"Rumpelstilzchen"

"Das sowieso!"
(Jahrgangsband 1930/31)

Brunnen-Verlag / Willi Bischoff / Berlin, 1931

Glossen 34 - 36
23. April bis 7. Mai 1931


34

Nicht schielen! - "Die deutsche Typ" - Ein Achtel Wurst, bitte - Monatserster, Monatsschluß - Wir sparen rückwärts - Die Krolloper geht ein - Frau Potiphar.

Wenn in der Straßenbahn eine junge Dame neben einem Platz nimmt, ist es nicht gerade fein, gleich zu ihr hinüberzuschielen und an ihr hinabzuschielen.

Man begnüge sich mit dem, was der Soldat, wenn er in Reih und Glied steht, lose Tuchfühlung nennt. Das reicht zur Feststellung des elektrischen Fluidums aus. Zu weiteren Feststellungen braucht man bloß - die Augen der gegenübersitzenden Damen und Herren sich anzusehen, dann weiß man alsbald ganz genau, ob die junge Dame neben einem hübsche Beine hat, zurückhaltend oder herausfordernd ist, liebe Züge zeigt, todschick oder geschmacklos angezogen ist.

Sennora Maria, unserer verehrten Freundin aus Spanien, nimmt es keiner übel, wenn sie nicht in den Augen anderer liest, sondern sich selber umschaut. Vieles für sie ist neu und lehrreich. Vor Berlin hat sie - wie auch manche sonstige Ausländer - eine unbändige Hochachtung. Sogar vor den Berlinerinnen. Als wir am letzten Sonntag ihren kleinen Jungen, den Carlitos, mit in das Wellenbad am Lunapark nahmen (zuerst hatte er etwas Bammel vor der starken Brandung, nachher war er von dem Wasser kaum loszureißen), zwei Damen und ich, da saß sie, die spanische Mutter, auf der Galerie der Zuschauer und wunderte sich über die schlanken jungen Mädchen von Berlin, die als spielende Nixen sich da tummelten. Darunter knabenhafte Figuren. Aber auch die vollschlanken unter ihnen sportgestählt und ohne überflüssiges Fett, das bei täglich regelmäßigem Schwimmen sich nicht ansetzt, auch wenn man sich nachmittags mal ein paar Löffel Schlagsahne gönnt.

Schon hatte Sennora Maria ihr Urteil fertig: die deutschen Damen sähen nicht so aus, wie man in Spanien sie sich vorstelle.

Aber dann - kam es doch. Nämlich das, was ich heimlich immer befürchte, wenn ich mit einer eleganten Südländerin ausgehe. Wir waren, weil ich da beruflich hinmußte, bei einer Aufführung im Bachsaal gewesen, mit verschiedenen Frauen und auch jungen Mädchen aus unserer Bekanntschaft, und saßen nun vor dem Auseinandergehen noch zu einem Glas Bier im Rheingold.

Da leuchten der Spanierin die Augen vor Entdeckerfreude.

Das Mädel "aus der Provinz" an unserem Tisch, Taille empirehaft hoch, Tüll über der Büste, der gekrauste Gürtel mit eingelegten Stäbchen, das Ganze Großmutters umgearbeitetes Staatskleid, also eigentlich eine für uns rührende Sache, hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Und sie flüstert mir andächtig zu:

"Endlich die deutsche Typ, wie wir denken daß ist!"

Hm. Ein fragender Blick von mir. Und da wird Sennora Maria etwas rot und sagt:

"O, das ich meine so: groß, dick, blond und etwas komisch angezogen!"

In Wirklichkeit ist das längst nicht mehr der deutsche Typ des jungen Mädchens, ist er auch in der kleinsten Provinzstadt nur noch selten zu finden. Wenn eine noch das Glück hat, im wohlhabenden Elternhause als "Töchterchen" bleiben zu können und nur hie und da "ein bißchen helfen" zu müssen, dann spielt sie sicher Tennis und radelt und steht morgens Kerze und sorgt so schon dafür, daß sie nicht zu behäbig wird. Die anderen aber, und das sind 97 Prozent, die beruflich tätig werden, setzen schon in der Arbeit zu und haben es vielfach auch nicht so reichlich, daß sie sich etwa mästen können. In Berlin mit seinen weiten Entfernungen haben sie auch dort, wo es noch eine Mittagspause gibt, keine rechte Ruhe zu einer ausgiebigen Mahlzeit, sondern ersetzen sie meist durch die belegte Klappstulle und eine Zigarette. Bei den Hunderttausenden von arbeitslosen jungen Mädchen aber, die auf die karge Rente angewiesen sind, ist Schmalhans doch heute Küchenmeister; und eher äßen sie gar nichts, als daß sie sich unmodern kleideten.

Im alten Reich gab es freilich auch schon junge Leute, die es knapp hatten, so ständig gegen Monatsende der Student. Damals konnte man dazu noch lächeln. In Aschingers Bierquelle am Bahnhof Friedrichstraße ging dann der Bruder Studio und stellte sich an irgendein Glas, das ein eiliger Bürger mit einer Neige gerade hatte stehen lassen, und tat so, als sei es "sein" Bier, um daraufhin noch gratis fünf oder sechs Brötchen nachzustopfen. Der verstorbene August Aschinger, der damals noch jeden Tag die eine oder andere seiner Bierquellen visitierte, traf da mal solch einen Studenten, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:

"Wenn Sie nächstens wieder ein Glas Bier trinken wollen, junger Mann, dann gehen Sie doch gleich direkt zum Bäcker!"

