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Piept es ? - Im August nach Ägypten - Keine Saison - Fünf Wochen ohne Berliner - Die italienische Flagge im Mittelmeer - Im Fluge - Berlins Eindruck auf Fremde - Der Kampf um den Kunden - Mit der Qualmfahne hinter sich.
"Bei Ihnen piept es wohl ?" fragten mich Bekannte und wiesen auf die Stirn. Gerade hatte ich ihnen, zwei Tage vor dem Abflug in die Ferien, erzählt, daß die Reise bis Ägypten gehen werde. Im August nach Ägypten ? Der Mann hat wirklich einen Vogel; er ist wirklich im Kopfe nicht ganz richtig.
Als letzten Einwurf stießen die Bekannten dann noch hervor, im August sei ja überhaupt nicht Saison für Ägypten. Saison, Saison. Ich weiß schon.
Saison bedeutet, daß du für einen Zulukaffern gehalten wirst, wenn du nicht jeden Mittag und jeden Abend in einem anderen neuen Kleide erscheinst. Während der Saison muß jeder Passagier erster Klasse den Eindruck hervorlügen, daß er Dollarmillionär sei. Im August aber kann er ruhig zugeben, daß es ihm nur auf eine Bildungsreise ankomme und daß er sie sich nur dies eine Mal in Leben so leisten könne; und er lebt auf der "Diana" des Lloyd Triestino von Venedig bis Athen, auf der "Milano" der Sitmarlinie von Athen über Konstantinopel, Rhodos, verschiedene Levantehäfen, Beirut, Haifa nach Alexandrien vollkommen familiär und auf dem Luxusdampfer "Esperia" der Sitmarlinie von Alexandrien bis Genua auch noch ganz zwanglos. Bei einer Gruppe junger amerikanischer Studenten, deren Papas ihnen drei Monate Bummel durch die Alte Welt gestiftet haben, ist es sogar übertrieben zwanglos: sie kommen ohne Jacke in aufgekrempelten Hemdsärmeln zu Tisch. Wegen der Hitze natürlich.
Ja, ist sie nicht schrecklich, diese Hitze ?
Ich habe in der Wüste keine Brandblasen bekommen, wie gleichzeitig manche Berliner im Freibad Wannsee. Es kommt alles auf vernünftige Anpassung an. Außerdem: der nordische Deutsche, der ja auch viel weniger der Seekrankheit unterliegt als der Südländer, ist jedes Klimas Herr, daher natürlich der geborene Kolonisator. Gewiß, ich bin in meinem Leben schon an Orten (nur nicht diesmal in Ägypten) gewesen, wo man nachts denkt, man liege in einer Kochkiste, wo man sich nackt und triefend wälzt und ruhelos nach dem fliehenden Schlafe röchelt. Das sei nun, sagten mir alle Leute noch in Alexandrien, in Kairo ganz entsetzlich. Da gebe es jetzt im August alle Tage 46 Grad Hitze im Schatten. Als ich dann gar erklärte, wir führen mit dem Mittagszuge hin, verdrehten die guten Alexandriner die Augen und sagten ebenfalls etwa: "Bei Ihnen piept es wohl ?", nur auf italienisch, französisch, englisch, arabisch.
Nein, es piept gar nicht. Der Zug, an dessen Sonnenseite die Holzjalousien dichtgemacht sind und in dessen Abteilen die Ventilatoren surren, ist gut besetzt, die Reisenden sind genau so gekleidet oder hemdsärmelig wie im Hochsommer zwischen Dresden und Chemnitz oder München und Stuttgart. Man ißt mit Appetit im Speisewagen. Besonders die herrlichen Früchte. Das ist ja das Erquickende auf solch einer Sommerreise: in der Jahreszeit der Erfüllung dazusein. Wer nie in dicken Trauben die Datteln purpurrot an den Palmen hängen sah, wer nie herzhaft in eine köstliche Mangofrucht gebissen hat, der rede mir nichts gegen den saisonlosen Hochsommer! Dieses Gerede hat sogar schon die Eingeborenen scheu gemacht. Sie starren die wenigen Fremden verwundert an. An dem Tage, an dem wir in Damaskus waren, meinten seine Hoheit Abd el Kader, es sei höllisch heiß, schier unerträglich; und dabei stammen Seine Hoheit Abd el Kader doch aus Algerien, das sicher nicht kühler als Syrien ist. Ich habe es nirgends unerträglich gefunden. Am wenigsten während der Woche in Kairo, wo man freilich über Mittag nicht gut tut, sich gerade in die pralle Sonne zu setzen, morgens aber bei regelmäßig nur 25 Grad Wärme erquickt aufsteht.
Noch ein Wort des saisonlosen Hochsommers: man ist nicht dauernd mit Horden von Reisenden zusammen. Man kann in Ruhe genießen. Man sieht auch wirkliches Volksleben. Ich habe ungestört - der Eindruck dieser Schätze war überwältigend - den reichen, gleißenden Inhalt des Grabes Tutenchamons im einzelnen anstaunen können. Sonst habe ich die Museen links liegen lassen; auch in Konstantinopel stehe ich immer wieder, diesmal zum dritten Mal, allein eine halbe Stunde ganz versunken nur vor dem Alexandersarkophag. Zwar habe ich mich in der Wüste auch in die Katakomben verschleppen lassen, in denen seit Jahrtausenden 24 Sarkophage dort beigesetzter heiliger Apisstiere stehen. Aber ein lebendiges Kamel ist mir lieber als ein toter Ochse; und Besuche in armseligen Fellachendörfern und dann im Hause eines bereits "arrivierten" Arabers waren ungemein lehrreich.
Gelegentlich hatte ich unterwegs Führer, Eingeborene in der Türkei oder auf Rhodos oder in Syrien, die sich mit dem Fremden nur englisch oder französisch verständigen konnten, aber auch deutschsprechende findet man überall. In der deutschen Schule in Sofia oder Saloniki oder Konstantinopel gelernt; oder bei den Kaiserswerther Diakonissen in Beirut; oder "aus sich selbst" nach Büchern in Luxor in Oberägypten.
