"Rumpelstilzchen"

Ja, hätt'ste . . .
(Jahrgangsband 1928/29)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1929

Glossen 10 - 12
15. bis 29. November 1928


10

Dichter beim Dichten - Tiroler Klause - Prinzgemahl Heinrich der Niederlande - Das Rittberg-Haus - Lola-Kreutzberg-Filme - Wie man Ehrendoktor wird.

Schon immer hätte ich gar zu gern gesehen, wie einer dichtet.

Ich selber habe ja gar keine Phantasie, nur scharfe Beobachtungsgabe, ich kann also etwas beschreiben, aber nicht von innen heraus etwas ausdenken. Daß Dichter mit einem Kranz in den Locken und der Leier in den Händen durch die Fluren schweifen, das habe ich nur in den Fliegenden Blättern gesehen. Bei dem niederrheinischen Romanschriftsteller Josef v.Lauff war ich einmal, da hatte er aber leider, in seiner Villa in Wiesbaden, außer mir noch andere Gäste bei Tisch, die nicht wie ich das brennende Verlangen hatte, daß er uns etwas vordichte. Nur eine seiner Töchter zeigte mir nachher seinen Schreibtisch, auf dem der Plan eines Phantasiestädtchens mit Straßen, Plätzen, Toren, Wiesen, Wald, Acker und nächstem Dorf sauber gezeichnet dalag. Lauff war nicht umsonst Offizier gewesen. "Mein Vater legt den Schauplatz seiner Romane zuerst immer topographisch fest. Daher passiert es ihm nie, daß er einmal die Morgensonne, einmal die Abendsonne zum selben Fenster hereinscheinen läßt. Oder daß er zu einem eiligen Gang irgend einer Person seines Romans eine halbe Stunde Wegs braucht, wo es in zehn Minuten zu schaffen ist. Und beim steten Ansehen des Planes lebt er sich förmlich ein in die Stadt und sieht im Geiste die Bewohner da herumgehen." Nein, ganz so hatte ich mir das Dichten doch nicht vorgestellt. Später einmal habe ich Rudolf Presber dichten hören. Er diktierte ein Stück vergnügliche Prosa herunter, ein paar Verschen purzelten hinterdrein, dazwischen machte er seiner Sekretärin eine artige Bemerkung und erzählte mir eine kleine Bosheit, kurz und gut, ich hatte den Eindruck, daß irgendwo ein Quell lebendig und unaufhaltsam sprudele; dann kam "Diogenes" als Unterschrift darunter, und als wir das Ganze am nächsten Sonntag in der Zeitung lasen, da lachten wir Tränen. Und nun meine dritte Dichter-Begegnung. Neulich sehe ich einen sehr feinen, sehr geistigen Kopf mit klugen Augen, die in die Ferne sinnen, während die linke Hand leise und regelmäßig das Kinn streicht, die rechte gelegentlich ein paar Zeilen aufs Papier wirft; vor dem Manne, es ist der Dr. Carl Bulcke aus Königsberg, der einmal preußischer Staatsanwalt war, perlt die Flasche Rotwein, ob ihm hängen ein paar alte Bilder, rundherum aber sitzen an Schenktischen fröhliche Zecher, denn - es ist ein öffentliches Lokal in der Kantstraße, Ecke Bleibtreustraße, in dem wir uns befinden, und an dieser Stelle, in dem ganzen Geschwirr, entsteht Bulckes neuer Roman, den wir im nächsten Jahr bekommen werden, und gerade schreibt der Dichter allerlei Köstliches über die altgriechische, nach Afrika verschlagene Figur eines Epheben nieder, die da eine Rolle spielt. Da bin ich aber wirklich baff; ich habe nie geglaubt, daß man unter solchen Umständen dichten könne. Ich habe nie gewußt, daß die Muse sich in eine überfüllte Weinstube wagt, wo sie doch sonst angeblich nur im Dachkämmerlein oder im heiligen Haine sich wohlfühlt.

Es ist aber auch eine ganz eigenartige Weinstube, diese Tiroler Klause in der Kantstraße; wenn ich Anlage dazu hätte, würde auch ich hier vielleicht das Dichten kriegen. Besonders im "Herrgottswinkel", links an dem einen Stammtisch. Uralte Handwerkszeichen, geschmiedete Wirtshausschilder, gedunkelte Marterln an der getäfelten Wand, daneben ein Original-Defregger und andere Bilder, von bekannten Malern gestiftet, die auch das Gästebuch mit Schönheit und Karikatur, mit Ernst und Ulk gefüllt haben. Darunter Fritz Koch-Gotha unter einem Zecherbild mit der Eintragung: "Jloobt man nich, Kinner, det ick vajniecht bin, ick bin bloß besoffen!" Einen Kurfürstendammer sieht man hier kaum je, nur gutes deutsches Publikum, denn den Kurfürstendammern ist hier nicht wohl, wo die Flasche roter Traminer nur 2 Mark kostet. Aber die Charlottenburger Landgerichtsdirektoren haben hier ihren Tisch, ferner die Alten Herren verschiedener Korps, und dann die Vereinigung "Silberner Löwe", nämlich die Herren des ehemaligen Großen Hauptquartiers, soweit sie in Berlin ansässig sind. Maler und Bildhauer wie Arnold, Kampf, Klimsch, Doepler d.J., Günther-Naumburg, Schuster-Woldan, Zille, Harburger, Eichhorst, Darsteller wie Florath, Laubinger, v.Winterstein, Klöpfer haben hier oft genug gegessen und getrunken, Dichter und Schriftsteller mitsamt Zivilmuse sind hier täglicher Gast. Der Inhaber des Lokals, Boese, der übrigens auch in der Nähe von Würzburg begütert ist und die größte Auswahl von Frankenweinen führt, ist ein Urberliner aus alter Familie, von Beruf ursprünglich Seidenhändler, besitzt aber schon seit 20 Jahren diese Weinstube, die neben der von Lutter und Wegener, die seit E.Th.A. Hoffmann schon historisch ist, bald historisch sein wird; eine Weinstube ohne Jazzband, ohne Tanz, ohne Konferenzier, aber mit Urväter Hausrat und gutbürgerlich-geistiger Gesellschaft, in der immer wieder der eine oder andere berühmte Kopf auftaucht, den wir schließlich im Konversationslexikon wiederfinden.

