ist hübsch, nu hat sie wenigstens ein Andenken!"

Noch stärker der Andrang zu der öffentlichen Kundgebung am nächsten Tage, in der riesigen Messehalle draußen in der Pölitzer Vorstadt, wo 10400 Menschen dem Führer zujubeln. Ein Teil der Erschienenen ist in geschlossenem Zuge anmarschiert. Die Stettiner Sozen reißen die Augen auf:

"Da sind ja eine Masse richtiger Arbeiter bei!"

Jawohl, sind sie; neben dem Großindustriellen Fritz Thyssen sieht man nationale Werkarbeiter in blauem Uniformhemd, neben dem Großgrundbesitzer v.Rohr nationale Landarbeiter in dunklem Sweater. Alle Stände geeint in dem zähen Willen zum Wiederaufbau eines reinen Deutschlands, alle einig, kein Mißton. "Hugenberg!", klingt es immer wieder wie eine Fanfare.

Neulich ist Seldte nebst anderen Führern der Rechten mit Hugenberg in Tegernsee. Und erklärt lächelnd bei Beginn der Beratung:

"Ich bitte als Punkt 1 auf die Tagesordnung die Forderung zu setzen, daß unser Geheimrat Hugenberg sich einen anderen Schneider nimmt und sich vor allem Haar und Schnurrbart modern schneiden läßt."

Das ist aber wirklich nicht mehr nötig.

Heute stört das Äußere, das die Snobs früher subaltern nannten, nicht mehr. Man hat Hugenbergs Kopf erkannt. Ob er einen altmodischen Cutaway oder einen buschigen Schnurrbart trägt, darnach sieht kein Mensch. Aber der Kopf, der Kopf! Darin steckt eben mehr, als unsere Schulweisheit sich früher träumen ließ. Daher jetzt das geschlossene Millionenheer hinter diesem Manne. Als bei Beginn des Delegiertentages der ragende Feldmarschall v.Mackensen, Inkarnation des preußisch-deutschen und des Königsgedankens, Hugenberg begrüßt, da tobt ein Beifallsorkan durch das Haus. Beide Männer sieht man die Lippen bewegen. Aber was sie sagen, das versteht kein Mensch, das können sie selber nicht hören, so braust der Jubelsturm.

Am Sonntag früh beim Gottesdienst ein anderes, ebenso unvergeßliches Bild. Döhring predigt, geistgewaltiger denn je. Deutschland, Deutschland! Hugenberg senkt den Kopf, damit keiner seine Erschütterung sehe. Er schämt sich, weil ihm blanke Tränen niedertropfen. Deutschland, Deutschland! Nur darum geht es. Hier denkt niemand an Futterkrippe, Parteibuch, Aufsichtsrat, Ministergehalt.

Nun hat der Alltag uns wieder, nun schuftet, stöhnt, lacht, weint, hastet, dröhnt Berlin wieder um uns. Die Intellektuaille experimentiert erneut mit ihrem Zeittheater. Bolschewikenkram im Film und auf zwei Bühnen, Sensation für wenige Tage, dann die große Leere und Pleite. Knallige Überschriften in den Zeitungen, Gefängnis und Geldstrafe für nationale Männer, die einen Armeemarsch haben blasen lassen oder, ohne die Polizei um Erlaubnis gefragt zu haben, in einem billigen Lastauto zu einer Versammlung gefahren sind. Auch das ist Zeittheater, letztes Polizeitheater eines abgewirtschafteten Systems vor der großen Pleite.

Wir gehen unseren Weg, ohne Rücksicht auf das Geschrei rundum. "Do, wat Du wullt, de Lüd snakt doch!", sagt Fritz Reuter.
24. September 1931 (Donnerstag)


5

Vive la paix - Operetten gehen noch - "Die Dubarry" - Gitta Alpar - Böß als Schloßherr am Bodensee - Villa Braun - Mady Christians' Amerikafahrt.

"Fief Lappeh! Fief Lappeh!"

"Feste, Mensch, noch doller!"

"Fief Lappeh! Fief Lappeh!"