Aber das war freundlich und nett gemeint, hinausgeworfen wurde niemand, und wenn einer überhaupt etwas bestellte, etwa eine Bockwurst, so standen ihm Brötchen in jeder Zahl zur Verfügung. Das machte nichts aus, wenn wirklich auf tausend Gäste, die nur ein Brötchen verzehrten, einer sich fand, der aus Hunger acht oder zehn sich einverleibte. Heute ist die Verhältniszahl aber eine ganz andere geworden, heute gibt es Nimmersatte mehr als genug, und die können jede Kalkulation über den Haufen werfen. Seit einiger Zeit sind Aschingers Bierquellen nicht nur Gaststätten, sondern nebenbei auch Kaufläden für Lebensmittel. Da gibt es beispielsweise Leberwurst - natürlich mit reichlich Lunge darin - für nur 80 Pfennige das Pfund; ein starker Zugartikel. Da kommt nun jemand - dieser Jemand ist schon in Unzahl vorhanden -, kauft sich für 10 Pfennige ein Achtelpfund Wurst, läßt es sich schön einpacken, geht dann damit an die andere Wand des Lokals, zum Ausschank, wickelt die Wurstscheibe aus, nimmt sich Teller, Gabel, Messer, Papierserviette, Senf, eine Menge Brötchen und hat also für 10 Pfennige sein Abendbrot, das der Firma mindestens das Doppelte kostet. Das hat in diesen bösen Zeiten so überhandgenommen, daß durch besondere Anschläge ein Verbot ausgesprochen werden muß: wer nicht im Restaurant, sondern nur am Ladentisch eine Kleinigkeit kauft, der ist Kunde, nicht Gast, hat also keinen Anspruch auf Gedeck und Brötchen.

Auch böse Zeiten muß man humorvoll nehmen. Wenn nötig, mit Galgenhumor; je aufrichtiger, desto besser. Hier ein aufgeschnapptes Gespräch von zwei Herren, anscheinend mittleren Beamten, die sich zufällig an einer Anschlagsäule in Berlin-Neukölln getroffen haben:

"Wollen Sie uns nicht mal wieder besuchen, zum Teller Suppe oder zum Abendbrot?"

"Man weiß doch nicht, ob man passend kommt."

"Na es braucht ja natürlich nicht an einem der letzten 28 Tage des Monats zu sein!"

So etwas, selbst wenn es nicht nur scherzhaft gesagt ist, nimmt einem heute niemand mehr übel, und es geniert sich auch niemand, so etwas ernsthaft zu sagen. Man weiß doch, daß es fast allen Leuten ähnlich geht. Am ersten, zweiten, allenfalls dritten Tage des Monats unternimmt man etwas, denn man "muß doch vom Leben was haben, man kann doch nicht ewig die Trauerflöte blasen". Dann fängt man an zu rechnen und hat nur noch für die Sonnabende, für das Wochenende, einen ein klein wenig erhöhten Etat. Zuletzt "gönnt" man sich nichts mehr, schränkt man sich auf das äußerste ein und träumt vom kommenden Ersten.

Da muß man freilich zunächst wieder "stottern", denn für dies und für jenes werden die Abzahlungsraten geholt.

Das ist nicht etwa nur bei den sogenannten Minderbemittelten so, das geht bis in Kreise hinein, die man für gutbezahlt hält. Eine Tochter von uns ist, weit weg von Berlin, Lehrerin an einem Privatgymnasium, wo es nicht die staatlichen Gehaltssätze gibt. Schreibt uns das Mädel neulich:

"Hurra, bisher habe ich nur rückwärts gespart, aber in diesem Monat zum ersten Male in meinem Leben vorwärts!"

Deutsch kann ich wirklich, aber diese Ausdrücke sind mir neu. Schließlich kriegen wir es heraus, was gemeint ist: rückwärts sparen heißt abzahlen; vorwärts sparen heißt zurücklegen, also etwa für den Sommermantel oder die Ferienreise. Neun Zehntel der Berliner sparen ihr Leben lang rückwärts, und wenn sie denken, es ist vollbracht, dann kommt das "Unvohergesehene"; die Tour beginnt von neuem. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind uns in dieser Entwicklung schon vor Jahrzehnten vorangegangen. Dort ist der Mensch schon lange eine reine Abzahlungsmaschine. An jedem Monatsersten oder an jedem Wochenende drücken die Firmen auf den Knopf, dann rollt das Geld heraus. In Zeiten guter Konjunktur ist das eine leidliche Versicherung gegen Streiklust. Man will doch nicht seinen Lohn und damit das noch nicht voll abbezahlte Grammophon oder Volksauto oder die Leihgarderobe drangeben. Kommt aber eine Krisis, dann bricht alles um so schneller zusammen, dann wird es eine Katastrophe für die Volkswirtschaft. Das "Vorwärtssparen" ist wirklich besser.

Aber rückwärts, das ist natürlich verführerisch. Alles, was geboten wird, genießen, dann dafür büßen! In "erträglichen" Raten, versteht sich. Nur unsere Theater sind noch nicht auf die Idee gekommen, das Publikum "gratis" einzulassen und sich erst nachträglich Bezahlung zu holen. Kommt vielleicht auch noch.

Einstweilen muß die Krolloper demnächst ihre Pforten schließen. Das ist vielleicht das Vernünftigste, denn wir sind schon zu aufgebläht: drei große Opernhäuser hat doch sonst keine Großstadt der Welt. Das staatliche Unter den Linden und das städtische in Charlottenburg genügen vollauf, nur muß man freilich darauf verzichten, für einen Apfel und ein Butterbrot oder gar ganz umsonst, weil man sozial dazu verpflichtet sei, Star-Aufführungen für Gewerkschaften und Arbeitslose zu veranstalten. So etwas reißt jeden Etat um. Einzelne der Aufführungen sind von so berückendem Prunk, daß man sich sagt, bei der Inszenierung sei nur an das Fremdenlogen-Publikum gedacht worden. In Charlottenburg wird jetzt die "Feuersnot" und die "Josephslegende" von Richard Strauß gegeben. Trotz der verschwenderischen Musikalität läßt das ältere erste Werk immer noch kalt, auch wenn seine Massenszenen wagnerisch wirken, denn die Idee erscheint einem dürftig. Nur hat man hier die große Freude, als Diemut die junge blonde Rosalind v.Schirach zu sehen und zu hören, die Tochter des ehemaligen Kürassieroffiziers und späteren Weimarer Generalintendanten, die seit ihren Dresdener Anfängen viel zugelernt hat und auch stimmlich wundervoll erblüht ist.

Und dann - die Josephslegende . . .