Die Leute, die hier verkehren, sind dem Berliner "Betrieb" entrückt, sehnen sich auch gar nicht nach ihm. Sie träumen vielleicht ihrem vorigen Tiroler Aufenthalt nach. Oder denken sich in patrizisch-berlinische Zeiten und in alte Ratsstuben zurück. Auch manche wackere Gattin, die, ganz heimlich sei es zugestanden, vielleicht lieber auf einen Ball ginge, aber das neue Abendkleid eben nicht hat, tut hier ihrem Mann Bescheid. Bälle gibt es allemal noch genug, die "Wohltätigkeit" reißt nicht ab. Auch der erste holländishe Abend, wieder mit dem Prinzgemahl Heinrich der Niederlande dabei, ist vorübergerauscht und hat ein schönes Erträgnis gebracht. Das sind um diese Zeit immer die Wochen, wo der Prinz Urlaub nimmt, um seine mecklenburgische Heimat und auch Berlin wiederzusehen, und, wie das Mädchen aus der Fremde, zu schenken und zu spenden. Auf einer kleinen Privatgesellschaft bei einem Berliner Universitätsprofessor, wo es ein exquisites Diner und fesselnde Charakterköpfe gab, habe ich ihn diesmal wieder gesehen. Drüben in seiner Residenz, im Haag, ist es eigentlich die verkehrte Welt. Seine Frau, die Königin Wilhelmine, plagt sich mit Männergeschäften, mit Ministerkonferenzen, Militärparaden, Etatfragen. Dafür spielt er, der Prinzgemahl, die Rolle - der Landesmutter. Rotes Kreuz, Krüppelfürsorge, Armenhaus, Säuglingsheim, was weiß ich. Und - das liegt ihm erstaunlicherweise, denn er hat ein grundgütiges Herz und ist besonders glücklich darüber, daß er alljährlich ein paar Waggons voll Lebensmittel und Kleider auch zur Verteilung an verschämte Arme in Deutschland bringen kann. Die holländische Hilfsaktion für uns, im Kriege begonnen, hat daher nie aufgehört. Nur soll bares Geld nicht aus dem Lande, sagen mit Recht die Mynheeren, und daher kauft der Prinz im Lande ein und schickt das herüber; und diese Arbeit ist so gewachsen, daß im Haag ein richtiges kleines Bureau ständig dafür eingerichtet ist.

In sehr wenigen Ausnahmefällen, aber nicht an Einzelpersonen, kann der Prinz auch mal Geldspenden machen. Ich weiß von einem Fall: er ist "Pate" eines Krankenzimmers der Kinderstation des Rittberg-Hauses in Berlin-Lichterfelde geworden. Die Oberin des Hauses, v.Keudell,, eine Base des Abgeordneten, war mit ein paar Schwestern vor zwei Jahren zum Holländer-Ball gebeten worden. Die Damen kamen sich da natürlich etwas deplaziert vor. Aber sie konnten dem Prinzen ihre Nöte erzählen. Ein vom Fiskus nie gebrauchtes Gebäude auf dem Gelände der ehemaligen Hauptkadettenanstalt hatte bislang mietweise als Kinderstation gedient, war aber nun gekündigt worden. Man mußte Hals über Kopf mit Hilfe einer großen Hypothek auf dem eigenen Grundstück, wo sich das vor 53 Jahren von der Gräfin Rittberg gegründete Hauptkrankenhaus befindet, einen Neubau errichten, die Inneneinrichtung aber erbetteln. Und da gab auch Prinz Heinrich, dessen Patennamen jetzt über einer Tür dort steht. Private und Kommunen sind Paten. Nicht jeder gibt dabei einmal den Namen her. So steht über einer Tür: "Pate Niel Heyde," Beides ist aber nur Bruchstück aus dem richtigen ganzen Vor- und Zunamen. Das große Haus mit seinen 115 Kinderbettchen sieht eigentlich wie eine Vitrine aus: rundherum nur Fenster und innen lauter gläserne Wände. Nur in den Wirtschaftsräumen zu ebener Erde, unter anderem der Wäscherei, wo wöchentlich 10 000 Windeln gesäubert und desinfiziert werden, sieht man sich innerhalb starker Mauern. An "seinen" Bettchen hier hat Prinz Heinrich dieser Tage wieder einmal in herzlicher Freude gestanden und gesehen, wie behaglich die kranken oder operierten Kleinen, darunter die Mehrzahl Säuglinge und sogar Frühgeburten, sich fühlen. Auf der Gesellschaft bei dem Universitätsprofessor hatte ich davon erzählen hören und fuhr tags darauf hin und sah und staunte auch, denn das ist das Modernste vom Modernen, atmet förmlich von Sauberkeit und Genesung, und ist dabei doch mit der Hauptanstalt und dem Schwesternhaus und den Nebengebäuden nicht staatlich und nicht kommunal, bekommt auch keine öffenlichen Zuschüsse, sondern ist ganz und gar nur auf der Mildtätigkeit und Gutherzigkeit Privater aufgebaut. Solch ein Haus zu regieren und zu erhalten, zu pflegen und auszubauen ist nicht leicht. Ist es doch, abgesehen von den Ärzten, ein Frauenstaat. Das geht nicht ohne Disziplin, geht nicht mit Güte allein, so nötig sie auch sein mag. Es ist darum auch kein Wunder, daß die Oberin v.Keudell heißt, daß auch in anderen Krankenhäusern oft adelige Damen an der Spitze stehen. Man läuft nicht etwa dem Namen nach. Aber daß die Jungen gehorchen und die Alten befehlen müssen, das lernt man eben am besten vielleicht auch heute noch in Herrenhäusern auf dem Lande.