Es müßte auf eine Grammophonplatte kommen, was man da so mit dem Ohre auffängt, am Bahnhof Friedrichstraße und vor dem Hotel Adlon. Während des sogenannten Weltereignisses der Woche, während des Besuches der französischen Minister Laval und Briand. Das Reichsbanner Schwarzrotgold - in Zivil, nur mit Vorstecknadel - und die Liga für Menschenrechte, die als Anwalt des Auslandes bekannt genug ist, haben einige hundert Statisten aufgeboten und ihnen das "Vive la paix!", es lebe der Friede, eingepaukt.

Das ganze übrige Berlin ist eisig und hält sich fern. Die Schmocks von Mosse und Ullstein bemühen sich vergeblich, in ihren Blättern Stimmung zu machen. Laval spielt bei den Empfängen, bei den Beratungen, bei den Galaessen mit seinem feisten Negerlächeln den Aufgeräumten, während Briand, dem dieses ganze Deutschland erledigt und schnurzpiepe ist, bei allen Gelegenheiten wiederholt gähnt und sogar einschläft. Während des Presseempfangs im Adlon kommt der neue Botschafter François-Poncet, verliest die gemeinsame Erklärung der beiden Regierungen über den Versuch einer wirtschaftlichen Annäherung durch Einberufung eines beratenden Komitees und sagt: "c'est tout!"

Ja, das ist wirklich alles. In Genf gibt es 237 Komitees, die mit nichtigem Kram ganze Bände vollschreiben. Nun kriegen wir also das 238. Komitee, das abwechselnd in Paris und in Berlin tagen soll. Das ist alles.

Vor der Öffentlichkeit erscheint aber Deutschland ganz im französischen Schlepptau. Das haben die Franzosen für ihren diplomatischen Feldzug nötig.

Der Weg von Thoiry bis Cladow ist mit Marterln für uns eingerahmt. Abstürze über Abstürze. Die Überlebenden in der Wirtschaft schleppen sich mit den Lasten der anderen weiter. Viele werden noch fallen. Die Peitsche der eigenen Regierung, die keinen anderen Weg weiß, knallt hinterdrein. Mosse und Ullstein rufen hysterisch Bravo, aber der Widerhall hört schon auf. Man muß schon die Schwarzrotgoldenen von der Frei-Heils-Armee aufbieten, um den Franzosen deutsches Volk vorzumimen. Tatsächlich ist das ganze übrige Berlin völlig gleichgültig geblieben, obwohl es doch über eine halbe Million arbeitsloser Schaulustiger verfügt. Alles wartet auf den dämmernden Morgen nach tiefer rabenschwarzer Nacht. Alles harrt, bis in die rote Linke hinein, der kommenden Erlösungs-Ärs durch die nationale Front entgegen.

Fast schon ohne eigene Willenskraft. "Es ist eh schon egal!", sagt der Berliner mit Anklängen an die berühmte süddeutsche Wurstigkeit. Wer es noch kann, der betäubt sich. Nicht durch Alkohol, sondern durch - Vergnügungen. Eine Anzahl von Theatern hat mit ganz losen, vielleicht nur zu diesem Zweck gegründeten Vereinigungen Verträge geschlossen, die es diesen ermöglicht, nicht nur an die Mitglieder, sondern an jedermann Eintrittskarten zur Hälfte des Preises abzugeben. Das wird also erträglich. Und, siehe da: wenigstens bei den Operetten-Aufführungen sind die Bänke voll. Man will nicht immer klöhnen, man will Glanz und Tanz und Farbe sehen, man will Musik perlen hören. Nicht weniger als fünf Operetten werden zur Zeit wochenlang unablässig gegeben.

Bei der Abrahamschen "Blume von Hawaii"im Metropol mit ihrer vielfach entlehnten und nachempfundenen Musik und mit ihrer blöden Fabel hört die Zugkraft schon etwas auf. Es gähnen große Lücken, die sich erst im letzten Augenblick, bevor der Vorhang aufgeht, füllen: da hat nämlich der Chef der Claque die Freibillets verteilt, die übrig geblieben sind. Es gibt Berliner, die sich, wenn ein Stück abgespielt zu werden beginnt, in irgend einem Theater anstellen, irgend ein Kennwort, ein hochgeheimes, sagen und dann, sogar ohne Verpflichtung zu Beifallklatschen und Lachen, ihr Claquebillet bekommen; so nassauern sie sich 30, 40, 50mal im Jahre durch.