In einem Badeort in Attika, etwa 25 Kilometer von Athen entfernt, schwammen wir am 4. August abends vergnügt im Meer, sahen unter Wasser etwas blinken: hurra, der Ring des Polykrates! Nein, doch nicht. Sondern der goldene Trauring einer jungen Dame, die laut Gravierung erst am 31. Juli dieses Jahres geheiratet hat. Wir melden das dem Kabinenwärter. Er gibt in deutscher Sprache Bescheid. In Athen selbst, im Hotel Grande Bretagne, wie fast überall in den Gasthöfen des nahen Orients, viel schweizer Personal. Man müsse Deutschsprechende haben, sagt der Direktor; mitunter seien 40 Prozent aller Besucher Deutsche, besonders während der Saison. Jetzt freilich kämen, im Juli und August, nur Lehrer, Lehrerinnen, Studenten, Professoren in ihren Ferien, und die gingen meist in kleinere Pensionen. Ich selbst habe während der ganzen Reise - auch das buche ich als großes plus des Hochsommers - keine Berliner getroffen, war also endlich einmal ganz losgelöst von meinem Berufsmilieu; nur einmal, kurz vor Konstantinopel, tauchte für fünf Minuten ein blutjunges Studentlein in meinem Blickfelde auf, der Sohn des Staatssekretärs Meißner; er sei von dem Botschafter Nadolny, dem Vorgänger Meißners in der Wilhelmstraße, nach Therapia am Bosporus eingeladen, erzählte mir nachher der Generalkonsul Fabricius.
Nun habe ich nicht die größte (die ging nach Zentralasien), aber die schönste Studienreise meines Lebens hinter mir. Ich habe dabei den letzten Staat Europas, in dem ich noch nicht gewesen war, Albanien, betreten; und ich habe die entzückendste Perle des östlichen Mittelmeeres, die seit 1912 italienische Insel Rhodos, zum ersten Mal kennengelernt. Habe in Syrien neben der Landwirtschaft, die noch genau so ist wie vor dreitausend Jahren in biblischen Zeiten, "Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden", die modernste Technik erlebt, die unglaublichsten Fortschritte seit dem Kriege; auf der großen Autostraße über den Libanon flitzen in jeder Tagesstunde viel mehr Wagen daher als auf der Avus in Berlin. Und wenn dann der Abend kommt, ist es schier gespenstisch, wenn im Scheinwerferlicht des Autos lautlos Kamelkarawanen vorübergleiten. Auch die Mondnacht, die ich unter den Riesensäulen des Zeustempels in Baalbek verbrachte, bleibt unvergeßlich.
Schade, daß keine deutschen Schiffe in der Ägäis verkehren.
Nur einmal, im Piräus, sahen wir einen kleinen Frachtdampfer, die "Delos" von der Levantelinie. Deutsche Vergnügungsdampfer kommen mit großer Menschenfracht nur im Frühling, "in der Saison". Im August, in den mein Urlaub immer fällt, ist Saison für Nordlandfahrten. Nur im westlichen Mittelmeer, um Spanien herum nach Italien, kann man im Sommer auf deutschen Schiffen sich ergehen, auf Schiffen der Woermann-, der Hamburg-Amerika-, der Sloma-Linie, des Norddeutschen Lloyd; und auf der direkten Strecke nach Port Said steht die deutsche Flagge an zweiter Stelle. Aber in Alexandrien und in der Ägäis herrscht die italienische. England, Frankreich, Griechenland, Türkei, Ägypten haben da auch ihre regelmäßigen Touren, aber ihr Anteil ist verschwindend. Auch sind viele dieser Schiffe klein, unbequem, unsauber; und ihr Personal unhöflich.
Auf den italienischen aber hat der Deutsche sofort Heimatgefühl. Gewiß, auch dort hört man Klagen: wenn irgendein italienischer Dampfer unter der Parole "Billig, billig!" von einem deutschen Mittelmeer Reisebureau für eine Gesellschaft von mehreren hundert dann übel zusammengepferchten Leuten gechartert wird. Wir haben auf der ständigen Strecke nicht zu klagen gehabt. Die Verpflegung und Unterbringung beim Lloyd Triestino und bei der Sitmarlinie über alles Lob erhaben, die Pünktlichkeit in Abfahrt und Ankunft (bei im August übrigens stets spiegelglatter See) wie die einer Normaluhr, die Behandlung der Reisenden - besonders der deutschen - chevaleresk.
Die Luxusexpressklasse der Schiffe ("Esperia", "Ausonia") bietet einen wirklich himmlischen Aufenthalt, ganz wie auf gleichwertigen deutschen Dampfern; nur daß in ihren Einrichtungen gegenüber der betonten deutschen Gediegenheit die italienische Prachtliebe mehr zur Geltung kommt; sie sind geradezu kokett.
Die Italiener sind noch keine Nation von Touristen; das sind auch heute nur Angelsachsen und Deutsche. Die Italiener reisen in Geschäften oder ins Bad. Infolgedessen findet man auf ihren Schiffen wenig Vergnügungspöbel und kaum Alkoholverbrauch, aber viele interessante Charakterköpfe. Auf der "Milano" saßen wir am Kapitänstisch zusammen mit Monsignore Giannini, dem Patriarchen von Syrien, der von seiner alljährlichen Vatikanreise nach Beirut zurückkehrte, einem alten Kirchenfürsten mit Adlernase, Adlerblick, weißem Rauschebart und königlicher Gewandung. In den sechzehn Tagen reiner Seefahrt sind wir auf Wunsch jederzeit ganz allein für uns, aber auch stets in der Lage gewesen, mit den fesselndsten Typen aus vieler Herren Länder bekannt zu werden. Man hat durch Vergleichen - alle Bildung stammt aus dem Vergleichen - wieder einmal ungeheuer viel gelernt. Mir persönlich hat der zielbewußte nationale Wille der Italiener außerordentlichen Eindruck gemacht. Wenn sie im östlichen Mittelmeer seebeherrschend werden, schon jetzt für die Postbeförderung fast allein in Betracht kommen, so ist das der Lohn für harte vorausschauende Arbeit. Es steckt eine Art Jauchzen in ihren Fortschritten. Auch die Nichtfaschisten werden von dem Tempo mitgerissen.