Energische und tatkräftige Frauen, wenn sie darob nicht gerade männisch werden und das Frauliche verkümmern lassen, sehe ich gerne. Schon vor fünf Jahren erzählte ich von meinem Zusammentreffen mit Lola Kreutzberg auf Helgoland; dort filmte sie gerade die Seetierchen im Aquarium. Jetzt hat sie ihre eigene Lola-Kreutzberg-Gesellschaft, die Kultur- und Spielfilme herausbringt, aus denen allen die große Liebe der Verfasserin zu den Tieren und zu den Tropen spricht. "Bali, das Wunderland" war der erste. Jetzt ist "Der Ring der Bajadere" als Première herausgekommen. Im Winter folgt "Nuri, der Elefant". Lola Kreutzberg, eine königliche Erscheinung, eine Germania-Figur, der man es wohl zutraut, daß sie allein mit ihrem Hund und ihrem Wagen in die "eingeborensten" Gegenden Australasiens vordringt, ist Deutschösterreicherin von Geburt und hat schon als kleines Kind auf dem böhmischen Gute ihrer Eltern die Tiere jeglicher Art liebgewonnen, die ihr willig folgten. Dann hat sie in ganz Europa, in Indien, in Amerika ihrer Arbeit gelebt und sich durchgerungen, ist aber nicht zum Mannweib geworden; augenblicklich befindet sie sich, was man wohl verraten darf, im letzten Stadium der Verlobtheit. Der Mann kriegt mal eine famose Kameradin! Sie selbst hat mir das freilich nicht verraten. Ich ließ mir nur von ihr erzählen, wie sie die fabelhaften Fakir-Tricks herausgebracht hat, die in Wirklichkeit Jahrmarktsschwindel oder gar nur Sage sind, das Wachsen eines Mangobaumes aus eben erst in den Topf gesenktem Kern oder das Emporklettern des Fakirs an einem in die Luft geworfenen und dort erstarrenden Seil, was in dem "Ring der Bajadere" wie ein wirkliches Wunder wirkt. Sieht man den Film, so ist man gebannt; die ganze Zauberwelt Indiens tut sich auf. Aber unsereins ahnt ja nicht, wieviel Willensstärke dazu gehört, so etwas zu schaffen, bei 45 bis 50 Grad Hitze im Schatten täglich von 9 bis 6 Uhr, auch in den heißesten Mittagsstunden, unter der indischen Sonne zu arbeiten. Und mit den landesüblichen Schwierigkeiten zu kämpfen: daß die kleine Inderin Usha Baly die Liebesszene mit dem Europäer zwar mit äußerst lebendigem Augenspiel gibt, aber um keinen Preis der Welt sich küssen läßt. Oder daß einmal 20 000 Meter Positiv-Film, fix und fertig, in Brand gerät und vernichtet wird, der Hauptdarsteller Stoll - ein in England geborener Reichsdeutscher, der als Offizier bei uns den Krieg mitgemacht hat, trotz schweren Knieschusses heute eine Sportgröße ist - nachher wochenlang mit Brandwunden im Hospital in Bombay liegen muß. Oder daß eines Tages, während die kleine Expedition mitten in Indien im Gästehaus eines Maharadscha abgestiegen ist, ihr die Koffer mit den notwendigen Requisiten, den Papieren, dem Bargeld gestohlen werden und sie , an die tausend Meilen von der Heimat entfernt, plötzlich vor das Nichts gestellt ist.

Wenn ich zu den "Maßgebenden" im Staate gehörte: ich hätte längst eine besondere Ehrung solcher Frauen, wie Lola Kreutzberg eine ist, angeregt. Sie setzt sich freilich nicht mit Puderdöschen und Lippenstift in ein Flugzeug, um nach Amerika zu fliegen und im Ozean zu ertrinken. Sie hat das, was Treitschke als preußische Eigenschaft rühmt, - die besondere Verwegenheit. Von mir aus könnte sie Ehrendoktor werden, mit der Begründung, daß sie den großen Massen bei uns fremdes Volkstum und Tierleben so wundervoll erschließt. In vielen anderen Fällen fragt man ja heute nach gar keiner Begründung mehr. Namentlich die neudeutschen Republikaner schelten zwar das alte System, wollen aber seine Titel haben. In der Inflationszeit, wo die Wissenschaft Geld brauchte, hat eine süddeutsche Universität einem solchen "Maecen" den Ehrendoktor sogar auf Ratenzahlung abgegeben. Ganz umsonst kriegen ihn emporgekommene Politiker, auch wenn sie zur Gelehrsamkeit gar keine Beziehungen haben, als Gewerkschaftssekretär Minister geworden sind. Der Landwirtschaftsminister Steiger in Preußen hatte den Ehrendoktor noch nicht, obwohl Leute mit weit weniger Schulbildung als er ihn schon führten. Da bekam die Landwirtschaftliche Hochschule Berlin einen entsprechenden Wink. Die nötige Einstimmigkeit der Fakultät ließ sich aber nicht erzielen. Ein Professor, der dagegen gesprochen hatte, kriegte vom Staat seine Entlassung. Jetzt hat die Landwirtschaftliche Akademie Bonn-Poppelsdorf Herrn Steiger zum Ehrendoktor promoviert.
15. November 1928 (Donnerstag)


11

Unser Erntefest - Der Tag ohne Musik - Zweierlei Reklameprinzen - Hermann Sudermann - Der freundliche Schutzmann.