Ungeheuer volkstümlich ist nun schon in der zweiten Saison, ein wirkliches Wunder, das "Weiße Rößl" im Großen Schauspielhaus, das übrigens auch zu viel gefragter deutscher Exportware geworden ist.

Der zahlende Fremde läßt es sich nicht nehmen, zur "Schönen Helena" am Kurfürstendamm zu gehen, Reinhardts kapriziöser Inszenierung, wo alles so reich und berückend ist, als lebten wir noch sorglos und glücklich im alten Deutschen Kaiserreich und nicht in der Republik der Notverordnungen.

Wer Tauber hören will, der pilgert in "Das Land des Lächelns" im Theater des Westens; es ist richtig, daß die gespreizte Eitelkeit dieses Tenors einem auf die Nerven fällt, es ist richtig, daß er in Spiel und Aussehen nichts Deutsches an sich hat, aber von seiner Stimme sagen Verzückte, seit Caruso sei so etwas nicht erhört, auch Gigli verblasse dagegen.

Butterfly, Geisha, Mikado, diese Vorläufer der Blume von Hawaii und des Landes des Lächelns, haben uns einst alle entzückt. Heute kommt uns diese Art Operetten schon etwas verstaubt vor, aber, je nun, man starrt, man lauscht, man vergißt auf ein paar Stunden die Umwelt und man trällert noch ein Jahr lang das bißchen Lyrik:

Meine Liebe, Deine Liebe
Hat denselben Sinn,
Ich bin Dein und Du bist mein,
Und da liegt alles drin.

Im zweiten Jahr kommen dann die Variationen, die Verballhornungen; ich vergesse mein Lebtag nicht das Gassenbubenlächeln, mit dem ein angefaultes Girl das Liedchen intonierte:

"Meine Spucke, Deine Spucke - hat denselben Sinn!"

Nun zu der fünften der laufenden Operetten, der "Dubarry" im Admiralspalast, die gegenwärtig die vollsten Häuser schon seit Wochen macht, weil auch da ein Gesangsphänomen das ganze Stück trägt und beherrscht, Gitta Alpar. Sie ist auf Goldblond perückiert, obwohl sie, eines Stammes und einer östlichen Heimat mit Tauber, uns eigentlich dunkel kommen müßte, hat äußerlich wirklich nicht viel Bestechendes, spielt aber wie ein als Engel verkleideter Teufel, singt ein Fortissimo-Orchester in Grund und Boden und bringt glockenrein ein hohes E so heraus, daß die Herzen schmelzen. An den sentimentalen Stellen ist sie noch hinreißender als dort, wo sie übermütig sein kann; das Lied "Liebe kleine Jeanne" weckt rasenden Applaus. Mit dieser Rolle ist Gitta Alpar ganz große Klasse, ist sie schon fast eine Berühmtheit geworden. Vor vielleicht fünf Jahren war sie noch in Budapest eine kleine Choristin mit 3 Mark Entlohnung für den Abend; heute schließt sie Verträge mit 700 Mark für den Abend ab.

Die Dubarry ist übrigens eine der ehrlichsten Schöpfungen unserer Zeit, denn der Neubearbeiter bekennt, daß er fast alles dem alten Millöcker entnommen hat, was an einschmeichelnden Melodien sich da findet, nur daß er manchen Dreivierteltakt in moderne Marschrhythmen transponiert hat.

Aber die "liebe kleine Jeanne" hat der Komponist Mackeben ganz aus Eigenem dazugegeben. Dies und das witzige Trommelduett und das "Stets verliebt, stets verliebt sind die Mädels der Labille" und "Ob man gefällt, ob man nicht gefällt", sind die großen Durchbrüche in der Operette, die ihren Sieg bedeuten, neben der entscheidenden, triumphierenden Kunst der Gitta Alpar. Und die Bilder selbst? Die neun Bilder oder Akte? Je nun, es sind Miniaturen aus der Zeit Ludwigs XV., aufgereihte Schaustücke, nicht regelrechte Dramatik in Exposition und Steigerung und Peripetie, sind die Geschichte eines Mädchens, dessen Beruf die Liebe war, und sind daher nicht immer just für höhere Töchter geeignet. Aber, das ist eben die Hauptsache: man ist "drin", man vergißt, was draußen ist.