Die herrlichste Sensation, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, lag für uns schon am Anfang der Reise. Ich mag die kriechende Eisenbahn nicht, wenn ich - einmal im Jahre - den Taler auf den Kopf hauen darf. Das Geschüttel, das Gerüttel, die verstaubten, verschwitzten Kleider, die verrußten Nasenlöcher! Wir haben auf der Riesenfahrt von fünf Wochen kaum die Bahn benutzt. Im Flugzeug Berlin-Wien geruhig uns Kaffee und belegte Brötchen servieren lassen. Im Flugzeug Wien-Venedig - der große Dreimotorige lag still und steif wie ein Plättbrett in der Luft - ohne Krickelkrackel Ansichtskarten geschrieben. Am Semmering streiften wir fast über die Frühstückstische einer großen Hotelterrasse, sahen überall in die Intimitäten der Gebirgswelt, sausten dann in 3100 Metern Höhe zwischen den Schroffen und zacken der Alpenspitzen hindurch, bis sich tief unter uns das grüne Oberitalien zeigte, wir den Tagliamento, den Piave überquerten, Venedig aus der Vogelschau mit den Augen einsogen und alsbald sanft und elegant auf dem Lido landeten.
Wer es sich einmal von seinen Ersparnissen leisten kann, der sollte es uns nachmachen. Der Flugpreis entspricht etwa dem Fahrpreis erster Klasse auf der Eisenbahn. Nur braucht diese 24 Stunden von Berlin nach Venedig, während wir in fünfdreiviertel Stunden durch den reinen Äther geflogen sind.
Ende gut, alles gut: auch von Zürich in die Heimat zurück durch die Luft. Der Flugplan gibt etwas mehr an, tatsächlich waren es aber auch hier nur viereinhalb Stunden reiner Flugzeit gegenüber fünfzehn der Bahnstrecke. Da, links, der Rheinfall. Da, rechts, die Burg Hohenzollern. Deutschland, Deutschland! Land des Fleißes, Land der Ordnung. Gesegnete Felder, freundliche Dörfer, große Städte, romantische Gebirge . . .
Als wir noch zwischen Neapel und Genua an Bord waren, kamen wir mit einer alten amerikanischen Dame ins Gespräch, die, auf ihrer zweiten Europareise, ganze siebzehn Länder "machte", in einer Rundreise, die in Schottland begonnen und über die norwegischen Fjorde dann in den Süden geführt hatte. Von Deutschland hatte sie nur die Hauptstadt gesehen, ohne sonderlichen Eindruck: "Berlin ist eine ganz materialistische Stadt; Potsdam ist ein recht netter Vorort." Es würgt einen etwas in der Kehle. Aber dann in Zürich, in dem einzigartig ruhigen, paradiesischen Grand Hotel Dolder oben unter den Reichen und Mächtigen aus Dollarika und allen anderen Ländern nur ein einziges Gespräch: "Zeppelin, Zeppelin!" Da wird einem das Herz wieder froh.
Nun ist man daheim. Ich bitte um Vergebung, daß ich so viel - wes das Herz voll ist, des geht der Mund über - von meinem nichtberliner Monat erzählt habe (und ich möchte am liebsten noch viel mehr) und noch nichts von Berlin. Ich habe in den vier Tagen noch nicht viel gesehen. An den Anschlagsäulen lese ich zum ersten Male seit fünf Wochen wieder das häufige Wort: Große Kundgebung. Also die alte Zerrissenheit. Jeder ist gegen etwas. Eine tief unzufriedene Nation unter unglücklicher Leitung. Sonst ist der erste Eindruck nicht schlecht. Arbeit, Licht, Leben! Berlin ist vielleicht die einzige amerikanische Stadt in Europa. Aber man reißt sich um den Kunden, um den Klienten, um den Gast. In der Konfektion Zusammenbruch jetzt auch der hundertjährigen Firmen. Auf dem Vergnügungsmarkt wird das Billige bevorzugt: die Kaffeehäuser sind überfüllt, aber die Königin-Bar am Kurfürstendamm hat ihre Korbsessel vom großen Vorplatz an der Straße weggetan, weil sie kaum die Innenräume vollbekommt. Der Wintergarten zeigt radikale Minderung der Eintrittspreise an. Die Scala veranstaltet jetzt alle Tage Nachmittagsvorstellungen zu halbem Preise. Das Weinhaus Traube, in dem es schon seit einiger Zeit auch Bier gibt, hat das Abrunden auf 5 und 10 Pfennige aufgegeben und lockt in der Leipziger Straße und am Zoologischen Garten mit genauester Apothekerberechnung: Windbeutel 0,77, Mokka 0,81, Solokrebs 1,27, Haselnüsse 0,63 Mark.
Im übrigen werden in Berlin dieselben Schüler, denen der Kultusminister Becker jede Sammlung für das Zeppelinwerk verbot, das von der Linken vor Jahr und Tag noch beschimpft wurde, von demselben Kultusminister Becker jetzt zur Zeppelinfeier befohlen. "Und dann ist schulfrei." Nach zwei "hitzefreien" Tagen. Dieselben Schüler haben im August - an jenem Tage war ich auf der Fahrt nach Mersina in Anatolien und dachte Gottseidank nicht daran - die Verfassung feiern müssen. Alle Lokale einschließlich der Kinos, die am 11. August eine "diesbezügliche" Feier einlegten, waren von jeglicher Lustbarkeitssteuer befreit. Trotzdem haben nach behördlicher Feststellung nur acht Prozent der Berliner Vergnügungsstätten davon Gebrauch gemacht. Wahrscheinlich kann man diese Ziffer verallgemeinern und sagen, daß 92 Prozent der Deutschen keinerlei Festgefühl bei dem Worte Verfassung empfinden.
Noch eine kleine Statistik: an einer Straßenkreuzung habe ich in 10 Minuten genau 147 Autos und Motorräder mit dicker Qualmfahne hinter sich gezählt. Berlin ist leider die stinkendste Großstadt Europas. Darum entflieht ihr auch jeder, der es kann; natürlich mit dicker Qualmfahne. Heute hat schon jeder "bessere" junge Arbeiter in Berlin sein Motorrad. Man kann seine Freude daran haben, daß es samstags nicht mehr in die Kneipe, sondern ins Weite geht. Die junge Schwester unseres Dienstmädchens ist so als Benzinbraut am vorigen Sonnabend nach Schlesien gefahren. Das sei ja gar nichts, meint der junge Mann. "Wenn ick mir mal die Beene waschen will, denn mache ick jleich direkt nach Heringsdorf!"