Diese Tanzpantomime stammt erst von 1914, als Richard Strauß manchmal Tag um Tag begeistert in der Krolloper gesessen hat, wo Anna Pawlowa und ihr kaiserlich russisches Ballett tanzten. Die etwas dekadenten beiden Künstler Hofmannsthal und Harry Graf Keßler "dichteten" für Strauß das wortlose Szenarium für die Josephslegende. Die Première war Paris zugedacht, aber da kam der Krieg. Natürlich, Paris: auch die "Pariser Fassung" von Richard Wagners Venusbergtänzen war ja bekannt, da mußte die Josephslegende auch an der Seine die erste große Wirkung erzielen, - für die nüchternen Spreeathener war sie vielleicht, wenn man zuerst sie einlud, zu glühend.

Die Erstaufführung in Berlin, mit Tilla Durieux als Frau Potiphar, habe ich vor Jahren gesehen. Die Durieux, die Schauspielerin, nicht Tänzerin ist, spielte die Gier. Aber sie kam aus kälteren Zonen, von der unteren Elbe aus Hamburg, nicht vom Hause Potiphars am Nil, und sie spielte die Gemeinheit, nicht die Glut. Diesmal ist aus der Josephslegende eine rein orientalische schwüle Angelegenheit geworden. Den Joseph tanzt Frank, ein ekstatischer Jüngling mit Hakennase, seines Gottes voll und schließlich triefend von Märtyrerschweiß. Die Potiphar aber tanzt Ruth Abramowitsch, die schillerndste Schlange, die je nach betörender Musik sich zuckend gewunden hat, aus scheinbarer Erstarrung vorgeschnellt ist, sich um ihr Opfer zu ringeln. Die Berliner Kritiker der Presse der Rechten, denen das Fremde etwas den Atem nimmt, finden dafür nur die armselige Vokabel, es sei lesbisch. Mit Lesbos hat die Szene auch in den Gruppentänzen wirklich nichts zu tun, es ist nichts Perverses dabei trotz aller enthüllten Verhülltheit und tänzerischen Umbuhlung, sondern es ist tatsächlich nur der entfesselte Sexus des Orients, rhythmisch gebändigt durch die Technik, umschmeichelt durch die Musik. Eine jetzige Baronin v.Puttkamer, fett und alt geworden, hieß einst als junges Mädchen Marie Günther, stammte aus irgendeinem östlichen Ghetto und schrieb in Gedichten jene Stimmungen nieder, die hier in der Josephslegende tänzerisch zum Ausdruck kommen, darunter einmal vier Zeilen, die mir zufällig im Gedächtnis geblieben sind:

"Du lächelst stolz: 'Ich hab's gewußt',
Und weißt doch nicht, wie ich mich sehne,
Zu graben meine Raubtierzähne
In deine nackte Jünglingsbrust."

Das könnte gut und gern als Motto für diese Tanzszene der Ruth Abramowitsch gelten; nur daß Franks Joseph nicht weiß ist, sondern mit bräunlicher Wüstentönung geschminkt. So heiße Luft einem aber auch von der Bühne entgegenweht, so aufgepeitscht auch die Schwüle wird: etwa historisch ägyptisch ist nichts an der Aufführung, deren Kostüme - ähnlich wie bei der letzten "Sommernachtstraum"-Inszenierung Reinhardts - auf ein phantastisches Barock abgestimmt sind. Nur als diese Frau Potiphar - nicht stämmig wie Tilla Durieux, sondern schlangenlang, schlangenschlank - zu ihrer Nachtszene antritt, anschleicht, anrollt, da trägt sie anliegende gleißende Gewandung wie Schuppenhaut.

Vor mir im städtischen Opernhaus sitzt eine alte Gräfin von königlicher Figur, neben ihr ein schon etwas knickebeiniger alter Herr, die recht entgeistert in diese Offenbarung fremder Welten starren. Einige andere - junge - Menschen gehen mit dumpfen Hirnen heim. Aber im Foyer trifft man Engländer, Franzosen, Amerikaner, Italiener, und die sagen: so etwas böte heute in allen fünf Erdteilen nur Berlin.
23. April 1931 (Donnerstag)


35

Wochenende - Im Strandbad - Rummel in Neukölln - Karstadt - Die Argentina - Deutscher Tanz.

Ich ende week. Aber nicht so, wie der Berliner sich das denkt: in Zweisamkeit im Boot oder Zelt oder im Auto und Hotel, von Sonnabend Nachmittag bis Montag früh. Sondern nur ein paar Stunden an einem Tage; und rein beruflich. Das Wochenende ist Arbeit für den Berichterstatter. Aber man kommt doch ins Freie! Diesmal ende ich schließlich week - in Neukölln. Davor aber genieße ich, wenn auch nur eine Stippvisite lang, wirkliche Natur, nämlich draußen am Strandbad Wannsee.

Es ist ganzjährig geöffnet, hat im strengsten Winter seine Rieseneisbahn, auf der es nur so wimmelt, und im heißen Sommer seinen Menschenkochtopf, von dem der Dampf der Zehntausende zu dem Bergwald emporsteigt. Und in der Übergangszeit, jetzt, zwischen Sonnenblick und Aprilgraupeln! Wahrhaftig, auch da lebt es! Von Fanatikern der Abhärtung und von Zuschauern. Dieses ursprünglich nur mit Naserümpfen erwähnte "Proletenbad" sieht täglich viele Privatautos heranrollen. Dazu Droschken und Fahrräder; dazu alle paar Minuten den Zehnpfennig-Omnibus vom Bahnhof Nikolassee mit dichter Besetzung. Alles verkrümelt sich auf der kilometerlangen Dachgarten-Wandelbahn der massiven Kurgebäude, nachdem es die breiten Steintreppen aus den oberen Anlagen im Walde heruntergestiegen ist, verzieht sich in die Auskleidehallen, in das Restaurant, an den Strand. Wenn irgendeines unserer Ostseebäder eine derartig großartige Anlage besäße, würde die Reklame davon sicherlich ganz Deutschland erfüllen.

Siehe da: bei nur 10 Grad Wasserwärme rast jauchzend eine Frau in die aufspritzende Flut!