Draußen in Berlin, draußen im Reich ist die Not.

Nur wenigen ist, so oder so, persönlich oder mit erspartem Gelde, die Flucht geglückt. Max Pallenberg hatte seine 920 000 Mark, die er und Fritzi Massary sich in einem langen Leben erspielt hatten, erspielt in jedem Sinne des Wortes, in der holländischen Amstelbank untergebracht, die fallierte. Da schlug Max ungeheuren Krach, und - er hatte Erfolg. Um ihm den Mund zu stopfen, rückten Rothschilds mit einer baren Million heraus. Für die ausgestandene Angst hat Max Pallenberg also noch 80 000 Mark bekommen. Und nun ist er auf einmal ganz still, spricht nicht mehr vom "Aufstechen der Pestbeule", will sich auch kein Stück mehr schreiben lassen, in dem er die Hauptrolle als - Direktor der Amstelbank oder gar als Rothschild spielt. Also er hat sich gerettet.

Auch unser verflossener Oberbürgermeister Böß die Leuchte der nachnovemberlichen Demokratie, kann dies wohl von sich sagen.

In diesem Monat Oktober beginnt in Berlin der Monstreprozeß gegen die Brüder Sklarek, für den das Anklagematerial in 50 Aktenbänden gesammelt ist. Da müßte Böß eigentlich eine Rolle spielen, mindestens als Zeuge, aber er ist zum Glück weit vom Schuß, denn er lebt wie eine pensionierte Hoheit in der Schweiz, seit er dort das wundervolle Schloß Gottlieben am Bodensee bezogen hat.

Es liegt mit einer langen, prachtvollen Front in maurischem Stil unmittelbar am See, umgeben von einem großartigen Park, in der Nähe von Konstanz, aber schon auf schweizerischem Gebiet.

Das Schloß war Jahrhunderte lang Sommersitz der Bischöfe von Konstanz. Später wollte es die Königin Hortense kaufen, der Preis war ihr aber zu hoch, so daß sie statt dessen Arensberg im Kanton Thurgau erstand, das heute als Napoleonsmuseum eingerichtet ist. Der Exbürgermeister Böß muß mit sehr vielem deutschen Gelde in die Schweiz gekommen sein, denn Schloß Gottlieben ist ein teurer Sitz, und das Haushalten dort erfordert jährlich große Summen.

Auch in der Schweiz, aber im Süden, hat sich kürzlich eine andere Berlinerin, eine Frau Braun, ein Villengrundstück gekauft; man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß dies das buen retiro für den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Preußens, Herrn Braun, werden wird.

Wer das auch so könnte, nicht wahr?

Aber das Gros der Berliner hat zum Übersiedeln in glücklichere Länder, annoch glücklichere Länder, nicht die Möglichkeit. Stillhalten, aushalten, durchhalten! Allenfalls können sie sich freuen, daß es den hohen Herren noch leidlich geht und daß für die Künstler noch immer Brücken in das Ausland führen, ohne daß am Kopf die Inschrift prangt: "Zehn Jahre Zuchthaus!" Gerade ist Mady Christians, Sven v.Müllers Gattin, nach Amerika abgedampft, ihrer "ersten Heimat", aus der sie vor vierzehn Jahren als reizender junger Backfisch und doch schon als vollendete Dame - sie ist es geblieben - zu uns kam. Geboren ist sie nicht drüben, wie es in den Zeitungen steht, sondern in Wien, und sie ist Reichsdeutsche. Ihr Vater, der zuletzt in Newyork Theaterdirektor war, galt vor dreißig und einigen Jahren als der schönste Mann des mondänen Berlin, in dem er von Zeit zu Zeit auftauchte.

Seinen ganzen Charme, und noch mehr, hat die Tochter geerbt. Der Vater hat nie geglaubt, daß sie eine große Darstellerin würde. "Allenfalls eine gute Hausfrau!", sagte er spöttisch, als das blutjunge Ding zum ersten Mal in dem Newyorker Theater die Szene betrat, sich rollengemäß auf ein Sofa warf und mit diesem - durchkrachte. Blutübergossen rappelte sie sich empor und war so köstlich verlegen und bestürzt, daß das Publikum vor Mitgefühl und Vergnügen jauchzte und kreischte.