5. September 1929 (Donnerstag)
2
Märchen für Kinder - Vielleicht heiratet er Henny Porten - Piscators Revolutionspropaganda - Der Nathan von Berlin - Auf dem neuen Dachgarten - Charles gegen Diener.
Frei nach Goethe: ich ging in den Straßen so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Da lockt in der Sonne eine Bank auf einem Schmuckplatz. Ein anheimelndes Bild vor dem Hintergrund der Fliedersträucher. Eine Mutter, "besserer" Mittelstand, Marktnetz mit Einkäufen neben sich; auf der anderen Seite, an sie gelehnt, die versonnenen Augen ins Weite, ihr Kind.
Wie ich später erfahre, ein Junge von fünf Jahren. Die Mutter hat den Kopf geneigt und erzählt. Was mag es nur sein ? Rotkäppchen ? Schneewittchen ? Eine leichte Röte bedeckt ihr Gesicht und das ihres Jungen, beide sind ganz weltvergessen. Beglückt pürsche ich mich heran, nehme leise am anderen Ende der Bank Platz, vertiefe mich - um nicht störend aufzufallen - scheinbar in meine Zeitung und lausche hinüber. Was die Frau erzählt ?
Vom Henny-Porten-Film "Mutterliebe" im Babylon-Kino am Bülowplatz!
"Das war also die Verhandlung vor dem Gericht, nich ? Und als das Kind nach Hause gebracht wurde, lief es nicht auf seine Mutter zu, sondern auf Henny Porten. Die war doch von der Herrschaft rausgeschmissen, nich ? Und dann mußte der Vater des Kindes ihr sagen, sie könne wieder gehen, und sie hatte dicke Tränen in den Augen. Nachher holte er sie wieder zurück. Er war doch von seiner Frau geschieden, nich ? Im Film kommt es nicht mehr vor, aber vielleicht heiratet er nun doch noch Henny Porten."
Ist eine Geschichte zu Ende, so atmet solch kleiner Junge gewöhnlich tief auf und sagt: "Nochmal Rotkäppchen!" oder "Jetzt Schneewittchen!" Auch dieser Fünfjährige atmet auf; und dann sagt er:
"Na und was war in der Bühnenschau los ?"
Ich starre entgeistert die beiden an. Und die Mutter erklärt mir stolz: "Der Junge will nämlich Filmschauspieler werden!" Da wäre ich lang hingeschlagen, wenn ich nicht so fest auf der Bank gesessen hätte.
Am selben Abend ein lehrreicher Rundfunkvortrag des neuen Intendanten über Volkslied und Schlager. Mit Proben. Da wird einem erst recht weh ums Herz. Wir verschlagern, wir verjazzen, wir verkientoppen in der Großstadt. Auch das Sprechtheater, das bisher noch die Rettung war. Es muß auf die Nerven gehen, sagt sich der moderne Theaterleiter.
Und Piscator, der von dem staatlichen Kunstbeamten Jeßner verhätschelte Kommunist, sagt sich noch mehr. "Das Theater", sagt er, "hat nur die eine Aufgabe, die Revolution vorzutreiben." Man bietet technisch bisher Niegesehenes, bisher Unerhörtes durch Maschine, Film, Sprechchor, Beleuchtung, man trommelt auf den Nerven der Besucher herum, man macht ihre Köpfe dumpf und heiß, bis in ihnen der Schrei aufgellt, alles Bestehende sei wert, daß es zu Grunde gehe. Und das Programmheft der Piscatorbühne bemerkt eiskalt dazu:
"Die Entscheidung selbst wird an anderer Stelle und mit anderen Mitteln erkämpft werden müssen."
Wenn das keine Aufreizung zu blutigem Bürgerkriege ist, so hat jedes deutsche Wort seinen Sinn verloren. Aber selbstverständlich geschieht nichts gegen diese allabendliche Propaganda, der die magere Galerie und das fette brillantenbehängte Parkett zujubeln. Wenn irgendwo in Deutschland ein verzweifelter Bauer im Unmut von der heutigen "Judenrepublik" spricht, kommt er unfehlbar vor Gericht. Hier am Nollendorfplatz wird allabendlich die heutige "Falschmünzerrepublik" geschmäht, und keine Hand rührt sich. In dem Stück - "Der Kaufmann von Berlin" - wird Haß gegen den Staat, Haß gegen die Nation, Haß gegen jegliches Unternehmertum - mit Ausnahme des der Schieber, das von der humoristischen und sentimentalen Seite genommen wird - emporgepeitscht. Jeder Kriegs-, Revolutions- und Inflationsgewinnler vom Kurfürstendamm fühlt sich dabei wohl, lacht verständnisinnig zu den hebräischen Worten aus dem Milieu der Grenadierstraße und lacht schadenfroh, wenn deutsche Geschichte bespien wird. Der Verfasser, Mehring, ist ja Blut von ihrem Blut. Der Hauptheld, Nathan, ist ja Blut von ihrem Blut. Dieser Theater-Kutisker, der mit 100 Dollars in der Tasche während der Inflationszeit zu uns kommt und sehr bald Millionen scheffelt, ist natürlich im Grunde eine Seele von Mensch, wird nur durch einen abgefeimten deutschen Rechtsanwalt, einen Gesinnungslumpen ersten Ranges, auf die schiefe Bahn gedrängt. Alle Deutschen in dem Stück sind Lumpen. Oder, so der General darin, vollkommene Trottel. Nathan aber finanziert, das ist der Höhepunkt der Groteske, sogar einen Putsch von Kappisten. Man hat sich, und nicht nur in der "nationalen" Presse, über die ungeheuerlichste Geschmacklosigkeit gegen Ende des Abends aufgeregt, wo auf dem laufenden Bande Straßenreiniger kommen, die Leiche eines deutschen Soldaten finden und sie mit den Worten: "Auch das hat ausgefressen! Dreck! Weg damit" wegfegen und auf den Mistkarren werfen. Die Stelle ist jetzt gestrichen; es wird "nur noch" ein leerer Stahlhelm mit ähnlichen Worten weggefegt.