"Dieser ewige Regen, dieses gräßliche Wetter immerzu!" sagen wieder einmal die Leute. Sie sind doch arg vergeßlich. Wir haben einen sehr sonnenreichen Sommer hinter uns und einen so wunderlich warmen und trockenen Herbst, wie er in unseren Breitengraden eine Seltenheit ist. Noch in den ersten Novembertagen konnten die Berliner ihren Nachmittagskaffee im Freien trinken. In den kleinen Vorbauten einzelner Kaffeehäuser auf dem Bürgersteig oder daheim auf dem Balkon der eigenen Mietswohnung. Auf dem unserigen, wo aus drei Kästen sich Feuerbohnen am Gitter emporranken, hatten wir im Mai 130 Bohnen gesteckt und haben nun Mitte November 166 Bohnen geerntet; eine so reiche Ernte hatte ich noch nie. Ich meine natürlich Bohnen, nicht Schoten. Ranken gab es im ganzen 51, also 79 Bohnen sind nicht aufgegangen. Immerhin, für einen Loggia-Agrarier mit seinen paar Eimerchen Erde ohne Düngung - wenn man meine Zigarrenasche nicht rechnet - ist das, wo man doch bisher gewohnt war, alljährlich Aussaat zukaufen zu müssen, so überraschend viel, daß wir ein richtiges Erntedankfest gefeiert haben. Am Abend forderte ich, ländlicher Sitte gemäß, meine Großmagd zum Tanze auf; das ist in diesem Falle meine Frau, die im Mai immer mit dem Zeigefinger die Bohnenlöcher in die Kastenerde macht. Dazu tranken wir Köhlwasser. So nennen wir die bekömmliche Mischung, die wir zuerst in jener Nacht ausprobiert haben, in der Köhl und Hünefeld den Flug nach Amerika geschaftt hatten; ein Glas des guten chilenischen Rotweins, des Cap Coronel Cabernet, mit etwas deutschem Sekt gespritzt. Die halbe Flasche Henckell trocken hatte mein Schwager gestiftet, der auch einen Ehrentanz absolvierte. Es war ein durchaus gelungenes Fest. Wir hatten auch noch ein paar Salzmandeln dazu, von irgendeiner Gesellschaft her übriggeblieben, in der Anrichte gefunden. Wir freuten uns wie schulschwänzende Quartaner, denn am gleichen Abend fand irgendein Wohltätigkeitsball statt, für den wir eigentlich verpflichtet waren. "Charity begins at home", sagen mit Recht die Engländer.

Sonst ist es natürlich richtig, daß die Berliner Hausfrau vielfach eine Ausfrau ist. "Sie geben sich und ihren Putz zum Besten", wußte schon Goethe von den Damen seiner Residenzstadt zu vermelden, nur daß dies damals im Theater und in privater Gesellschaft geschah, nicht nachmittags auf der Tanzdiele oder in der Konditorei. Man will doch Musik hören. Der Großstadtlärm ist so dissonanzenreich, daß man für etwas Melodiöses - und schließlich findet man etwas davon selbst bei unseren Jazzkapellen - dankbar ist. Mit einem Schlage still und musikarm ist Berlin nur am Bußtage. Wenn man da lustige Weisen hören will, muß man schon - zum Jahresgottesdienst der Heilsarmee gehen. Aber in den Kaffeehäusern ist es stumm. Die Tanzpaläste liegen im Dunkel. In den sonst ständig überfüllten Kempinski-Betrieben im Haus Vaterland wird mangels Musik und Betriebes ein Eintrittsgeld von nur einer halben statt einer Mark verlangt, aber diese Verbilligung lockt nur wenige; es ist frostig einsam. Auf den Straßen ist der Verkehr eingeschlafen, nur hie und da verdrückt sich scheu ein Auto. Aber vormittags hat es eine Völkerwanderung zu den Kirchen gegeben, wenigstens zu den evangelischen; die Katholiken machen den von einem frommen protestantischen Preußenkönig angeordneten Volksbußtag, aus altem Widerspruch gegen staatliche Bevormundung, nicht mit. Zu innerer Einkehr ist für uns als Volksganzes der November dabei sehr geeignet, aus mehr als einem Grunde. Und für alle Stände, nicht nur für diejenigen, die "daran schuld sind", wie jedermann von dem anderen sagt; denn in Wirklichkeit sind wir alle schuld. So ist denn an diesem einen Tage der behördliche Zwang, einmal sich auf sich selbst zu besinnen, ein gutes Herkommen, so sehr ich auch sonst gegen alle Eingriffe der Obrigkeit in harmlose Vergnügungen bin. Eine Menschenklasse aber atmet an diesem Tage auf, eine Klasse, die sonst kaum einen Sonntag, einen Feiertag hat: die gewerbsmäßigen Musiker in den Kaffeehäusern. Sie sind täglich, mit einer kurzen Pause, vom frühen Nachmittag bis um 3 Uhr nachts tätig, sie lächeln, sie wackeln mit dem Kopf, sie zucken mit den Füßen, sie mimen Lust, sie dürfen keine Leichenbittermiene zeigen, und dabei sind sie doch so müde, so müde. Bei den Berliner Entfernungen müssen sie sich von Hause oft schon gleich nach dem Mittagessen aufmachen und kommen dann erst gegen 5 Uhr morgens zum Schlafen, und das tagaus tagein, ohne Sonntag, ohne Feiertag. Nun gehören sie einmal - einmal - den ganzen Nachmittag und Abend der Familie. Ich will ehrlich sein: nicht einmal, sondern dreimal; nämlich auch am Totensonntag und am Karfreitag. Wer unter ihnen Vater ist, der nimmt da die Kinder an die Hand und geht mit ihnen spazieren. Sie zeigen ihm Berlin. Ihm ist so vieles neu. "Nanu mach' aber 'n Punkt!", sagt ungläubig der kleine Fritz, wenn er wieder auf eine schier unglaublich "weltfremde" Bemerkung des Vaters stößt.

Daß in Buße oder in Frohlocken irgendeine gemeinsame Feier der Nation zustandekäme, ist in dem nachnovemberlichen Deutschland ausgeschlossen. Wir starren uns in gespaltenen Heerlagern an. So sind auch die Versuche, im Frühsommer eine Berliner "Season" mit allerlei Volksfesten hervorzuzaubern, zum Scheitern verurteilt. Bestenfalls kommt eine Festspielwoche für zahlende Fremde heraus. "Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall." So einen Tag, wie die Franzosen am 14. Juli, wo in einheitlichem Jubel das ganze Volk im Freien zusammen tanzt, nachdem es vormittags an Truppenparaden sich begeistert hat, haben wir nicht. Die Rechte feiert dies, die Linke feiert das. Von den nationalen Kundgebungen des Stahlhelms, an dem sich die jüngeren Hohenzollern, nicht vor der Front, sondern schlicht als Kamerad in Reih und Glied, zu beteiligen pflegen, schrieb Stresemann an diesem 9. November: "Reklameprinzen werden an der Geistlosigkeit fortwährend wiederholter äußerlicher Paradestellung nichts zu ändern vermögen." Die Söhne aus dem Hause Stresemann haben freilich Besseres zu tun. Am 4. November hat der junge Herr Wolfgang Amadeus Stresemann mit Schnitzler, Schwarz, Margot Einstein und anderen im Renaissancetheater zu Gunsten der "Jüdischen Altershilfe Groß-Berlin" konzertiert. Up ewig ungedeelt. Ich meine natürlich: die Wohltätigkeit für alte Künstler und das Haus Stresemann. Darin steckt sicherlich mehr Geist als in dem deutschen Wehrgedanken.