Pralle braune Schenkel stampfen. Die Frau, eingebrannt noch vom vorigen Sommer her, hat sicherlich im Winter Sonnenbäder im Schnee genommen, setzt auch jetzt täglich den Körper der Luft aus. Einige hundert Schritt weiter tobt ein ganzer Pulk junger Männer in Wasser und Wind. Andere spielen, in Badehosen, am Strande Fußball. Ein älteres Paar, auch ausgezogen, aber gemeinsam mit einer wollenen Decke über den Knien, sitzt in einem der Strandkörbe. Viele sind schon belegt.

Die alten strohgedeckten Hallen mit ihrer Enge, in denen Kleiderdunst und Menschendunst schwelten, sind verschwunden. Man kann sich sogar gut eingerichtete Einzelkabine für den ganzen Tag - Preis: 1½ Mark - mieten oder für ein paar Groschen eine "Wechselkabine" benutzen, die einem zu beliebiger Zeit nur zum Umkleiden zur Verfügung steht: Stiefelsack und Kleiderbügel werden gereicht und in der Garderobe unter Bewachung aufbewahrt, während wieder andere Besucher die Kabine nehmen. Alles geht ordentlich und flott.

Die Verwaltung der Reichshauptstadt unter dem verflossenen Böß weist manches dunkle und schmachvolle Kapitel auf. Hunderte von Millionen sind verpulvert, Schieber und Bonzen fett geworden, die Ärmsten der Armen schwer benachteiligt. Schon wieder wird, um ein neues Defizit zu stopfen, zum 1. Juni die Biersteuer erhöht, die damit seit vorigem Frühling um 500 Prozent sich steigert. Aber was wahr ist, muß gesagt werden: unter dem Regime Böß ist für die Strandbäder rund um Berlin und für Sportgelegenheit jeder Art außerordentlich viel getan worden, und das wird als bleibendes Verdienst gelten, wenn über vieles Unerfreuliche schon Gras gewachsen ist. Hebung der Volksgesundheit bedeutet auch Hebung der Volksmoral. In Berliner Kabaretts krähen noch galizische Ansager die Schlagerverse:

Wie wohl ist mir am Wochenend,
Kille-kille am Sonntag,
Wenn der Bock zur Ziege rennt,
Kille-kille bis zum Montag,

aber beim Sport in der freien Natur, in der geregelten Zucht dieses Badebetriebes, fällt das ab wie Zunder. Es hat - so vor sieben, acht Jahren - Zeiten gegeben, in denen man sich scheute, seine Kinder in den Strandbadbetrieb hineinsehen zu lassen, weil er "weddingsch" war, was ein Berliner Gattungsbegriff für Roheit ist. Darüber sind wir, wie es scheint, nun endgültig hinaus. Schon der bei den erhöhten Leistungen erhöhte Eintrittspreis von 20 statt 10 Pfennigen (für Kinder werden dafür nur 5 verlangt) gibt den Besuchern ein gewisses Verantwortungsgefühl. "Der Benimm richtet sich nach dem Angtree", sagt der Berliner.

In Neukölln, dem ehemaligen Rixdorf, das sich umtaufen ließ, um den schlechten alten Ruf loszuwerden, ist der "Benimm" freilich vielfach noch der alte, obwohl er am Wedding und in Lichtenberg und in Weißensee noch ärger ist. Dies alles sind ja gleichzeitig Hochburgen der kommunistischen sogenannten "Kultur" und verwandter Bestrebungen.

Wenn man vom östlichen Teil des Tempelhofer Feldes nach Neukölln kommt, stößt man gleich auf die Nacktluftbäder des Vereins für Freikörperkultur. Der Verein veranstaltet auch gemeinsame Badetage für beide Geschlechter in "natürlicher" Hüllenlosigkeit, eine etwas unästhetische Geschichte. Ein paar Schritte weiter locken große rote Plakate und Fahnen: der Bund proletarischer Freidenker veranstaltet eine Gottlosendemonstration, während deren "Familien Kaffee kochen können". Es ist noch kein Mensch da, obwohl die Feier schon vor einer Stunde begonnen haben soll, um so voller ist es aber auf dem benachbarten Rummelplatz, wo man in der Ringwurfbude eine geräucherte Flunder oder gar einen Aal gewinnen kann, Karussels unter kreischender Musik sich drehen, Schiffsschaukeln ächzen und ein Ausrufer zur "größten Raubtierschau Deutschlands" einlädt.

Sie besteht aus zwei zahmen Bären, zwei auf Wolf frisierten Hunden, einer Schildkröte, einer dicken, aber friedlichen Schlange. Hauptsache: Ringkampf zwischen Bär und Mensch!

"Für Herren über achtzehn Jahre aus dem Publikum! Immer ran mit die starken Männer! Fünf Mark dem, der den Bären wirft! Eintritt nur 10 Pfennige!"

Immer mehr Menschen, in der Hauptsache Kinder, versammeln sich, immer dringender wird die Herausforderung. Da, da: es kommt einer nach vorn. Ein etwa Zwanzigjähriger in blauer Matrosenhose und Sweater. Er läßt sich informieren, er bekommt Lederkappe und Lederkleidung zum Überziehen, der Bär richtet sich auf, sie packen sich. Krach, bumm: der Bär wird an das Gitter gestoßen. Er drängt den Angreifer zurück, der ihn dann umzuwerfen versucht. Der Bär fällt aber nur auf alle Viere und steht dann schwer und unerschütterlich wie ein Betonklotz da. Nun der Gegenangriff: jetzt kommt der Mann auf alle Viere. Der Bär greift ihm unter den einen Arm, um ihn wegzuziehen, immer wieder, immer wieder, und endlich, krach, bumm, liegt der Mann auf beiden Schultern. Aus. Keine fünf Mark. Alles verläuft sich, auch der Arbeiter in Matrosenhose.

Er schlendert umher, scheinbar ziellos, behält aber die "Raubtierschau" immer im Auge. Nach einer Viertelstunde ist die Ansammlung wieder groß. Er geht hin, kommt nach vorn, meldet sich, wird informiert, kleidet sich um, ringt, fällt.