Aber das ganze Stück ist ja voll von solchen Stellen. Es spricht ein so infernalisch-asiatischer Zerstörungswille daraus, daß auch der Blödeste erkennen muß: zwischen den beiden Welten, dieser und der deutschen, ist eine Verständigung unmöglich; zwischen ihnen geht es einst um das Leben. Wahrscheinlich ist es nicht das Ziel Piscators, uns gerade diese Erkenntnis einzuhämmern. Aber es geschieht. Und so mag auch dies wirksam in der deutschen Geschichte werden; bis zu der Entscheidung "an anderer Stelle und mit anderen Mitteln", mit der die Leute des Nollendorf-Theaters drohen.
Einstweilen werben sie, ungehindert vom Staat, allabendlich Rekruten für die Entscheidung, wie sie sie sich denken, unter den Dumpfen, Dummen, Triebhaften, Unbewußten der Galerie. Ohne den deutschen Schlagetot dort oben wären sie ja machtlos. In welcher satanischen Art sie das tun, mit welchem Giftgas sie alle Ehrfurcht vor deutscher Großtat und jegliches Nationalgefühl wegsengen, das erregt geradezu körperliche Übelkeit. Man wünscht, nur einmal einen Atemzug in reinerer Luft tun zu können, weit, weit weg von Berlin. Etwa in London unter einem freien und stolzen und selbstbewußten Volk vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten zu stehen, das dort als nationales Heiligtum gilt.
Die Entstehung des neuen deutschen Staates aus bewußter Desertion vor dem Feinde, dieser unrühmlichste Geburtsakt, den man je in der Geschichte erlebt hat, wird einem nie so klar als bei solchem Vergleichen. Berlin hat es bis heute, in elf Jahren, noch nicht fertigbekommen, ein steinernes Mal zu errichten, das uns Achtung vor deutscher Männlichkeit lehrt.
Aber - Berlin hat neue Dachgärten, die gleich in dem ersten Sommer, dank dem berückend schönen Wetter dieses Jahres, einen großen Teil der Anlagekosten herauswirtschaften. Der auf dem Hotel Eden, jetzt noch vergrößert, war manchen Leuten noch zu fein, zu teuer. Wo bleibt der Tanzdachgarten für das Volk ? So wie Kempinski, alsbald Freß-Wertheim genannt, einst Austern und Artischocken und Kaviar und Schaumwein demokratisierte, so hat Traube jetzt im "Haus Gourmenia" am Zoologischen Garten, nur drei Minuten vom Eden Entfernt, das Dachgarten-Vergnügen, wie man zu sagen pflegt, für breitere Schichten des Volkes erschlossen.
Nun ja, es ist freilich nicht ganz so fein, man hat nicht die Aussicht auf das Baummeer des Tiergartens, sondern nur auf die Hardenbergstraße. Aber sonst ist alles da, auch das Patentschiebeglasdach, wie es zuerst im Gartenhof des Hotels Adlon zur Verwendung kam: ein Druck auf den Knopf, dann gleitet das Dach auseinander, und der blaue Himmel lacht herein. Hier wird man nicht durch verwunderte Hotelgäste gestört. Hier ist Berlin, Berlin von Halensee bis Lichtenberg, ganz unter sich. Hier kann man bequem nach Anschluß suchen, denn die junge Dame, vor der du dich verbeugst, denkt, du bist angestellter Eintänzer, nicht "Herr", und tust es nur um Lohn und Brot. Die Anknüpfung des Gespräches aber erleichtert die Kapelle, wenn sie nicht nur spielt, sondern auch singt:
"Liebling, wie ist dein Name, deine Adresse und dein Telephon ?"
Die Ausländer staunen. Eine junge Frau aus Chicago hat uns neulich besucht und ihrer Verwunderung über die Berliner Lebenslust Ausdruck gegeben. "Ja, wir arbeiten aber auch wie toll!" sage ich. "Glauben Sie etwa, wir in Amerika nicht ?" antwortet sie. Sie ist auch bei Wertheim in der Abteilung für feinere Konfektion gewesen, hat aber nichts gekauft. Ein Abendkleid, das hier 75 Dollar koste, bekomme man drüben für 40 Dollar. Woher habe man nur in Deutschland so viel Geld. "Hat man gar nicht!" erwidere ich. Die ganze Konfektion ist bankerott; das da bei Wertheim sind nur ein paar Lockartikel für die wenigen Luxuskäufer.
Gewiß, auch der Berliner wirft manchmal Geld hinaus. Aber nur, um seiner Sportfreude zu frönen. Irgendwie will man doch die Sehnsucht befriedigen, Heldentum zu erleben. Zum Boxkampf Charles-Diener gingen 35 000 Menschen ins Poststadion.
Leider auch ich. Zum Wettrasen der Wasserflugzeuge um den Schneiderpokal sind vor Cowes anderthalb Millionen Menschen erschienen; da sind unsere 35 000 bei dem Boxkampf um die Europameisterschaft doch nicht unbescheiden, nicht wahr ? Wer etwas sehen konnte, und nicht viele konnten das, der hat gesehen, wie der baumlange Belgier Charles, an den Diener kaum herankam, seinen linken Arm wie einen Schlagbaum ausstreckte. Diesen Schlagbaum beroch Diener und kriegte dann immer ein paar mit der Rechten. Das ist höchstwahrscheinlich sehr unfachmännisch gesprochen. Ich könnte ja auch von Uppercuts und Clinch erzählen, von Leberstößen und Herzmassage, bis endlich Diener zusammenkrachte, emportaumelte und wieder niedergeschlagen wurde. Ich weiß es zum Teil nur vom Hörensagen. Meist sah ich nur den Tschako eines Schutzmannes. Ich selber stand nicht, saß auch nicht auf einem Stuhl, sondern kauerte zwischen den Beinen eines Sitzenden. Der hatte diesen Platz nicht bezahlt, aber eben eingenommen, und "da stehste machtlos visavis". Tausende von Plätzen waren vertauscht, das ganze Unternehmen schlecht aufgezogen, kein Ordner wußte Bescheid. Für Berlin, abgesehen von dem gut eingearbeiteten Stadion im Grunewald, sind eben 35 000 Sensationsgierige noch zu viel.