Einer hat für diesen Geist, den Geist des Berliner alten Tiergartenfreisinns, sein Lebtag gearbeitet, und findet nun doch, wo er 70 Jahre alt gestorben ist, nur frostige Nachrufe in Berlin W: der alte "Sturmgeselle" Hermann Sudermann, der Dichter, dessen Roman "Es war" ich einst um des ostpreußischen Erdgeruchs willen mit bebenden Nüstern eingesogen habe, dessen "Katzensteg" vor jungen Mädchen ängstlich verborgen wurde (heute lesen die jungen Mädchen noch ganz andere Bücher) und dessen viele, ungemein bühnenwirksame Dramen von der "Ehre" und "Heimat" an auf deutschen Theatern doppelt so häufig gegeben wurden als die Stücke Gerhart Hauptmanns. Einmal stand ich in einem kleinen Häuflein Begeisterter - für Eleonora Duse Begeisterter - neben Sudermann vor der einzigen Darstellerin, die gerade als Magda in Sudermanns Künstlerinnen-Reißer ("La casa paterna" auf italienisch) aufgetreten war, demselben Stück, mit dem auch Sarah Bernard auf französisch reiste. Sudermann hat sich also über Ostpreußen und Berlin W hinweg auch in der Welt draußen durchgesetzt und auf seine Art zur Achtung vor deutschem Intellekt beigetragen, aber sich schon früh gegen schmähsüchtige Kritiker aus dem Berlin W-Lager wehren müssen, die ihn nicht gelten ließen, weil er als Deutscher kein Formzertrümmerer war. Vielleicht ist er sogar zu sehr in der Form geblieben, zu wenig Seele gewesen, aber es war immer eine sehr elegante Form. Sein "Bilderbuch meiner Jugend", das ich noch heute manchmal gerne vornehme, ist eine der frischesten und lesenswertesten literarischen Autobiographien, die ich überhaupt kenne. Als bitterlich armer, halb verhungerter, mit achtundvierziger Ideen vollgestopfter, gegen die "Junker" wütend voreingenommener Apothekerlehrling ist Hermann Sudermann einst aus dem Memellande nach Berlin gekommen und hat hier seine schriftstellerische Laufbahn - mit einem parlamentarischen Stimmungsbild aus dem Herrenhause für das "Berliner Tageblatt" begonnen. Von da ab wurde er. Bald wurde er in den Berliner Salons (damals sagte man nicht Kurfürstendamm, sondern Tiergarten) weitergereicht, und als er sich gar seinen berühmten langen Vollbart - wie Ohnets Hüttenbesitzer oder wie der typische "schöne" Frauenarzt um 1890 - hatte wachsen lassen, lagen ihm die Tiergarten-Berlinerinnen zu Füßen und zu Häupten. Er war kein Kostverächter. Noch in seinem letzten Roman, dem Professorenroman mit Anklängen an eigene Erlebnisse, den er als Achtundsechzigjähriger geschrieben hat, geht es sehr fleischlich zu. Bis in die Jahre vor dem Kriege hinein konnte man Sudermann, zuletzt aber ohne Vollbart, weil der "altmodisch machte", auf so gut wie jeder Berliner offiziellen Gesellschaft sehen und als begehrtes Mitglied in allen möglichen Komitees. Dann wurde es stiller um ihn. Der Tiergarten hat ihn großgezogen, der Kurfürstendamm warf ihn zum Kehricht. Diesen Leuten war der Mann, trotz seiner "unleugbaren Verdienste" um die Demokratie, denn doch noch zu ehrlich-deutsch. Für den Almanach des ersten Presseballs nach Krieg und Revolution dichtete er sein erschütterndes: "Wir tanzen auf Gräbern!" Und in seiner 1922 erschienenen Jugendbiographie hatte er nicht nur bekannt: "Wie sehr ich Bismarck als Verderber des deutschen Bürgerstolzes auch haßte - unter der Wucht seiner Erscheinung brach ich ja doch in die Knie", hatte er den großen Kanzler nicht nur als den einzigen Menschen unter lauter Puppen, unter lauter Pygmäen bezeichnet, "in dem Übergewicht seiner äußeren Erscheinung und seines inneren Gefüges so stark, daß kein anderes Gefühl als das der menschlichen Unterwerfung in mir aufkommen konnte", sondern sogar den Satz verbrochen, den ihm der Tiergartenfreisinn nie verzeihen konnte: "Die bürgerliche Demokratie, mochte sie sich zeitweise noch so ungebärdig benehmen, ist niemals die legitime Erbin des Revolutionsgedankens gewesen, der im Jahre 48 den Staat zeitgemäß ausbauen und ein Deutschland schaffen wollte, das friedlich und machtvoll einen dauernden Platz im Rate der Völker eingenommen hätte, während es heute, ohnmächtig hingestreckt, verhungernd in seine Ketten beißt." In den letzten Jahren hat Hermann Sudermann mit Berlin W nichts mehr zu schaffen haben wollen. Er lebte auf dem von ihm erworbenen märkischen Herrensitz zwischen Wäldern und Feldern. Er hatte eine kleinbürgerlich liebe alte Mutter, die 97 Jahre alt wurde, während er hoch in den Sechzigern stand. Er hatte eine Tochter, die, mit Schaudern erzählte man es sich im Romanischen Café, mit einem richtigen preußischen Offizier verheiratet war. Dieselben Berliner aber, die ihn als der Abtrünnigkeit verdächtig nicht mehr mochten, werden nach 10 Jahre sich natürlich in den Zeitungen und im Rundfunk und in den Theatern überschlagen, wenn dann für "ihren" Sudermann eine Gedenkfeier stattfindet; denn ihrer ist natürlich jedes Talent.