So wurde ihr erster "Durchfall" ihr erster Sieg, war sie gleich der Liebling der Menge geworden. Nun kehrt sie für ein fünfmonatliches Gastspiel zu ihren Amerikanern zurück. Dann haben wir sie, die damenhafteste aller wirklichen Damen vom Theater, die neckischste und überlegenste, wieder, und werden des froh sein.

Für den deutschen Film hat Harry Liedke sie entdeckt. Lange genug war sie bis dahin "Das Leichenhuhn" gewesen, wie es im Theaterjargon heißt, nämlich eine Darstellerin, die sehnsüchtig auf die plötzliche Erkrankung oder den Tod irgend einer Kollegin wartet, um endlich eine Rolle zu bekommen. Dann kamen die Rollen schockweise. "Mann ohne Namen", "Glas Wasser", "Verlorene Schuh", "Königin Luise", "Walzertraum", "Meine Schwester und ich", "Dich hab ich geliebt". Das sind nur einige Stücke aus der langen Reihe.

Von Agnes Straub zu Lucie Höflich, von Tauber zur Alpar, von Wegener zu Krauß, von Lilian Harvey zu Mady Christians, um wieder nur wahllos einige Namen zu nennen, haben wir eine Fülle von Talenten.

"Wenn ich für Italien Reklame machen will", hat Mussolini einmal gesagt, "so schicke ich nicht einen Waggon voll Broschüren, sondern voll Künstlern ins Ausland."
1. Oktober 1931 (Donnerstag)


6

Marlene - Lee Parry versteigert ihr Heim - Die Studentin als Ladenfrau - Dreimädelsbar - Tausend Brote gratis.

Man kann eine Rolle mit seiner Persönlichkeit durchdringen. Es kann aber auch von einem eine Rolle Besitz ergreifen. So wird, seit dem ersten "Fridericus"-Film, Otto Gebühr in Wesen und Leben immer mehr zum Einsiedler von Sanssouci. Und so ist, seit dem "Blauen Engel", Marlene Dietrich von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.

Wir stehen gerade vor einer Berliner Neuinszenierung. Es heißt nur nicht mehr "Marokko", sondern "Lodernde Flammen", was da auf der Leinewand fasziniert. Marlene, Marlene, Marlene! Man bringt ihr Gold, Weihrauch und Myrrhen, man betet sie an, man opfert für sie - wie im "Blauen Engel" der alte Oberlehrer - Geld und Stellung und Würde, man schreibt Bücher über sie, seit sie als Zauberin Circe ihren Männer-Zirkus hat. Schon drei Bücher. Marlene, Marlene, Marlene! Die Welt ist ein bißchen verrückt. Fehlt nur noch ein Lehrstuhl an der Universität für Marlenosophie oder Ditrichistik.

Auf dem vorletzten Presseball sah ich sie in einem raffiniert schlichten, sehr eng anliegenden weißen Kleid. Die Menschen standen wie die Mauern vor ihr und vergaßen alles andere, fühlten sich insgesamt als Professor Unrat, als ihre Hörigen. Marlene, Marlene, Marlene! Sie hat angeblich, obwohl es kaum glaublich erscheint, für rund hunderttausend Mark noch über das hinaus, was andere ihr für Pelze und Schmucksachen schenkten, in Berlin Schulden gemacht, sie soll mehr als hunderttausend Dollars Schadenersatz in Hollywood an Frau Sternberg bezahlen, der sie den Gatten abspenstig gemacht hat. Von Hansen bis Twardowski, von Kortner bis Tauber haben Dutzende von Männern nach ihrer Peitsche springen gelernt. Dabei hat sie - er heißt Siebert - einen angetrauten Ehegemahl, hat sie ein Kind, das Mädel Heidede, mit dem sie sich gelegentlich photographieren läßt, wenn die Lust sie - selten genug - ankommt, die Sentimentale zu mimen. Sie ist es garnicht. Sie ist, seit dem "Blauen Engel", eine von der Rolle Besessene, die unablässig sich und andere ins Verderben ziehen muß. Soweit sie diese Rolle im Leben spielt, ist sie Lya de Puttis Nachfolgerin und Erbin. Oder eine zweite Helene Odilon, sagen hohe Siebziger in Berlin, die noch Chroniqueure der ganz alten Lebemannzeiten sind.