"Wo ist der Platz für die Presse ?" frage ich.
"Se ham ja Platz für ihre Fresse!" antwortet einer.
Er sitzt auf einem Platz für 25 Mark, die er natürlich nicht bezahlt hat. Während eine riesige Wagenburg von Autos sich Schritt für Schritt vorschob, der Boxkampf schon begonnen hatte, war ein Tor von Zaungästen gestürmt worden.
Was wird dort im Ring verkündet ? Was ruft da der Schiedsrichter ? Ich verstehe nichts davon. Ich höre immer nur: "Eskimo-Eis! Belegte Brote! Warme Wiener!" Das ruft links von mir jemand, Und vor mir: "Bier gefällig ?" Und hinter mir: "Drops, Nußstangen, Keks, Schokolade!" Das sind sozusagen dienstliche, amtliche Zurufe, obwohl es allen diesen Magenhausierern verboten sein sollte, während der Vorführung den Mund aufzutun. Aber nichtamtlich, nichtdienstlich, wird noch viel mehr gebrüllt. "Feste, Diener, kleb' ihm eine!" kräht fortgesetzt eine junge Frau in meiner Nähe, und hunderte, nein, tausende kreischen nur den Namen von Diener oder Charles, während andere pfeifen, weil sie "wieder einmal" einen Genickschlag oder Nierenschlag, also Verbotenes, gesehen haben wollen.
Ein entgleister Viehzug ist nichts gegen dieses Gebrüll. Und das alles am Abend, bei mangelhafter Beleuchtung des riesigen freien Platzes, in dem nur der "Ring" in der Mitte kalkweiß aufleuchtet. Im Dunkeln ist nicht nur gut munkeln, sondern auch gut Radau machen. Das ist Feez, das ist Volksfest. Krankenträger kommen und bringen einen weg. Frauen sinken ohnmächtig zusammen. Männer streiten um die Chancen.
"Wat, Scharles ? Der Lulatsch ?"
"Denkste, Diener ? Der Ölkopp ?"
Es ist doch etwas Schönes um ein Volk, das von Begeisterung erhoben wird.
12. September 1929 (Donnerstag)
3
Hochsommerwetter - Die verträgliche Dame im Lunapark - Antikriegsausstellung - Diskussionsabend des sozialistischen Schülerbundes - "Hindenburg soll ins Zuchthaus" - Modeschauen - Das Dasein eines Vertreters.
Heute ist heut! Was kümmert es uns, daß es auf dem verdorrten Lande kaum mehr Viehfutter gibt, daß die Kartoffeln in diesem Jahre klein und teuer sein werden ? Heute ist heut! Bis in die zweite Hälfte des Septembers hinein hat der Großstädter hochsommerliches Wetter gehabt und es beseligt ausgenutzt. So etwas gibt es in unseren Breitengraden höchstens alle zehn Jahre einmal.
Berlin macht einen südländischen Eindruck, so sehr hat sich das Kaffeehaustreiben vor den Cafés auf der Straße entwickelt. Am Kurfürstendamm sieht man freilich auch diesmal Frauen, die sich künstlich gebräunt und dabei, wie immer, des Guten zu viel getan haben; sie haben die braune Schminke unterschiedslos überall verrieben, auch wo die echte Sonnenbestrahlung kaum hinkommt, so hinter die Ohren und in die Lidfalten, und werden gerade daran - als Nachtfalter erkannt. Die Masse der bürgerlichen Menschheit aber ist richtig sonnenbraun. Für die Ausflüglerlokale ist es eine goldene Ernte nach den vielen verregneten Jahren. Noch am vorigen Sonntag war auch der Lunapark in Berlin-Halensee so pfropfenvoll, daß man sich nur mit Mühe vorwärtsschieben konnte. Doch die vielen Tausende - oder waren es Zehntausende - ließen sich dadurch im Vergnügen nicht stören und waren verträglich. Ich war mit zwei jungen Mädels und einem Sohn von mir da, um den Sommerabschied noch unter richtigen Berlinern mitzunehmen, ließ die drei wasserrutschen, bergtalsausen, lukashauen, radioauteln, teufelsradrotieren und wartete derweil immer im Publikum. Eingekeilt, selbstverständlich; nur mit Mühe kriegt man mal einen Arm frei, um sich mit dem Taschentuch die Stirn abzutupfen. Ohne Gedränge kein Spaß, sagt sich der geduldige Berliner. Der Druck kommt von hinten. Ich werde nach vorne gegen die rückwärtigen Rundungen einer Dame gepreßt, die aber beileibe nicht zetert, sondern nur über die Schulter weg bemerkt:
"Drückense bloß keene Fensterscheibe ein, junger Mann; es klirrt schon."
Merkwürdig, daß diese selben verträglichen Berliner so tückisch und fanatisch werden können, wenn es um vaterländische Begriffe geht. Da ist ein großer Teil von ihnen durch die Revolution entwurzelt. Berlin ist ihnen noch Heimat, aber sie recken Luftwurzeln nach Moskau. Natürlich unter Zutun der verehrlichen Behörden. Namentlich im Machtbereich des demokratischen Kultusministers Becker ist das so. Die Aulen unserer Volksschulen und ebenso der höheren Schulen werden zu Agitationsstätten des wüstesten Kommunosozialismus. Im Südosten, in der Görlitzer Straße, hat die 21. Gemeindeschule - sie ist jetzt "weltlich", wird mir gesagt, also "gottlos", wie es im Volksmunde heißt - eine Antikriegsausstellung (bitte, sogar mit Bildern von Schülerhand!) veranstaltet, die ungefähr das gemeinste an Beschimpfung bringt, was jemals gegen das Offizierkorps nicht nur, sondern auch gegen den feldgrauen Soldaten zusammengeschmiert worden ist. Der Herr Rektor selber, dieser Seelenbildner und Volkserzieher, hat die Sache organisiert.