Nach einer Viertelstunde noch einmal.

Jeden Tag macht dieser "Herr aus dem Publikum" immer wieder dasselbe. Auch der Bär kennt das Programm. Der Bär kriegt dafür sein Futter, der Mann kriegt 1½ Mark für den Nachmittag und Abend.

"Vom Stempeln alleene kann ick nich leben", sagt er in einer vertraulichen Stunde, "ick bin doch in etwa een Künstler!"

So kleinstädtisch diese Dinge anmuten, so modern ist dafür Neukölln auf anderen Gebieten. Es gibt hier reichlich Zweizimmer- und Einzimmerwohnungen mit Warmwasserversorgung "und allen Schikanen", ganz amerikanisch. Und das amerikanischste ist am Hermannsplatz die wuchtige Riesenburg, das Kaufhaus Karstadt, das einzige Berliner Gebäude, das wirklich an Newyorker Wolkenkratzer gemahnt, dabei aber wunderbar schön ist. Das ist jetzt eine Aktiengesellschaft wie andere auch, hat "internationales" Kapital und Leitung wie andere auch, war aber ursprünglich ein rein deutsches kleines Manufakturlädchen in Wismar. Der Begründer ist, wie man erzählt, richtiger Mecklenburger Bauernsohn. Jetzt zum 50jährigen Jubiläum ist im Lichthof des Warenpalastes das alte Häuschen, ganz echt bis zur Petroleumfunzel, wieder aufgebaut, und der erste und damals einzige Angestellte, ein alter Herr hoch in den Siebzigern, steht da in langem Rock und in Vatermördern hinter dem Ladentisch und verkauft lustig an das unersättliche Publikum "zum Andenken" ein bißchen Band oder sonstwas.

Übrigens nur aushilfsweise als Reklame während der Jubiläumstage. Die Aktiengesellschaft Karstadt stellt wegen des hohen Tariflohnes ältere Leute nicht an. Ist die Gesellschaft daran schuld oder die "soziale" Tarifpolitik? Den schwarzen Rock hat der trotz seiner Rüstigkeit arbeitslose alte Herr sich erbetteln müssen.

Der Dachgarten der silbergrauen Riesenburg, deren quadratische Stufentürme abends in bläulichem Lichte erstrahlen, ist zauberhaft. Ganz Berlin liegt einem da in weitem Ausblick zu Füßen. In diesem Warenhause findet man aber nicht nur alles, was Nahrung und Notdurft heißt, sondern auch allerlei gesellschaftliche Veranstaltungen, sogar Vorträge berühmter Dichter. Schon die alten Römer wußten ja, was das Volk braucht, nämlich "Brot und Spiele"; modern ausgedrückt, neben Wohnung, Essen, Kleidern auch noch Unterhaltung. Man geht darin heute sehr weit. Im Deutschen Theater wurde dieser Tage eine Gratisvorstellung des "Hauptmanns von Cöpenick" für Arbeitslose gegeben, dazu gratis noch Kaffee und Kuchen. Sie fraßen sich außerdem voll mit Grimm - an Beifall und Zuruf gut erkennbar - gegen den Staat, der den armen Zuchthäusler so schlecht behandelt habe, und fanden, das bißchen Stehlen sei doch eine sehr humorvolle Sache. Dem Vergnügungsgewerbe, das für unsere Unterhaltung zu sorgen hat, geht es in Berlin, wie man sagt und mit Zahlen belegt, zur Zeit miserabel. In der Krolloper wurde in den letzten Jahren fast täglich die Mehrzahl der Plätze (alles das merken wir an den Steuern) verschenkt, weil zu wenig Käufer da waren und man doch nicht vor leeren Bänken spielen wollte. Aber ein großer Name zieht immer noch, besonders wenn es ein ausländischer ist. So hat im Bachsaal die spanische Tänzerin Argentina ein ausverkauftes Haus gehabt und wird es an diesem Sonntag noch einmal haben.

Ich denke an die Tortajada, ich denke an die Otero, ich denke an die verschiedenen Carmen in der Zigeunervorstadt von Granada zurück. Es ist im Grunde immer dasselbe, wenn auch immer erneut reizvoll in Bewegung und Kostüm. Das leidenschaftliche Aufstampfen mit den Absätzen, das Klappern mit den Kastagnetten, während der Körper sich windet, wozu ein Quadratmeter Tanzraum genügt. Der maurisch-orientalische Einschlag ist deutlich, es sind rein erotische Tänze, bei denen die Kastagnetten den Takt der Pulse hämmern oder auch leise wie verliebte Tauben gurren können. Alle Tänzerinnen alter Schule kennen nur das Locken, Werben, Versagen, Gewähren.

Etwas Niedagewesenes hat erst das 20. Jahrhundert mit der deutschen Tanzidee gebracht.

Sie ist wirklich Idee. Sie sagt: Tanz ist höchster Empfindungsausdruck; es gibt aber auch noch andere als erotische Empfindungen, und es gibt nichts, was der Tanz nicht ausdrücken könnte. Er kann sich in gedankliche Höhen erheben. Das ist nicht nur Lehre - durch Rudolf von Laban -, sondern auch Praxis - durch Rudolf von Laban - geworden. Unter seinen Tanzsymphonien, seinen Bewegungschorwerken, steht etwa "Der schwingende Tempel", in seiner Art, auf der gleichen Stufe wie irgendwelche Programmusik von Richard Strauß oder gar Beethoven. Labans Meisterschülerin ist Mary Wigman, die für meinen persönlichen Geschmack - ich kann nichts dafür - schon zu sehr in das Abstrakte sich verliert. Von Mary Wigman aber stammt fast alles ab, was in unseren Konzertsälen wirkliche neudeutsche Tanzkunst vorführt, von Gret Palucca, Harald Kreutzberg, Jutta Klamt angefangen bis zu den Neuesten. Auch Niddy Impekoven ist, wenn auch ganz eigen, von diesem Geiste umweht. Es gibt nichts Reineres als die Musik ihres in Scherz oder Ernst, Ironie oder Wehmut schwingenden Körpers.