Mehr denn je kreist in unserer heldenarmen und elendreichen Zeit das Interesse des Reichshauptstädters um Glanz und Dunkel, Aufgehen und Niedergang der Flimmersterne. Da ist eben das Märchenhafte. Da sieht man unfaßbaren Luxus aus ursprünglich engsten Verhältnissen plötzlich hervorschießen. Nicht nur Berlin W, sondern auch das letzte Nähstübchen, die letzte Schlafstelle in Berlin N ist aufgewühlt, sobald einmal der Vorhang über dem privaten Erleben der Stars sich hebt.

Eine Anzeige in den Zeitungen: Dita Parlos 7-Zimmer-Luxuswohnung wird versteigert.

Tausende pilgern zur Vorbesichtigung hin. Nicht um zu kaufen, nur um zu sehen. Man erinnert sich doch noch des Films, wo sie das Pußta-Mädchen, Willy Fritsch den Soldaten in Buda-Pest spielte.

Und dann die große Bombe: Versteigerung der Möbel und Kunstsachen aus Lee Parrys 14 Räumen am Kurfürstendamm Nr.195.

Wieder: nichts wie hin! Eine wahre Völkerwanderung. Überall Damen, Frauen, Mädchen in erdrückender Mehrzahl, und fast immer ihre erste Frage an die Kommissionäre und Auktionatoren:

"Wo ist das Schlafzimmer, können wir das mal sehen?"

Und die stereotype Antwort immer wieder:

"Bedaure, Schlafzimmer wird nicht versteigert."

Aber zwei Leute vom Bau zwinkern sich zu. Einer sagt:

"Einfach fabelhaft, mit seinem eingebauten Kino, dieses Schlafzimmer!"

Ich habe es auch nicht sehen dürfen. Vor den hinteren Räumen steht als Wache eine Zofe und hat die Ordre, jedermann den Zutritt zu wehren. "Nur" in den 8 vorderen Representationsräumen drängt sich die Masse und stellt fest, daß, keine der vielen Versteigerungen, die es jetzt bei jedem Umzugstermin gibt, da jedermann "sich verkleinert", solchen Stil aufweist. Sonst schleppen die Auktionatoren immer noch allerlei Lagerware zusammen, man kommt in einen Möbelstall, in einen Teppichladen, in eine Bilderkammer, nicht in eine wirkliche Wohnung. Hier aber ist alles so, als hätten die Inhaber noch vor wenigen Minuten dagesessen. Auf dem für 12 Personen gedeckten Speisetisch steht köstliches Meißner Porzellan. Persönliches, sehr persönliches überall an den Wänden. Auch gute alte Sachen; gesättigter Reichtum schaut hernieder, auch ein lebensgroßes Ölbild des Gatten, des Herrn Artur Moldauer, in Firma Stawropulos & Moldauer, Unter den Linden 21, Luxusgeschäft für Herrenkleider und Herrenwäsche. Aber wer kann heute noch mehrere hundert Mark für einen Straßenanzug ausgeben? Das Bild sieht sehr wohlgefällig aus, atmet Besitzerfreude; seit jeher war es die Sehnsucht aller reichgewordenen Kleinen, Dicken, Schwarzen, sich eine schlanke goldblonde Schönheit zu gesellen, möglichst eine vom Theater. Und dann "macht man ein Haus" und hat viele Freunde und gibt sich ein Stelldichein mit Musik und Kunst.

Bei Moldauer-Parrys haben sie alle verkehrt, deren Bilder mit Widmung hier auf dem Flügel oder sonstwo stehen, Ernst v.Possart und Werner Krauß, Fritzi Massary und Richard Tauber, Michael Bohnen und Leo Fall, Leo Blech und Paul Wegener.

Ein wundervolles großes Harmonium belebt das Musikzimmer, ein überdimensionaler Rundfunkschrank steht auf der anderen Seite des Flügels, wahre Kostbarkeiten, die jetzt für einen Apfel und ein Butterbrot weggehen, sieht man unter den Möbeln.