Ihrer ist natürlich auch jeder Fortschritt, so der allmählich höflicher werdende Ton. Während des Krieges hatte einmal Scheidemann es im Reichstage beklagt, daß "wieder" ein so grober Schnauzton auf den Exerzierplätzen der Ersatztruppenteile üblich sei. Das ganze Haus lachte froh, als ihm ein Regierungsvertreter erwiderte: die aktiven Unteroffiziere seien jetzt alle an der Front, und die in der Heimat drillenden alten Landwehrgefreiten seien sicherlich großenteils - Sozialdemokraten. Wir machen als Nation alte Fehler und neue Fortschritte; und wo wir noch schnauzen, sogar jetzt in der freien Republik, tun wir es eben als unverbesserliche Deutsche. Die Tonbesserung hat etwa um 1906 unter einem sehr verdienstvollen königlichen Polizeipräsidenten in Berlin begonnen. Ich erkenne es dankbar an, daß sie inzwischen noch weitere Fortschritte gemacht hat. Schier unglaubliche Fortschritte. Man wird jetzt in Berliner schalterfreien Postämtern mitunter so liebenswürdig behandelt, als sei man gar kein Deutscher, sondern irgendein verehrungswürdiger Ausländer. Und die Schutzleute sind manchmal direkt zum Umarmen. Jüngst will ich abends über den Potsdamer Platz. Kommt da ein Radler angefahren. "Halt", sagt der Schutzmann, "Ihre Laterne brennt ja nicht!"   "Warraftig", erwidert der Radfahrer, "se is ausjejang!" Nun, denke ich, zückt der Schutzmann sein Notizbuch, fragt den Sünder nach Wohnung, Legitimation, Beruf des Vaters, Vorstrafen, Todesursache der Großmutter und kündet ein Strafmandat an. Aber nein. Der Schutzmann fragt bloß: "Haben Sie keine Streichhölzer ?", und zieht, als der Jüngling wortlos verneint, sein eigenes Feuerzeug hervor und macht in der Fahrradlaterne Licht. Da habe ich mich nicht mehr halten können. "Lassen Sie brennen, lassen Sie brennen!", rief ich begeistert und gab dem Schutzmann eine dicke Zigarre.
22. November 1928 (Donnerstag)


12

Johanna von Orleans - Die Sadisten bleiben dieselben - Vernegerung auch in Berlin - Das Excelsior bleibt deutsch - Besuch aus Südamerika - Die "Emden" vor der Ausreise.

Die Dame wundert sich. Ich bin mit ihr im Kino gewesen, sitze nun wortkarg neben ihr im Auto, setze sie an ihrer Wohnung ab, fahre selber heim. Nanu ? Sonst geht man doch - selten genug bin ich ja überhaupt im Kino - noch irgendwohin, trinkt noch ein Tröpfchen, schwatzt noch ein Schwätzchen. Aber ich kann nicht! Ich habe Beklemmungen, ich fühle einen eisernen Ring um die Stirn, mit weit aufgerissenen Augen starre ich in Jahrhunderte zurück und über die Gegenwart hinweg in Jahrhunderte voraus. Nur selten erlebte ich eine derartige ungeheure Erschütterung: ich bin in der "Johanna von Orleans" der Société Générale de Films gewesen. Das Herz pocht noch wie wild an seine Mauern. Aufruhr, Aufruhr. Ich müßte aus Scham vor mir selbst versinken, wenn ich es fertig brächte, in der nächsten Viertelstunde meiner Dame eine banale Nettigkeit zu sagen oder gleichmütig zu bemerken: "Ober, eine Flasche Nummer 162!"

Ein französischer Film ? Die Darsteller sind fast durchweg Franzosen. Aber schon die Titelheldin, Mademoiselle Falconetti, ist fremder Herkunft, ist keine Pucelle, sondern eine Madonna. Und der Verfasser und Regisseur, Dreyer, ist Däne; nur germanische Einfalt und Innerlichkeit konnte solch ein Werk schaffen. Es erscheint im Ufaverleih für Deutschland, wird also überall bei uns die Gemüter rühren können. Natürlich ist "in der Provinz", abgesehen von den Hauptstädten, sehr häufig ein Film, der in Berlin hinreißend wirkte, eine Enttäuschung. Es fehlt die Aufmachung, das große Symphonieorchester, es wird oft auch zu viel weggeschnitten, weil konzentriertes Tempo verlangt wird und noch Platz für etwas Lustiges bleiben soll. Man will sich doch amüsieren, nicht wahr ? Aber diese "Johanna von Orleans" muß auch in der schlichtesten Aufmachung erschüttern, selbst ohne jede Musik, auch auf die Hauptszenen zusammengestrichen. Im Gloriapalast in Berlin setzt das Stück mit Orgelbrausen ein, ein wunderbarer Männerchor singt ergreifend Schuberts "Der Herr ist mein Hirte", und mit dem "Heilig, heilig, heilig" klingt es aus, nachdem wir in Qual und in Erhebung die Inquisition und den Tod des Heldenmädchens von Domremy erlebt haben. Es sind fast nur Großaufnahmen, Köpfe. Johanna und ihre geistlichen Richter. Frage und Antwort. Es ist, als säßen wir mitten in dem forensischen Drama und würfen unsere Augen blitzschnell von dem einen zum anderen. Wir erschauern immer wieder, wenn das von tausend Falten zersägte, innerlich ausgebrannte Gesicht des Kirchenfürsten auftaucht, wenn ein anderes, ein drittes, ein viertes, ein fünftes plötzlich drohend an seine Stelle tritt, ein asketisches, ein faunisches, ein weltmännisches, ein fanatisches, und von überall wie Pfeile die Fragen herschwirren. Hilflos und doch auf Gott vertrauend blickt das Mädchen zum einen, zum anderen. Ein schüchternes "Oui!" oder "Comment ?" lesen wir ihr oft von den Lippen. Auf der Leinewand leuchten die deutschen Texte auf. "Wer hat Dich das Vaterunser gelehrt ?" Nun perlt zum erstenmal das blanke Wasser in den Augen des gottbesessenen Dorfmädchens und rollt über die Wangen; mit einer ungeschickten Bewegung des Handrückens wischt sich Johanna von Orleans die Tränen von Nase und Lippen und haucht: "Die Mutter!" Weitere Fragen, zahllos, sinnlos, verwirrend, tagelang, immer wieder; schließlich die Folter, die mit Rücksicht auf die Nerven der Zuschauer nur angedeutet wird, und nachher das zerbrochene Menschenkind im Fieber, im Todesgrauen, im Widerruf, im Triumph des widerrufenen Widerrufs, im Glauben an Gott und den König, in der Hoffnung auf Frankreichs Errettung, auf dem Scheiterhaufen, im Dahinscheiden und doch im Siege. Viele glitzernde Tränen haben wir inzwischen quellen und über das Antlitz der Dulderin strömen sehen, die eine schmerzensreiche Madonna von ungeheurer Eindruckskraft ist; dabei nicht etwa eine Filmschönheit, sondern das derbe Landmädchen. Puder, Schminke, Perücken hat Dreyer allen Darstellern verboten, es wird, zum erstenmal in der Geschichte des Films, nicht mit Konfektion und Illusion gearbeitet, sondern mit einer bisher unerhörten Wahrhaftigkeit. Unser verdorbener Geschmack merkt zum erstenmal, wieviel natürlicher, wieviel inniger, wieviel sprechender farblose Lippen sind als grellrot gemalte, und wieviel echter eine geschorene Tonsur wirkt als eine aufgepappte; und wie man historische Filme vertiefen kann, wenn man sie psycho-physiognomisch gibt und das abgeleierte Trara der Massenaufläufe nur in sparsamer Andeutung verwendet. Durch diese "Johanna von Orleans" ist das Lichtbildspiel wirklich geadelt.

Ist dies "der" französische Nationalfilm ? Nein, niemals. Für die Franzosen mag er Prunkstück und Ausfuhrware sein, obwohl ein Däne ihn ersonnen und gedreht hat, aber er kündet keine Gloire. Johanna aus Domremy war eine Lothringerin, ein allemannisches Mädchen von deutscher Versonnenheit. Franzosen waren ihre eiskalten Richter, Franzosen in englischer Botmäßigkeit. Sie haben sich, ob geistlich, ob weltlich, seit 1430 nicht geändert, sind noch 1923 im Ruhrgebiet dieselben Sadisten gewesen, sind es noch heute. Sie haben im Kriege Daumenschrauben und anderes Folterwerkzeug gegen deutsche Gefangene gebraucht. Sie mordeten Johanna, weil sie nicht zur Verräterin wurde. Sie erschossen Schlageter, als er es ablehnte, seine Kameraden anzugeben. Noch ihr großer Literat Voltaire hat die reine Jungfrau mit echt französischer Freunde an der Unanständigkeit in seinem Drama "Pucelle" als Soldatendirnchen karikiert. Erst Schiller und Shaw und Dreyer mußten sie von diesem Dreck reinigen.

Im Felde nannten wir die Franzosen nur Nigger. Der einfache feldgraue Mann bei uns war nicht wegen der vielen Farbigen drüben auf diese Bezeichnung gekommen, sondern weil er instinktiv die innere Vernegerung der grande nation fühlte. In Berlin ist jetzt wieder Verneuil mit seinen Schwänken in den Theatern obenauf, nicht etwa wegen des sogenannten gallischen Esprits, sondern wegen der orientalischen Schlüpfrigkeit, die in gewissen Berliner Schichten auf wieherndes Verständnis rechnen darf. Die Nigger hüben und drüben reichen sich die Hand; dazu wackelt die dunkelhäutige Josefine Baker, die echteste Vertreterin des Parisertums von heute, im Synkopentakt mit ihrem auf der Bühne entblößten Gesäß. In der Friedrichstraße aber, in dem Sonderzimmer eines der üblichen Bilder-Auktionslokale, wird der Berliner Jugend gegen 50 Pfennig Eintrittsgeld in hundert großen Farbzeichnungen das "orientalische Schönheitsideal" gezeigt, das der schlanken Mulattin allerdings gar nicht gleicht. Es ist das Ideal aus Französisch-Algerien, die bis auf sechs Zentner Lebendgewicht gemästete schwarze oder braune oder weiße Frau, in allen Lagen, allein oder mit hagerem männlichem Anbeter, der den Fleischkoloß zu erobern sich anschickt. Die Vernegerung, nicht nur in der Musik, macht sich immer breiter.

Wirtschaftlich aber erobern die Amerikaner mehr und mehr Berlin. Das Gerücht, daß auch der größte Gasthof der Hauptstadt, der größte auf dem Kontinent überhaupt, das Hotel Excelsior gegenüber dem Anhalter Bahnhof, das sich in rein deutschen Händen befindet, im Besitze des Geheimen Kommerzienrats Elschner, für 17 Millionen Mark an einen amerikanischen Konzern verkauft werde, wurde daher geglaubt. Elschner, der sich vom Sohne eines einfachen Thüringer Landarbeiters bis zum alleinigen Inhaber dreier großer Hotels in Deutschland heraufgearbeitet hat, ein rastloser Arbeiter, unerschöpflich in stets neuen Plänen, hat das Gerücht sofort dementiert. Manchmal, wenn ich beruflich irgendwo weit im Westen der Stadt bis spät nachts zu tun gehabt oder mit irgend einem von weither gekommenen Besucher mir etwas angesehen habe, leiste ich mir noch einen kleinen Schlaftrunk in der Bar des Excelsior. Die lieben Besucher sind ja unersättlich. "Was liegt an ?", fragt mich so der Kaptein, als wir gerade im Westen auf die Straße treten. "Ostnordost ein Viertel Ost!", antworte ich. "Also Kurs auf Excelsior ?"   "Jawohl, ganz genau!" Und da, in der Bar, muß der Kaptein alsbald eine verlorene Wette bezahlen, denn er hat es nicht glauben wollen, daß bei meinem Erscheinen die Musik, die sonst nur "Ich küsse Ihre Hand, Madam" oder so ähnliches spielt, sofort hintereinander mit dreierlei aufwartet: dem Fridericus, dem Wolgaschlepperlied, dem Finnländischen Reitermarsch. Drüben in der Nische, wo gerade Fritz Lang mit Gerda Maurus ihre neue Filmrolle bespricht, horcht man einen Augenblick auf. Die Amerikaner vorn beim Barkeeper, denen die Schlager zum Halse heraushängen, freuen sich offensichtlich. Eine kleine Münchener Gesellschaft von Herren und Damen in einer anderen Nische wird ganz begeistert und gibt ihrerseits unisono "Das Lied vom Schwalanscheer" zu. In der Haupthalle des Hotels und in dem Tanzrondell nebenbei, wo - bei billigen Preisen - viel kleines Berliner Citypublikum verkehrt, ist es inzwischen still geworden, auch in dem großen Pilsener Bierrestaurant nach der Anhalter Straße hinaus und in dem Excelsior-Kasino. Im vorigen Jahr hat Elschner, mit 90 000 Mark Unkosten, einen Tunnel zum Anhalter Bahnhof gebaut, mit unterirdischen Läden sogar, so daß ankommende Gäste die Straße gar nicht zu passieren brauchen. Mit noch viel mehr Geld hat er in diesem Jahre eine luxuriöse Bäderanlage, der zwei eigene Ärzte vorstehen, in marmorner Pracht im Souterrain errichtet; leider hat die verehrliche Behörde ihm nur medizinische Bäder, nicht das geplante Hallenschwimmbad gestattet, macht ihm überhaupt dauernd Schwierigkeiten, weil er in dem Rufe steht, kein allzu begeisterter Republikaner zu sein. Er ist nur Fachmann, Geschäftsmann, in seiner Art ein Genie. Klingelt da einmal ein Amerikaner dem Stubenmädchen: "Ich brauche sofort ein Frackhemd!" Sagt das Mädchen: "Jawohl, mein Herr, wenn Sie aus dem Hotel kommen, rechts, dann die Querstraße rechts, dann links die nächste Straße, das fünfte Haus, da ist ein gutes Wäschegeschäft." Worauf der Amerikaner prompt erwidert: "Sie sind total verrückt!" Er will alles Nötige im Hotel selbst kaufen können. Und im Hotel Excelsior findet er auch wirklich ein paar Warenhausangestellte und ein Lager von allen "gängigen" Sachen bis zum Abendkleid und dem Reisekoffer. Daß die Amerikaner dieses Haus gern erwerben möchten, ist verständlich; jetzt spitzen sich ihre Konzerne auf das nahegelegene Europahaus, das infolge behördlichen Eingreifens im Eisenrohbau steckengeblieben ist, dem man aber jetzt endlich die geplanten 11 Stockwerke genehmigen will. Nach Chikagoer Begriffen ist das freilich dann immer noch ein kleines Häuschen. Aber gegen Amerikaner ist man "oben" bei uns ja entgegenkommend; sie werden uns schon noch verwolkenkratzern.

Einer von drüben, aber aus Südamerika, hat mich dieser Tage besucht. Seit 1915 hatte ich ihn nicht gesehen. Damals stand er als Soldat in meiner Truppe in Belgien als junger Kriegsfreiwlliger. Seine flinken, blanken, schwarzen Mausaugen und seine Willigkeit waren mir noch in gutem Gedächtnis. Aber hundert vergessene Dinge frischte er jetzt als Gast wieder auf. Wie ich, als eines Tages er allein einen ganzen Haufen Liebespakete bekam, ihn zu mir rief: "Woher kennen Sie so viele Mächens ? Sind Sie in Ihrem Zivilberuf am Ende Heiratsschwindler ?" Nein, das nicht; aber eines von neun Geschwistern, und mit zahlreicher Verwandtschaft. Eine Schwester habe eben in Münster ihr Lehrerin-Examen bestanden. Gut, sehr gut. Ich hatte mir kurz vorher ein flandrisches Spitzentaschentuch gekauft, um es einer mir sehr nahestehenden Dame in Berlin zu schicken, hatte nachhher aber noch ein besseres gefunden. Jetzt nahm ich das erste, gab es dem jungen Mann und sagte, er solle es mit meinem Glückwunsch seiner Schwester verehren. Dies und anderes erzählte mit leuchtenden Augen mein Besucher aus Südamerika. Dann kam die ernste Gegenwart an die Reihe und das Berlin von heute, das er seit 1919, seit seiner Auswanderung, nicht mehr gesehen hat. Wenn man heute, sagt er, etwa in die Casanova-Bar kommt, die wahrlich prächtig genug ist, sieht man zwar fast lauter Herren im Smoking, aber er ist von der Stange, und sicherlich hat keiner von ihnen auch nur 100 Mark zu Hause. Überall Talmi. Die Revuen verstaubt. Überall Unrast und geheime Angst vor der Zukunft. Alles erborgt. Anscheinend würden in wenigen Jahren die Amerikaner unsere Arbeitgeber sein, Franzosen und andere unsere Aufseher. Das klingt ganz anders, als das, was etwa Mister Kitchen in seinen Plauderbriefen über das "reiche und verschwenderische" Berlin an die Evening World in New York zu schreiben pflegt.

Es ist schön, wenn man sich die Welt über See einmal gründlich angesehen hat und dann vergleichen kann. Man findet sie heute reicher als früher und unser Vaterland ärmlicher; aber immer, trotz aller Bindung, doch noch mit unzerstörbarer Seele, unzerstörbarem Kopf. Eine kleine Schar Deutscher, darunter 40 frische Junx, rüstet sich jetzt wieder auf dem Kreuzer "Emden" zur großen Fahrt um die Erde. Schon jetzt müssen die Weihnachtspakete an Bord. Nach wenigen Tagen werden die Angehörigen der rund 500 Mann starken Besatzung, soweit sie sich die Reise leisten können, zum Abschied am Pier in Wilhelmshaven stehen. Noch einmal mustert der Divisionsoffizier seine Seekadetten. "Ich bitte mir aus, daß keiner von Ihnen unrasiert herumläuft. Wenn einmal monatlich nicht langt, so müssen Sie sich hat alle drei Wochen rasieren!"
29. November 1928 (Donnerstag.)



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© Karlheinz Everts