Und nun aus dem Südosten in den äußersten Westen, in die Aula der Fürstin-Bismarck-Schule in der Sybelstraße. Ich kenne diese Aula. Da habe ich während des Krieges, in Urlaubstagen, zweimal in Uniform auf dem Katheder gestanden und, zum Dank für reichliche Liebesgaben, die die Mädels meiner Truppe geschickt hatten, ihnen allerlei aus dem Felde erzählt. Hei, leuchteten ihnen die Augen! Gestern wieder an der gleichen Stelle: Diskussionsabend des sozialistischen Schülerbundes über das Thema "Schule und Krieg". Ein Abgeordneter der Gruppe revolutionärer Pazifisten hält den einleitenden Vortrag und versucht es den Buben und Mädchen begreiflich zu machen, daß man jeden Krieg, auch den nationalen Verteidigungskrieg, ablehnen und verhindern müsse, nötigenfalls - durch Entfesselung des Bürgerkrieges auf den Barrikaden. Nur die Sowjetrepublik dürfe Krieg führen, denn das sei kein nationaler, sondern ein proletarischer Verteidigungskrieg. O du grundgütige Logik! Aber es wird wie wild Beifall gebrüllt. Ich sehe mich um und ich sehe in fremde Gesichter. Die Mehrzahl - aber es gibt auch blonde Enakskinder unter den Erschienenen - scheint nicht in Deutschland, sondern in Hethiterland heimatberechtigt zu sein. Diese zum Teil schon blaurasierten Jüngelchen brauchen ein Volk ohne Ehre und ohne Vaterland als einzig mögliche Arena für ihr werdendes Talent. Ein zweiter Vortrag, in dem ein Primaner - mit kaltem Irrsinn in den Augen - gegen den heutigen angeblich immer noch "versteckt nationalen" Unterricht in Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Turnen eifert, ist zu trocken, um die Gemüter aufzupeitschen, die Diskussion am Schluß ist lang und ermüdend, aber dazwischen rezitiert ein fetter Kommunist Gedichte von so satanischem Haß und auch, das muß man zugeben, von so packender Satire, daß die ganze Aula lichterloh zu brennen scheint; die Buben und die Mädchen, Volksschüler, Gymnasiasten, Handelsschüler, sind wie besessen und rasen vor wilder Begeisterung. Es sind natürlich immer wieder dieselben, zum Teil in der Uniform des roten Jungsturms, und die Aula ist nicht ganz gefüllt. Sie könnte überfüllt sein. Denn nahezu jeder Berliner Schüler, und das sind doch viele Zehntausende, hat in diesen Tagen einen Zettel mit der Einladung zu der Versammlung in die Hand gedrückt bekommen. Wird alles mit Moskauer Rubeln bezahlt. Auch die Zeitschrift "Der Schulkampf", die in jeder Nummer Denunziationen gegen stets mit Namen genannte Lehrer bringt und die Schüler um weiteres Material bittet.
Armes betörtes Volk. Natürlich könnte ein einziger reinigender Luftzug die rote Benebelung zerstreuen, aber das versucht die gesamte heute regierende Kaste zu verhindern. Sie ist darin ganz einig, von der Roten Fahne Thälmanns bis zur Deutschen Allgemeinen Zeitung Stresemanns. Hört ihr es in den Lüften brausen ? Wird das deutsche Volksbegehren nicht die Köpfe klären ? Um Gotteswillen! Dann bräche ja am Ende die heutige Bureaukratie zusammen, und dem Parlamentarismus ginge es ans Leder! Schon ist zur Abwehr der Verleumdungsfeldzug fertig. Von Stresemann über Koch und Wirth und Breitscheid bis zu Thälmann kreischt alles: das Volksbegehren bedrohe "unseren" Hindenburg mit Zuchthaus!
Es gibt immer noch, auch unter den lieben Kleinbürgern von rechts, Leute, die etwas glauben, weil es gedruckt ist. Im Tageblatt, in der Voß, in der Morgenpost, in der Grünen Woche, in der Volkszeitung. Man ist hundertmal betrogen worden; aber man glaubt immer wieder. "Was, unser Hindenburg soll ins Zuchthaus!"
Das stünde im §4 des Volksbegehrens.
In Wahrheit steht darin, daß Minister und sonstige Bevollmächtigte des Reiches - also Delegierte in Genf, im Haag oder sonstwo - wegen Landesverrats bestraft werden sollen, wenn sie Verträge mit neuen Lasten für das deutsche Volk zeichnen. Hindenburg zeichnet nicht Verträge, sondern schließt sie ab; er ist Reichspräsident, nicht Minister oder bevollmächtigter Ministerialdirektor. Was sind denn das für Leute, die sich heute als Triarier Hindenburgs aufspielen ? Das sind dieselben, die in Weimar den Artikel 59 in die Reichsverfassung hineingebracht haben: "Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof anzuklagen." Das sind dieselben, die vor Hindenburgs Wahl die widerlichsten Zerrbilder und Hetzartikel gegen ihn verbreitet haben; sogar die deutsche Volkspartei zog, sobald Hindenburg aufgestellt wurde, ihren Abgeordneten Dr. Spiekernagel aus dem bürgerlichen Wahlausschuß zurück und verweigerte jeden Pfennig Beitrag für die Hindenburg-Agitation.
Und es waren Männer der Rechten, die Hindenburg 1919 vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuß schleppten oder waren es nicht vielmehr die Gothein, Levi, Sinzheimer und Genossen ?
Vor zwei Jahren hielt Hindenburg seine Tannenbergrede gegen den Kriegsschuldparagraphen. Sie erregte ungeheures Aufsehen, sie schien der Anfang zu einer Schicksalswende für uns werden zu können, wurde aber von Stresemann und Marx politisch abgewürgt. Noch am 24. Juni dieses Jahres erklärte Stresemann, ohne sich vor "unserem" Hindenburg zu schämen, öffentlich im Reichstage, wir machten uns zu Narren, wenn wir Kriegsschuldlüge und Tributlast miteinander verkoppelten. Das sind heute die angeblichen Verteidiger Hindenburgs.