Lee Parry, eine Entdeckung Eichbergs, war die erste "Monna Vanna" des deutschen Films, war "Fräulein Raffke", war "Die Motorbraut", war "Die schönste der Frauen", um nur einiges zu nennen. Hat in Glück und Glanz gelebt. Ihre reichhaltige schöne Bücherei, die vom Drang nach guter Allgemeinbildung zeugt, läßt sie nicht versteigern; auch ihre große Autographensammlung nicht. Und, wie gesagt, das seidene Schlafzimmer mit Heimkino und Aluminiumwand nicht. Weshalb die Versteigerung stattfindet, wird nicht gesagt. Jedenfalls: falsche Scham gibt es heute nicht mehr.

Auch die Jugend, die neben der sterbenden Generation der Kleinrentner am härtesten von der Ungunst der Zeiten betroffen ist, geniert sich nicht, sieht mit klaren harten Augen das Leben an und packt es.

In einer vornehmen Straße des Berliner Westens eine Neunzimmerwohnung. Da wohnt bis vor einiger Zeit der Kohlengroßhändler Daniel mit seiner Familie. Vielleicht, ich weiß es nicht, ein Verwandter des früheren Hallenser Geographen Professors Daniel.

"Wat, neun Zimmer? Missen die aba Jeld ham!"

Von Mißgunst gehen Denunziationen ein. Das Finanzamt erhöht die Steuern um ein ungeheuerliches Maß: der Mann kann ja Beschwerde einlegen, aber zahlen muß er vorerst auf jeden Fall. Das wird der Anfang vom Ende. Nach einiger Zeit liegen Daniels buchstäblich auf der Straße. Wenn einer heute erst in Mißkredit kommt, geht es oft sehr schnell. Drei Kinder sind da, Fräulein stud.jur. Irma Daniel und zwei Brüder-Primaner, von denen einer Offizier werden, einer Theologie studieren wollte. Statt dessen droht nun der Untergang. Da streift aber diese Jugend die Ärmel hoch und setzt sich durch. "Fräulein Irma, der Stolz der Firma" landet zunächst als Edeltipse in einer Aktiengesellschaft, die Brüder schaffen es noch gerade mit der Reifeprüfung, dann pumpen sich die drei im ganzen 480 Mark zusammen und - eröffnen einen Milchladen. Ganz hinten im äußersten Westen von Berlin-Wilmersdorf, Westfälische Straße Nr.26. Wer von meinen Lesern dort in der Gegend wohnt, besonders, wenn er einem Betriebe vorstehen sollte, der für eine Kantine oder dergleichen eine größere Menge Milch oder Brötchen oder Marmelade usw. braucht, dem empfehle ich es, sich den Laden mal anzusehen.

Ein blitzsauberes Mädel steht da auf festen Füßen. Die 21jährige Irma. Sie und die Brüder und die Mutter stehen allmorgendlich um 4 Uhr auf und besorgen von da ab das Geschäft. Abends um 8 Uhr verlassen sie es, dann muß zu Hause noch etwas gerechnet werden, um 10 sinkt man todmüde ins Bett, denn um 4 schrillt doch wieder der Wecker.

"Nun, und - Ihre Kulturbedürfnisse?", frage ich die junge Dame.

"Ach was", sagt sie, "zuerst muß man leben, und wir leben jetzt zu fünft von dem Laden. Nicht sehr fein natürlich, wir essen in der Hauptsache die übriggebliebenen trockenen Schrippen und trinken dazu Milch, aber das genügt. Kultur? Das gibt es am Sonntag. Da sind wir von 10 Uhr vormittags an frei. Dann büffeln die Jungens, dann lese ich was, ich kann auch mal frühere Universitätskameradinnen besuchen. O, dann bin ich sogar fein in Schale, wie der Berliner sagt. Eine Freundin von mir, der es auch nicht glänzend geht, hat ganz meine Figur. Da tauschen wir unsere Kleider aus, haben also sozusagen doppelte Garderobe. Ich ende noch mal als Milchgroßhändler mit mehreren Filialen und brauche dann nicht mehr selber im Laden zu stehen."

Sie strahlt. Und bedient dazwischen freundlich und elegant ein paar Kunden, die sich einen halben Liter frische Milch, ein Brot, etwas Kastenbier holen.