Eine der jüngsten der Schule, die schlanke Annemarie Gramatte aus Breslau, habe ich gestern sozusagen in engem Kreise tanzen sehen, in dem Hause der Künstlervereinigung Porza, vor nur einigen Dutzend Zuschauern in dem kleinen Gemäldesaal. Sie ist herb und rein, frei von jeder Manieriertheit, in dem "Klang" verwehend, in dem zweiten Teil der "Visionen" von hinreißendem Wirbel, in den "Moments musicaux" von einer sanften Gelöstheit, in der "Fensterpromenade" entzückend neckisch. Ein Jahr lang ist sie Berliner Landsmännin gewesen, Studierende an unserer Hochschule für Leibesübungen, und ist dann zu Mary Wigman nach Dresden gegangen. Jetzt hat sie eine Tanzschule in Breslau. Ich kann mir wohl vorstellen, daß Töchter der besten Familien Schlesiens ihrem Unterricht anvertraut werden. Da ist nichts Fremdes mehr, das ist absolut deutsch.

Nach dem Abend sitzen wir noch ein bißchen in der "Traube" beisammen.

Eine junge Sentimentale, noch Theaterschülerin, ist dabei. Es ist die Enkelin Seidels, des Verfassers von "Leberecht Hühnchen"! Da wird mir das Herz ganz warm; ist das doch eines meiner liebsten Lieblingsbücher seit Jahrzehnten. Auch eine Dame in reiferen Jahren ist dabei, ihres Zeichens Doktor der Philosophie. Ich frage sie etwas schüchtern nach ihren Werken; ich sei in diesen Dingen sehr unwissend.

Und sie nennt den Titel ihres zweibändigen Hauptwerkes: "Autonomie der Werte".

O Himmel. Dann lieber tanzen.
30. April 1931 (Donnerstag)


36

Import von Matronen - Das Gastspiel der Mistinguett - Mütterchen im Zoo - Jungsein, Jungscheinen, Jungmachen - Eine Berufsnotwendigkeit - Ausstellung "Die Frau" - Elli Beinhorn.

Wenn Pariser Künstlerinnen das Matronenalter erreicht haben, daheim also nur noch das historische Interesse an der schönen Ruine erregen, lassen sie sich in Gnaden dazu herab, auch von dem zahlenden deutschen Publikum gefeiert zu werden.

Es ist immer dasselbe mit unserer gutherzigen öffentlichen Meinung, soweit sie von der Boulevardpresse der demokratischen Internationale bedient wird. Irgend ein Alfred Kerr oder Peter Panter, der sein Herz nicht in Heidelberg, aber schon in Posen an Paris verloren hat, schreibt begeistert. Es wird - "Sie kommt! Sie kommt!" - ein aufgeregter Empfang am Bahnhof inszeniert und gekurbelt, und dann ist jeder Mensch von Bildung sozusagen aus Selbsterhaltungstrieb verpflichtet, sich eine Eintrittskarte zu 15 bis 20 Mark zu kaufen.

Sarah Bernard, "die göttliche", von deren Enkel Verneuil unsere Bühnen die kleinen schlüpfrigen Schwänke beziehen, beschimpfte jahrzehntelang alles Deutsche und mimte, obwohl nicht Französin von Herkunft, die französische Chauvinistin, kam aber als hohe Sechzigerin nach Deutschland.

Jetzt ist "zum ersten Mal" die Mistinguette in Berlin, der tanzende und singende Revuestar, nachdem sie glücklich 64 geworden ist, immer aber noch behauptet, "die schönsten Beine der Welt" zu haben. Sie ist - alle Achtung vor ihrer Energie - ein lebendes Paradigma dafür, daß in der jetzigen Zeit das Altern ein Unfug ist, den man doch nicht mitzumachen braucht. Gewiß: unbestrumpft zeigt sie ihre Beine nicht mehr. Aber so in Seide könnten sie immer noch einem Bildhauer Modell stehen; und wenn sie daherwirbeln, in einer Art Exhibitionismus von der Mistinguette durch Rockhochheben bis an die Grenze des Möglichen enthüllt, staunt jedermann über das Phänomen. Der übrige Körper bleibt sorgsam verdeckt. Das Gesicht dieser tüchtigen Frau wirkt in der Bühnenaufmachung, wenn man weit genug sitzt und die haarfeinen Narben der Schönheitsoperationen nicht sieht, überraschend jugendlich, wenigstens im ersten Akt der Revue. Nachher wird der Zerfall auch unter der Schminke sichtbar, wenn die Frau abgetanzt ist und sich von Akrobaten immer wieder einander hat zuwerfen oder rasend um die Schultern drehen lassen; umso toller ist dann aber das Händeklatschen. Als vor einigen Jahren, wo die "kniefreie" Mode gerade aufkam, Max Pallenberg sie in Paris sah, schrieb er:

"Einen Bubikopf hat sie und kurze Kleider trägt sie, - dabei ist das Fratz noch nicht einmal 70 Jahre alt!"

Dieses Fratz bringt uns eine etwas verstaubte Revue von der Art, wie sie vor zehn Jahren James Klein bei uns inszenierte. Er ging an dem veralteten Kram dieser geschmacklos prunkhaften Fleischbeschau pleite. Wir sind längst darüber hinaus. Von unseren heutigen Revue-Operetten in Eric Charells Großem Schauspielhaus könnte Paris Erkleckliches lernen, wenn dieses Paris noch Geist besäße. Aber in den einst so bewunderten Folies Bergères und ähnlichen Lokalen hat man nur noch Hunger nach Dollars und Pfunden, und die Angelsachsen sind mit dem Urältesten zufrieden, wenn es nur ein bißchen mit Girls und mit Boys, die stepen, Rad schlagen, cancanieren, aufgemixt wird. Für sie bringt die Mistinguette in den Text ihrer Revuen tausend Worte Englisch hinein, für die übrigen Pariser Besucher noch hundert Worte Spanisch und Italienisch. In Berlin entzückt sie durch zwanzig Worte Deutsch, "zum ersten Mal Deutsch", die an den Stellen eine Unterstreichung sein sollen, wo sie den Gamin spielt, den Gassenjungen weiblichen Geschlechts von der Seine.

Das Publikum jauchzt, wenn sie in einer Szene in der Revuegarderobe sich erbietet, einen Boy zu vertreten, eine weite Oxfordhose anprobiert und spitzbübisch immer wieder fragt:

"Wo is die Schlitz?"

Was sie spielt, was sie tanzt, was sie singt, das ist von erstaunlicher Verve, aber es fesselt doch nur als eigentlich naturwidriger Versuch. Die Presse hebt lobend den schönen tiefen Alt der Künstlerin hervor. Tief - ja; aber es ist eine heisere Jodkali-Stimme, wie sie gewisse Huldinnen in Hafenkneipen letzter Ordnung in Marseille oder Hamburg haben. Wenn man ehrlich sein will, kann man nur sagen: es ist ganz toll, was diese alte Scharteke noch fertig bringt. Sie hat alles entfernt, was im Rampenlicht ihre Jahre offenbaren könnte. Ihre sämtlichen Runzeln hat sie angeblich unter ihren Fußsohlen zusammengezogen. Alle Achtung besonders vor ihrer körperlichen Leistung, der Biegsamkeit in der Taille, dem unerhörten Schwung ihrer 64 Jahre alten Beine, die zu einer Hoffnung aller Damen des Parketts werden. Aber es ist nicht nötig, daß man deshalb in die Verzückung der geborenen Paris-Schwärmer gerät und etwa wie Alfred Kerr schreibt:

"Auch in ihr steckt ein Stück Frankreich, das ich erbärmlicher Verräter meines Vater- und Hitler-Landes, entschuldigen Sie, grüßen muß!"

Jedenfalls hat Berlin wieder sein Gesprächsthema. Jungsein, ach, Jungsein! Man wird bald mit der Laterne nach alten Mütterchen suchen müssen. Im Zoologischen Garten treffe ich zuweilen noch eine solche Dame. Vor dem Bärenzwinger sagt mir das verschrumpelte Altchen:

"Sie, junger Mann, können Sie das Paket hier in den Käfig werfen? Wenn ich es versuche, werfe ich immer gegen das Gitter!"

Junger Mann hat sie gesagt, o, o, sie ist wohl ein bißchen kurzsichtig. Immerhin: wer von uns hört so etwas ungern? Also ich klettere durch den Zaun und reiche dem Bären das Paket. Er wickelt allerlei Eßbares aus der Zeitung und freut sich. "Na, Hansi, schmeckt es?", fragt die alte Dame den braunen Riesenkerl, und er brummt vergnügt. Seit 15 Jahren kommt sie im Sommer und Winter täglich her und füttert die Tiere mit dem, was sie sich von ihrer mehr als bescheidenen Kleidung abspart. In allen Käfigen ist sie bekannt. Selbst der Eisbär erhebt sich, wenn er sie sieht und macht Winke-winke.

Diese Frau ist bewußt Mütterchen. Für sie ist das äußere Jungsein kein Problem. Aber für Tausende anderer Frauen. Nicht etwa aus Eitelkeit, nicht um der Männer willen, nur zum Teil um der Kinder willen; vielfach - aus Berufsgründen.

Wer geht heute noch zu einer Schneiderin, die graue Haare hat?

Die hat doch "bestimmt" kein Verständnis für Schickes und Keckes in der Mode, sagen sich die Damen. Also färben sich die Schneiderinnen die Haare, gehen zur Schönheitsärztin wegen der Runzeln und zur Masseuse wegen der beginnenden Fettpolster.

Auf dem Arbeitsmarkt für Männer ist es ähnlich. "Die Fassade muß schon anständig sein", sagt mir ein Stellesuchender, der sich die Haare färben und die Brust wattieren läßt, "denn ein Haus, von dem der Putz schon abfällt, lockt keinen Käufer, und einen alten Kerl will niemand in seinem Betriebe haben." Wer also das Geld - billig sind die Schönheitsdoktoren nicht - noch aufbringen kann, der läßt die faltigen Wammen unter dem Kinn und die Krähenfüßchen und die Stirnrunzeln und das behaarte Muttermal entfernen.

Ärzte dürfen bekanntlich nicht Reklame machen. Sogar die Maximalgröße der Schildchen an der Haustüre ist genau vorgeschrieben. Aber dagegen läßt sich natürlich nichts sagen, daß sie einer Patientin Photographien von gelungenen Operationen geben, und diese Photographien wandern dann in der Freundschaft von Hand zu Hand, und dann staunt man über eine Frau von 50 mit Jungmädchenteint oder über eine Frau von 60 mit Äpfelchenbusen. Das Jungsein - ach nein, das Jungscheinen - ist der große Wunsch, das Jungmachen das große Geschäft unserer Zeit.

Bei allerlei Gelegenheit, in allerlei Form wird der Großstädterin Jugend vorgeführt, damit sie Lust an dem Jungsein bekomme. Zunächst durch das einfachste Mittel, durch die Künste der Mode. Zu irgend einem der nachgerade täglichen Modetees zu gehen, ist auch schon Mode geworden, und zwar demokratische Mode. Nicht nur die Damen der "Gesellschaft", sondern auch schlichte Frauen "aus dem Volke", darunter Schwergewichtlerinnen aus dem Nahrungsgewerbe begeistern sich an schlanken Mannequins. Eine Zeitlang posierten die mit Abendkleidern und Pelzen für die oberen Fünfhundert. Das findet man jetzt nur noch vereinzelt. Auf den meisten Modeschauen werden billige Kleider, bis herunter zu 29 Mark, gezeigt, wird gezeigt, wie man auch für wenig Geld geschmackvolles bekommen kann. Und dann: die Kleidung beginnt schon auf der Haut. "Das Hemd ist einem doch näher als der Rock", erklärt als Ansagerin Elsa Herzog auf der Ausstellung "Die Frau in Heim, Sport, Mode, Beruf", die jetzt zwölf Tage lang ein Massenpublikum in die Zoo-Festsäle lockt. Also enthüllen sich die Mannequins und zeigen zunächst nur ein Hemdhöschen; oder einen Schlüpfer und einen Büstenhalter, der beängstigend durchsichtig ist und an dem noch beängstigender Elsa Herzog hie und da zupft, um seine Vorzüge hervorzuheben. Dabei zwinkert sie den paar verlorenen Männern im Saale freundlich zu. Nichts wird uns erspart. Von den Wänden des Marmorsaales schreien Riesenplakate einer Firma uns zu: "Und in alle Kleider nur X-Y-Armblätter!", und auch diese Armblätter werden uns in natura an den ebenfalls Natura-Mannequins vorgeführt, die mit erhobenen Armen geduldig dastehen, während die Ansagerin in den Achseln der Mädchen fingert; und keines von ihnen ruft: "Ich bin ja so kitzlig!" I, wo werden sie denn; es ist ja ein ernsthafter Beruf.

Natürlich kann man nicht stundenlang nur modeschauen, obwohl es auch in dieser Hinsicht ganz unersättliche Damen gibt.

Also schlendert man durch die Ausstellungssäle, die unendlich viel weiblichen Tand, aber auch eine Menge praktischer Dinge enthalten. Unter der bewährten Leitung von Jenny v.Dewitz haben da die verschiedenen Industrien, die Kunstschulen, die Frauenvereine wunderhübsches aufgebaut. In der roten und der gelben Veranda ist "Der gedeckte Tisch" besonders anziehend, wo Künstlerinnen - vom Film und von der Sprechbühne - von der Hochzeitstafel bis zum Autopicknick alles hergerichtet haben, was ihren Geschmack beweisen kann. Wer sich an diesen Dingen sattgesehen, vielleicht auch hungrig gesehen hat, der kehrt dann wohl in den Marmorsaal zurück, wo mit der der Modeschau Tänze - einzelner Berufstänzer oder ganzer Tanzschulen - und Vorträge bekannter Dichter oder anderer Berühmtheiten abwechseln. Für die eine Mark Eintrittsgeld wirklich allerhand! Nur dringt leider kein Vortragender mit der Stimme in dem Riesensaal durch, da man sich Mikrophon und Lautsprecher nicht geleistet hat, also da ganz "unmodern" geblieben ist. Besonders leid tut es einem, daß Marga v.Etzdorf, die Fliegerin, so nutzlos sich anstrengen muß: nur an den zunächst stehenden vielleicht 20 Tischen wird sie verstanden, an den übrigen gibt man das Zuhören auf und schwatzt und klappert mit den Kaffeetassen.

Da ist es im Aeroklub ganz anders. Da wird die Afrikafliegerin Elli Beinhorn festlich empfangen. Da hält sie in dem großen Festsaal ihren ersten Vortrag. Da versteht man jedes Wort.

So etwas gibt es also wirklich: ein Mädel fliegt allein nach Afrika.

Von Berlin nach Timbuktu.

Ihr junges Jungensgesicht strahlt. Wie den Flug, so macht sie auch den Vortrag sozusagen aus dem Handgelenk. Er ist eine Plauderei aus dem Stegreif. Ob da Exzellenzen herumsitzen oder ob es eine Schar von Jungmädchen bei Kaffee und Kuchen wäre, das ist ganz egal, Elli spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und ich muß feststellen: heute ist solchen Mädels der Schnabel ganz anders gewachsen, als es vor zwanzig Jahren der Fall war. Auch das ist Charme. Nur von einer eben ganz anderen Art, so unbekümmert jungenhaft und dabei so feuilletonistisch-impressionistisch trotz aller technischen Bewandertheit in Zündkerzen, Benzinleitung, Gashebel, Öltank, Kurbelwelle, Knüttel und so. Ellis Eltern haben in Hannover ein Manufakturgeschäft gehabt, höre ich, und sind jetzt Rentner, ganz unauffällige Leute, und nichts - Elli Beinhorn selber hat "nur" das Lyzeum durchgemacht - deutet in ihrer Herkunft auf etwas Absonderliches, auf irgend eine Prädestination zum Fliegen.

Sie hat's eben einfach gemacht, punktum. A-Schein, B-Schein, Kunstflugschein. Das können heute viele andere Jungmädchen auch und benehmen sich männlich in kritischen Momenten, während ihre Mütter in Augenblicken der Gefahr noch die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hätten.

Also diese Elli setzt sich, als ein Gönner der Fliegerei es ermöglicht, einfach allein, ohne Monteur, in eine Kiste, in ein Klemmflugzeug von nur 40 Pferdestärken, und saust ab. Über Marseille, Barcelona, Sevilla, Casablanca, Bissao nach Timbuktu am mittleren Niger, also schon jenseits der Sahara.

Zwei Tagemärsche davor leider: Notlandung. Ein Bruch des Ölrohrs, der Motor hat sich festgefressen, läuft nicht mehr. Tagelanger Aufenthalt in einer Negerhütte unter Leuten, die kein Wort einer Kultursprache verstehen. Verquollen durch Moskitostiche, fast verdurstet, da es kein Trinkwasser gibt. Schlafen neben einer Negerin, die am nächsten Morgen sich als halb verfault, als schwer leprakrank erweist. Zweitägiger Fußmarsch nach Timbuktu, bei 45 Grad im Schatten, wohl 70 in der Sonne.

Das netteste an dem Vortrag ist, daß Elli bekennt, einmal habe sie wirklich geheult.

Nur der Fachmann kann ermessen, wieviel körperliche und geistige Arbeit in diesem Fluge steckt; dazu mit einer Karte 1:200000 in der Hand, die überdies falsch ist. Die zuhörenden Männer, auch Hauptmann Köhl, überläuft es, wenn sie das Mädel sich bei dieser harten Arbeit denken. Einer von diesen Erschütterten sagt:

"Das Leben ist so kurz, warum auch noch arbeiten, das nimmt unnütz Zeit weg!"

Irgendwie muß man doch darüber hinwegscherzen, daß einem das Mädel so mächtig imponiert.
7. Mai 1931 (Donnerstag)



Glossen 31 - 33

Jahresinhalt

Glossen 37 - 39

© Karlheinz Everts