Und von den Millionen Deutscher, die das Werk Hindenburgs von Tannenberg im Volksbegehren fortführen wollen, heißt es, sie bedrohten den Reichspräsidenten mit Zuchthaus! Die Wahrheit ist ja doch im Gegenteil nur die, daß diese Deutschen sich vor Hindenburg gegen Stresemann stellen. Und daß sie dem Despotismus des Reichstages Halt gebieten wollen. Und daß sie endlich einmal das erste deutsche "Nein!" sagen wollen, auf das die Welt wartet. Wer sich immer alles gefallen läßt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn ihm immer neue Lasten aufgepackt werden und wenn er noch Fußtritte dazu bekommt.
In Berlin WW hat man für diese Dinge allerdings wenig Interesse. Da geht Gesellschaft vor Politik. Da geht Amusement vor Vaterland.
Das ist die Gegend des "haben Sie schon gehört, daß". Man trifft einander doch immer wieder, und wenn es im blöden Theater der Wiener Komiker wäre, einem Vorstadtunternehmen mäßigster Sorte, und da fragt man eben doch. Haben Sie gehört, daß Krojanker durchgebrannt ist, mit Millionen natürlich ? Haben Sie gehört, daß Barmat nach dem Straferlaß nun wieder zurückkommt, mit Millionen natürlich ? Und vor allem: haben Sie gehört, daß das Vollschlanke nur Bluff war und daß man erneut auf Knabenhüften und Konfirmandinbusen trainieren muß ? Zu der viertägigen Modenschau in Krolls Festsälen sind 5000 Eintrittskarten immer schon tags zuvor verkauft. Nicht nur alle Modehäuser, sondern auch Cafés und Restaurants veranstalten jetzt solche Vorführungen. Sie sind bisweilen wirklich lehrreich. Allen Prophezeiungen zum Trotz setzt das für den Abend geschaffene lange Kleid sich für den Tagesgebrauch nicht durch; da trägt man es nach wie vor kurz, nur nicht so kniefrei, wie es die Ladenmädchen heute noch aus der billigen Konfektion beziehen. Kein neues diesjähriges Kleid aus gutem Hause läßt den unerfreulicheren Teil des Damenbeins mehr sehen; knieaufwärts sind die Venusse nun doch mal in der Minderheit.
Aber daß, mit dieser Beschränkung, die Kleider kurz bleiben, ist gut, und daß sie vielfach zipfelig noch länger hängen, ist erst recht nicht übel, denn das macht sie anmutig. Was ist Anmut ? Schönheit in der Bewegung! Und wenn in der Bewegung die Gewänder wogen und flattern, erhält die Trägerin selbst etwas Beschwingtes, wird sie von der Erdenschwere befreit, sieht man auch über Massiveres leichter hinweg.
Berlin ist und bleibt auch heute noch in der kargen Zeit (vor zwanzig Jahren war es trotz unserer Wohlhabenheit anders) die Stadt der gut angezogenen Frauen. Nur hin und wieder bricht irgendeine Afferei über uns herein, nimmt reißend zu und wird nicht gleich als Ungeschmack der Vielzuvielen erkannt; was der Einzelnen in einzelnen Situationen stehen mag, macht sich bei den Vielzuvielen, die es bei jeder Gelegenheit zeigen, meist häßlich. So war es bei der Baskenmütze mit Stengelchen. So war es bei dem von Untrainierten getragenen sogenannten Trainingsanzug. So ist es heute noch bei den Röllchensocken an sonst strumpflosem Bein.
Der seidene Damenstrumpf, wenigstens der kunstseidene, ist schon längst bis in Küche und Portierstube und Werkstatt gedrungen, aber das Geld dazu wird heute knapp. Die Dinger halten ja nicht. Und der Kampf ums Dasein wird härter und härter. Da habe ich einem armen Teufel, der sich als "Vertreter" versuchte, auf die Beine helfen wollen. Er war nach vielen mißglückten Versuchen darauf verfallen, mit einem Kartoffelschälapparat hausieren zu gehen, der für einen großen Haushalt, für Gastwirtschaften, Pensionen, Privatmittagstische sehr empfehlenswert ist, weil er schnell und sparsam arbeitet. Aber der Mann bekam vom Fabrikanten nur illustrierte Prospekte ausgehändigt, nicht die "Schälhexe" selbst, die 24 Mark kostet. "Wissen Sie was,", sagte ich ihm nun, "ich kaufe eine für uns und leihe sie Ihnen dann für ein paar Wochen, bis Sie selber ein Musterexemplar bezahlen können." Gesagt, getan. Jetzt läuft der arme Kerl schon zwei Wochen mit dem Apparat herum, schält täglich "zur Vorführung" bis zu eineinhalb Zentner Kartoffeln, und ich bezahle die nStraßenbahnfahrten für ihn und gebe ihm zu essen; denn er hat noch nicht einen einzigen abgesetzt. Er solle wiederkommen und noch mal schälen, wenn der Chef da sei. Oder wenn die Frau da sei. Oder nach dem Monatsersten. Außerdem wolle man warten, bis der Apparat billiger sei. Oder ihn auf Kredit nehmen, auf Abzahlung. Sei man denn Millionär ? In einem Pensionat ließ man den Vertreter stundenlang schälen. Die Inhaberin war sehr erfreut. Die Tischgäste bekamen nämlich an diesem Tage Kartoffelpuffer.
Der Mensch ist schon fast entmutigt. Er hat es nicht gewußt, wie arm wir alle gegen früher geworden sind. Mit noch einem anderen "Vertreter" habe ich jetzt zu tun. Er hatte früher einen Zigarrenladen in unserer Straße, lange Jahre hindurch. Steuern und Miete und allzu bescheidene Kundschaft brachten ihn um. Dann war er, wieder lange Jahre hindurch, Angestellter in einem Ladengeschäft einer Zigarrenfabrik. Dort hat man ihn im Frühling entlassen, um eine billigere junge Arbeitskraft einzustellen. Nun hausiert er als Vertreter mit Zigarren und gehört zu den hinausgeworfensten Menschen der Großstadt. Er sagt nicht mehr, daß die Erfüllungspolitik das richtige sei.
19. September 1929 (Donnerstag)
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