Bis vor kurzem war es noch blutig schwer. Da schoben die Geschwister nachts ihren Handkarren in dreistündigem Marsch bis zum Potsdamer Güterbahnhof, wo sie die vollen Milchkannen, bis zu 200 Liter täglich, aufpackten. Es gibt auch Milchhändler, die sich alles ins Haus schicken lassen, nur verdient man dann nicht genug. Aber seit wenigen Wochen besitzt - "auf Stottern" natürlich - Irmi Daniel ein kleines Lieferauto, das einer der Brüder steuert, auch bei der Kundenbelieferung. Singend und pfeifend springt er überall die Treppen hinauf, tut Brötchen (köstliche, kann ich nach dem Erproben nur sagen) in die Hängebeutel und stellt die frische Milch in Flaschen daneben. Morgens zwischen 5 und 6 hat die ganze Familie immer mit dem Umfüllen zu tun. Und alles ist blitzsauber.

Alle Achtung. Fräulein stud.jur. und Milchhändlerin hat manchmal Schatten der Übermüdung unter den Augen, aber Grübchen in lachend rosigen Wangen. Nun, wie wär's? Für den nächsten Sonntag möchte ich mich am liebsten als Onkel mit Kultur anbieten.

Eigentlich war ich auf Erkundungswegen zu einer anderen Musentochter, die sogar noch heute studiert, aber auch kein Geld hat. Sie und eine Modezeichnerin und eine abgebaute junge Lehrerin haben eine Dreizimmerwohnung. Ein Zimmer haben sie lustig ausgemalt und als - Bar ausstaffiert, da mixen sie und empfangen abends von 8 bis 12 Uhr Gäste, die die Cocktails bar bezahlen. Es ist fast durchweg noch gutsituierte akademische Jugend, auch mal ein Assistenzarzt, ein paar Assessoren, lauter Leute, die auch sonst wohl eine Bar aufsuchen und dort höhere Preise und irgend einer superoxydblonden blöden Gans von Barmaid ein Trinkgeld zahlen müssen, was hier bei den drei jungen Damen der Gesellschaft wegfällt. Man unterhält sich gebildet, man unterhält sich lustig, es wird nicht wüst, es bleibt eigenartig und dezent. Also das wollte ich gerade näher erkunden. Aber just ein paar Tage vorher hat dieses Dreimäderlhaus Pleite gemacht. Der Kreis der Bekannten war nicht groß genug, der Cocktail-Konsum ließ bald stark nach, ebenso wie die erste Begeisterung, die Besucher rauchten nur noch eine mitgebrachte Zigarette und begnügten sich sonst mit Plaudern und Musik. Davon kann man eine Dreizimmerwohnung und mehrstündige tägliche Abendarbeit aber nicht durchhalten.

Viele von den krampfhaften Bemühungen, als eine Art Werkstudent sich durchzuhelfen, enden so. Man erzählt gern von den gelungenen Versuchen, von dem belohnten Arbeitswillen. Aber die Gescheiterten nennt kein Lied, kein Heldenbuch.

Nun ruft man nach Winterhilfe, nun protzt auch die Reklame im Gewande der Wohltätigkeit. "Täglich 1000 Brote gratis für Arbeitslose!", verkündet ein asphaltdemokratischer Zeitungsverlag, versieht die Brote mit seinem Firmenaufdruck und überweist sie den Wohlfahrtsämtern. Das macht eine Ausgabe von 3500 Mark wöchentlich. "Fabelhaft anständig, nich?", sagt in einer kleinen Kutscherkneipe ein Besucher. "Na wat denn, wat denn?", erdröhnt da vom Nebentisch ein tiefer Baß. Es ist ein alter Zeitungs-Straßenhändler mit faltenzersägtem Wettergesicht. "Nu man die Jejenrechnung!", erklärt er.

Also der Zeitungsverlag gebe vielleicht 3000 Mark wöchentlich für die Brote, die er im Großen doch billiger einkaufe, aus, habe aber gleichzeitig den Händlerpreis für seine "Illustrierte" von 14 auf 15 Pfennige erhöht, die von den armen Straßenverschleißern wohl oder übel aufgebracht werden müßten, und das ergebe eine Mehreinnahme von rund 12 000 Mark wöchentlich.

"Es lebe der Wohltäter!"
8. Oktober 1931 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts