"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 43 - 46
8. bis 29. Juli 1926


43

Strohwitwerzeit - Hie Ferienreise, hie Selbstmord - Turne nach Rundfunk - Die Frau Bankier - Stinnes über dem Globus - Erholung für Berliner Kinder - Von Lene, Lotte, Karlchen, Trude - Ludendorffs Scheidung

Die Zeit der Strohwitwerwitze ist da; annähernd 400 000 Menschen (nicht ganz so viel wie im vorigen Jahr) haben in den ersten Julitagen Berlin verlassen, aber es waren "fast nur" Kinder und Frauen. Die Männer müssen weiterarbeiten. Natürlich haben auch unter ihnen viele Tausende Ferien gemacht, nur sind es gleichfalls Tausende, die zum ersten Mal keine Ferien gemacht haben. Man sollte in einer Zeit, in der aus allen "Badenummern" der Bilderblätter einem der helle Frohsinn entgegenlacht, auch derer nicht vergessen, für die in derselben Zeit Jammer und Elend an der Tagesordnung ist. Nur eine kurze Randbemerkung: in dem abgelaufenen Halbjahr haben in der Reichshauptstadt - und zwar meist wegen materieller Not - nicht weniger als 212 Menschen ihrem Leben ein Ende gemacht. Kurz vor dem 1. Juli gab es dann noch ein Massensterben in der Hundewelt, hier natürlich nicht freiwillig: Herrchen oder Frauchen können die Hundesteuer nicht mehr bezahlen. Noch mehr als bisher wiegen sich manche alte und einsame Leute in Ängsten, weil nun ihr Wächter und Schützer dahin ist.

Was machen die Daheimgeblieben in Berlin ? Die Strohwitwerwitze, die Strohwitwerkomödien, die Strohwitwerdramen sind zum größten Teile erfunden. Es geht in der Großstadt viel prosaischer und reputierlicher zu, als die Sensationslüsternen wahr haben wollen. Dazu kommt, daß wir wieder zu Frühaufstehern geworden sind wie in der alten Zeit, da Berlin noch eine Kleinstadt war und von 9 Uhr abends ab des Nachtwächters Lied in den stillen Straßen widerhallte. Wer jetzt "Betrieb" macht, das ist der Fremde, der Zugereiste, den alle Theater und Vergnügungsstätten mit billigen "Sommerpreisen" locken. Der Berliner arbeitet und - erholt sich: in der Laubenkolonie oder an Spree und Havel oder auch zu Hause in der Badewanne. Er benutzt die Gelegenheit außerdem zum Schlankwerden. Er nimmt nicht etwa Kruschensalz oder Stuvkampsalz oder sonstige viel angepriesene Mittel, denn so helle ist er schon, daß er die körperliche Eigenbetätigung als die beste und ungefährlichste Art erkennt, störendes Fett abzustoßen. Also stellt er sich morgens um Schlag 6 Uhr nackt oder in Badehose in das Zimmer, in dem sein Lautsprecher steht (zur Not geht es auch ohne Lautsprecher, nur mit Kopfhörer; wenn die Schnüre lang genug sind) und macht eine halbe Stunde Freiübungen auf Rundfunkkommando. Zunächst begrüßt ihn ein flotter Foxtrott aus dem Apparat. Schon hat man vergessen, daß man am Ende mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen ist, schon ist man ganz vergnügt. Nicht nur in Berlin allein, überall, wo man sich auf Berlin oder die angeschlossenen anderen Wellen eingestellt hat, stehen so Zehntausende in der Frühe bereit. Achtung, es geht los! Und wie angenehm: mit Musikbegleitung. "Jetzt wollen wir uns mal auf den Rücken legen", sagt der Rundfunkmann, "und die Beine anhocken". Wird gemacht. Dann kommt - Übung 4 - die Radfahrbewegung: die Beine werden abwechselnd herangezogen und nach oben, in die Luft, ausgetreten, die Musik taktiert und wird schneller, immer schneller. Im Geiste sehe ich die Zehntausende in ganz Norddeutschland so gleichzeitig strampeln. Es ist doch eine fabelhafte Sache. Ein Volk turnt sich jung auf Kommando aus dem Äther. Und dann Nr. 8, die würdige Salem-Aleikum-Übung: die Zehntausende (oder sind es Hunderttausende ?) knieen, während sie die Arme über die Brust kreuzen, und beugen rhythmisch den Rumpf vor, bis die Stirn jedesmal den Boden berührt. Dazwischen Kniebeugen, zum Schluß Beinschwingen, - dann flink unter die Brause, wenn man eine hat, sonst tuts auch ein nasser Schwamm, und nachher schmeckt den Zehntausenden das Frühstück wie noch nie. Elastisch gehen sie an die Tagesarbeit. Und abends von Herzen froh in die Klappe. Der Stammtisch freilich verödet.

Drüben, einen Stock tiefer als wir, haust die Frau Bankier. Sie hat sich der großen Mode nicht entziehen können. Seit zwei Monaten hat auch sie einen Schnittkopf. Der mag, wie ich immer gesagt habe, einem jungen hübschen Persönchen gelegentlich wohlanstehen; und jene junge Frau aus Süddeutschland, die unter Einsendung ihres Bildes mir neulich die Leviten las, weil ich die neue Haartracht so häufig verulkte, mag sich damit trösten. Aber die Frau Bankier drüben, daß Gott erbarm', der hat der Schnittkopf die Speckfalten im Nacken bloßgelegt, die früher der Haarknoten bedeckte. Also dagegen muß etwas geschehen, und so turnt auch sie nach Rundfunk. Daß ihr dabei heiß wird, ist begreiflich, daß sie aber deswegen das Fenster aufstehen läßt, ist unverzeihlich. Sie denkt wohl, weil ich oft noch spät nachts am Schreibtisch sitze, liege ich morgens um 6 regelmäßig noch in den Federn. Sie könnte ruhig den Vorhang niederlassen, und es hülfe ihr doch nichts. Ich habe den Röntgenblick. Ich sehe durch Mauern und Wände in ganz Deutschland - und bin vielleicht deshalb ao ausnehmend vergnügt. Einer, der sich niemals Ferien, niemals Erholungsreisen gönnte, das war der verstorbene Hugo Stinnes. Er schuftete ärger als seine Achtstundenarbeiter, und das wußten sie auch alle. Aber Stinnes - reiste in Gedanken. Manchmal, wenn er abends über den Berichten von seinen Unternehmungen aus aller Herren Länder gesessen hatte, stellte er sich - denn Abstinenzler war er nur gerüchtweise - einen guten Schoppen hin, nahm den großen Globus vor und wanderte mit den Augen, still versonnen, über Alpen und Ozeane. Ich gehöre nicht zu den Enthaltsamen in bezug auf Ferienreisen, auch gerüchtweise nicht, nur daß ich immer erst im August ausfliege, aber das Sinnieren in die Ferne betreibe ich trotzdem. Unser Globus ist zu unhandlich, auch Andrees Handatlas, unser ständiges Nachschlagwerk, zu schwer, die Perthesschen Taschenbücher genügen nicht immer, - aber die große Ausgabe von Dierckes Schulatlas für höhere Schulen, das ist mein guter Kamerad für jede müßige Viertelstunde. Mit besonderer Vorliebe studiere ich die Völkerkarten darin, die uns zeigen, wieviele "Minoritäten" laut Versailles unter fremdes Joch gekommen sind; oder die Produktionskarten, in denen ich nachsehe, wo Mandeln reifen, wo Seide gewebt, Eisen geschürft wird, wo die Phosphate herkommen, das Benzin, der Hanf, wo man Schiffe baut und bis wie weit nach Norden die Dattelpalme, der Wein, das Getreide reicht. Spielend lernt man wichtige Dinge. Ich vermisse es nicht, daß ich nie in meinem Leben den Skat zum Zeitvertreiben gebraucht habe.

Was machen die daheim gebliebenen Kinder in Berlin ? Die sollen in den Ferien natürlich nicht über dem Schulatlas hocken, während ihre glücklicheren Kameraden mit der Mutter in die Sommerfrische gezogen oder aus öffentlichen Mitteln an den Strand oder ins Gebirge geschickt sind. Als was machen die daheim gebliebenen Kinder ? Seit nunmehr schon 17 Jahren sorgt Berlin für ihre Ferienerholung daheim auf Waldspielplätzen und übernimmt sogar ihre Verpflegung. Ich kenne keine Großstadt im Auslande, in der so vorbildlich sozial gearbeitet würde; allerdings auch kein Volk, das so wenig diese Leistung der übrigen Steuerzahler anerkennt. Die Legitimationskarte, die die Kinder zu dieser Erholung berechtigt, kostet 1½ Mark wöchentlich für das erste, 75 Pfennig für das zweite Kind einer Familie, weitere Kinder und desgleichen alle Kinder von Arbeitslosen und sonstigen Bedürftigen habe überhaupt alles frei. Dafür sind sie während der Sommerferien jeden Tag von früh bis abends draußen, spielen unter Aufsicht und Anregung, tummeln sich in Luft und Licht, bekommen morgens ihre Mehlsuppe (mit Milch) oder ihren Kakao, mittags ein Feldküchengericht, nachmittags Kaffee und zwei Riesensemmeln. Jedes Kind vom 6. bis 14. Jahr ist willkommen, auch einige wenige ältere sind dabei, und wer noch ein kleineres Schwesterchen oder Brüderchen hat, kann es auch mitnehmen. Neben mir stapft tapfer die kleine Lene einher, die ist 5 Jahre alt, und es ist schon das 3. Jahr, daß sie mitmacht. Auf den Schulhöfen sammelt sich allmorgendlich die Jugend jedes Stadtviertels, dann geht es mit der Stadtbahn oder der Untergrundbahn oder sonstigen Verkehrsmitteln - gratis natürlich - hinaus und am Abend ebenso wieder zurück. Ich stehe gestern früh am Reichskanzlerplatz und sehe zu, wie das da aus dem Untergrundbahnhof herausquillt. Ich schließe mich dieser Kolonne an, die einen der Plätze, im Grunewald, aufsucht, 25 Minuten zu Fuß von hier aus. Es sind an die 2000 Kinder. Also ein Verkehrshindernis ersten Ranges. Zwei Schutzleute werden eigens abkommandiert, um täglich dafür zu sorgen, daß Straßenbahnen und Autos und Omnibusse stillstehen, wie die Wasser des Roten Meeres für die Kinder Israel, wenn das Jungvolk die Heerstraße überschreitet. Die Lehrer und Lehrerinnen und die freiwilligen Hilfskräfte mahnen: "Weitergehen, immer anschließen, vorwärts!" Aber mitten auf dem Fahrdamm bleibt die kleine Lotte aus der Gneisenaustraße plötzlich stehen und ruft: "Sie, Frollein, ick muß mal!" Schon hat das sogenannte Frollein, Frau v. Maydell, die Schwester des Lehrers und deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Schulze, die Kleine an der Hand und trabt mit ihr ab. Ja, es ist nicht so einfach. Das schwerste Hindernis ist der Bonbonverkäufer in der Lattenbude vor dem Bahnhof Heerstraße. Da stockt es wie automatisch. Da holen die Kinder ihre Groschen heraus, - typischerweise meist die "Freikinder", deren Mütter die 1½ Mark wöchentlich nicht bezahlen können, aber doch öffentlich die Kinder renommieren lassen wollen. Jetzt ist das Bonbonkaufen verboten; und zwar deswegen, weil der Händler hier - doppelt so teuer ist als die in der Stadt.

Im übrigen geht es ohne jede Fährlichkeit ab. Unter der Parole "Ordnung muß sein!" gingen früher Mädel und Buben getrennt. Erfolg: die Mädel zankten sich, die Buben hauten sich. In diesem Jahre hat man sich für das Durcheinander entschieden. Erfolg: holder Friede, süße Eintracht. Die Mädel streiten sich nicht mit den Buben, denn die könnten am Ende hauen. Und die Buben hauen nicht, weil es "bei den Mädels nicht lohnt". So kommt man auf den Spielplatz, Stiefel und Strümpfe fliegen ab, die meisten Kinder behalten überhaupt nur Badehöschen oder Badeanzug an und bleiben so den ganzen Tag, einzelne Gruppen legen ihre Decken aufs Gras (Mutter gibt den Göhren natürlich nur eine alte zerfranste mit), die aus besser situierten Familien bauen womöglich ein Zelt auf, und zwar sehr sachverständig, alles atmet auf in Licht und Sonne und kann auch einen Regenhusch mal vertragen. Nicht alle haben eine Decke; verlangt wird nur, daß jedes Kind Eßnapf und Löffel mitbringt. Aber Karlchen aus der Kleinbeerenstraße, 6 Jahre alt, ist besonders stolz: einen Vater, sagt er mir, hat er nie nich gehabt, aber der Onkel, der ist Soldat gewesen, und der rollt jeden Morgen für Karlchen die Decke wie einen Militärmantel und hängt die Rolle ihm um. Während ich mit Karlchen spreche, kommt heulend Trude vom Blücherplatz zu Frau Dittmar, einer der Leiterinnen, gelaufen. "Ick ha' meine Kachte valoan!" Verzwifelt nestelt sie an dem Halsschnürchen, an dem keine Karte hängt. Aber da knufft sie schon ein Junge. "Du bist ja doof, vorne weenste, hinten hängt de Kachte!" Wahrhaftig. So ist es. Und nun ist wieder eitel Sonnenschein. Die größeren Kinder haben inzwischen die Eimer mit der Morgensuppe aus der Küche - als Küchenchef waltet im Schweiße seines Angesichts auch ein Lehrer - geholt und bringen sie zu den Lagernden und Spielenden. Ein Kind muß bald danach gesäubert werden; es hat sich bekleckert, weil es während des Suppens unverwandt nach einem von Ast zu Ast springenden Eichhörnchen sah. Am liebsten wäre ich auch den ganzen Tag draußen geblieben und hätte noch der Vorbereitung zum Hauptfest der Ferien zugesehen. Es ist da eine von Hecken eingefaßte Freilicht-Bühne. Im vorigen Sommer wurde "Hänsel und Gretel" aufgeführt, diesmal soll es "Dornröschen" werden. Es ist ein schwüler, dunstiger, verhangener Tag; aber mit Sonne im Herzen verabschiede ich mich von dieser Stätte bester Jugendfürsoge.

Drinnen in der Stadt. Wieder in "mondäner" Gesellschaft. Pfui Teufel, gerade wird wieder tüchtig geklatscht, Ludendorff muß herhalten: "Wissen Sie schon, der Scheidungsprozeß . . ." Gewiß weiß ich. Ich weiß aber auch, daß alles an diesem Manne licht und rein ist, was sein persönliches Leben angeht. Die Klatschbasen und die Zeitungen lügen, wenn sie von einem "neuen Lebensroman" des Generals erzählen. Der alte begann einst romantisch genug: der Major im Generalstabe Erich Ludendorff und Frau Pernet - Tochter eines Fabrikbesitzers, ehemalige Gattin eines Direktors bei Bolle, eine blendende temperamentvolle Frau - waren während eines Wolkenbruchs in Berlin zufällig gleichzeitig in denselben Toreingang getreten. So hatten sie sich zuerst kennen gelernt. Von Frau Pernets drei Söhnen erster Ehe sind zwei als Flieger im Felde gefallen; der überlebende Sohn aber steht im Prozeß - ganz auf seiten des Stiefvaters. Die einst in der Berliner Gesellschaft gefeierte Frau ist leider Morphinistin geworden. Das Rauschguft hat sie - sie sieht 20 Jahre älter aus als der Mann - und das Familienleben zerstört. Man weiß ja, wie haltlos solche Geschwächten in jeder Beziehung werden. Die ewig zigarettenrauchende Frau Ludendorff-Pernet ist bis in die letzte Zeit hinein ungeheuer lebhaft und anregend gewesen, aber immer nur auf kurze Zeit, immer nur unter dem Einfluß des Giftes. Die Trennung ist eine Notwendigkeit. Zu bedauern sind beide Eheleute. Ludendorff aber ist innerlich schuldlos, obwohl er gelegentlich der Frau gegenüber, wie es heißt, zu rohen und handgreiflichen Entziehungsmethoden gegriffen hat, die, so klagt die Frau, unverzeihlich seien. In der Öffentlichkeit sagt er kein Wort darüber, wie er gelitten hat, "denn das geht die Öffentlichkeit nichts an", aber wenn der Klatsch sich jetzt an ihn heranwagt, sei die Wahrheit einmal festgestellt.
8. Juli 1926 (Donnerstag)


44

"Katastrophen" - Hitze und Kleidung - Im Freibad Wannsee - "Berlin W mit'm Ding" - Hagenbecks Indienschau im Zoo - "Black people" - Der Grandseigneur im Adlon - Richard Wagner beim Boxkampf

Vierzehn Tage lang gab es täglich "Katastrophen" in den Überschriften auf der ersten Zeitungsseite. Dammbruch, Blitzschlag, Explosion, Brand, Hauseinsturz, Autokrach, was weiß ich; um von entgleisten Zügen nicht erst zu sprechen. Natürlich ist auch der Frank "katastrophal" gesunken. Diese ewigen Superlative sind nur möglich, weil niemand im Wörterbuch nachsieht, was Katastrophe eigentlich bedeutet. Wir haben 1918 eine erlebt. Nämlich einen völligen Zusammenbruch, materiell und moralisch. Diesmal sind es aber nicht einmal die Überschwemmungen, so fürchterlich sie im einzelnen sein mögen, denn das überflutete Land ist bei weitem noch nicht einmal ein Tausendstel unserer Ackerfläche. Immerhin: die elementaren Mächte waren sehr aktiv. Es ist gut, daß die himmlischen Mächte nun endlich Ferien diktiert haben.

Endlich ist die große Hitze da. Wie Mephisto zum Faust können wir zum Juli sagen: "Ihr habt mich weidlich schwitzen machen !" In den Regenfluten hat der Großstädter sich nach solchem Sommer gesehnt - und nun läßt er sich wieder vernehmen, diese Hitze sei eine wahre Katastrophe. Ach, Unsinn. Nur wir Menschen machen uns das Dasein so schwer erträglich. Warum hasten wir so ? Der Orientale ist nicht etwa phlegmatischer als wir, sondern vernünftiger, wenn er in der heißen Zeit den Spruch beherzigt: der Gentleman läuft nicht, der Gentleman schreitet. Dazu kommt die unsinnige im Durchschnitt 6 Pfund schwere Herrenkleidung. Berliner Boulevardblätter und Schneidergeschäfte agitieren für eine Reform der Tracht: wir sollen leichte Hemdblusen tragen. Vortrefflich, vortrefflich. Aber das ist doch nichts Neues; als junger Mensch bin ich immer so herumgelaufen, nur sagte man damals nicht Hemdbluse, sondern Tennishemd. Es wäre sehr gut, wenn es sich wieder einbürgerte, selbst auf die Gefahr hin, daß es manchen Bierbauch der öffentlichen Kritik preisgibt. Die meisten Berliner Herren glauben dem Sommer schon genug entgegengekommen zu sein, wenn sie den Hut verbannen und ihr letztes bißchen Gehirnschmalz von der Sonne ausbraten lassen. Die kaffeebrauen Glatzen nehmen überhand. Aber die zu viel bekleideten Menschen darunter sind stumpf und dumpf und matt. Der Araber trägt einen Wulst um den Kopf, der Marokkaner einen mächtigen Strohhut, der Sarte einen Turban von 5½ Meter Stoff, aber auf dem Körper haben sie alle nur lose weite Gewänder, und so vertragen sie die Hitze sehr gut.

Mit hängender Zunge, dampfend im Vorortzug, schwitzend auf dem letzten Fußweg, wälzen sich die Berliner zu den Freibädern. Die sind schon fast Viehschwemme. "Du sollst doch nicht auch das Gesicht ins Wasser stecken, du machst dich ja ganz dreckig!", ruft eine besorgte Mutter ihrem Kinde zu. Bei Windstille ist der Menschenbrodem erstickend. Und dennoch gibt es hier ein Aufatmen im Vergleich zu den Daseinsbedingungen in mancher Berliner Hof- und Kellerwohnung. Der sogenannte gebildete Mittelstand - früher führte manche Mutter, die zum Verreisen kein Geld hatte, ihre Gymnasiasten in den Ferien hierher - meidet die Massenfreibäder jetzt fast ganz. Sie sind überflutet von solchen "Arbeitslosen", die obszöne Tätowierungen auf der Brust tragen. Von den Freibädern, durch die ich wieder gewandert bin, ist das am Wannsee noch immer das populärste, aber trotz aller vorbildlichen Einrichtungen auch das unästhetischste. Die meisten Besucher scheinen aus Käte Kollwitz' oder Heinrich Zilles Zeichenmappe entsprungen zu sein und benutzen vielfach das Bad, nach dem Vorbild der oberen Zehntausend in "besseren" Bädern, als Stelldichein zur Anknüpfung von Beziehungen. Das geht hier natürlich sehr einfach. "Wo bist'n du her ?"   "Wat denkste, aus Berlin W natürlich!"   "Jawoll, aus Berlin W mit einem Ding dran!"   "Wat, wat ?"   "Na, von Berlin-Wedding biste!" Und fünf Minuten später sind die beiden schon ein Herz und eine Seele. Man stolpert fast über Pärchen. Und beinahe ist es schon so weit, daß man nach Stehplätzen im Freibad anstehen muß.

Am wohlsten müssen sich bei diesen Temperaturen über 30 Grad eigentlich die farbigen Besucher Berlins fühlen. Da sind im Zoologischen Garten Hagenbecks bronzefarbene Inder. Da ist im Metropoltheater die "black people"-Truppe in Milchkaffee. Die letzteren, fälschlich "Schwarzes Volk" genannt, da sie zumeist gelbliche Quarteronen sind, fletschen ihr Gebiß in gespielter afrikanischer Wildheit bei ihren Steps und Charlestons und sonstigen Zappeltänzen, aber das Gebiß glänzt von amerikanischen Goldkronen. Umgekehrt sind die Leute aus Ceylon und Südindien edler und ursprünglicher von Gestalt und Aussehen; und ihre ruhigen Tempeltänze sind nicht vom Sexus gepeitscht.

Für die vielen akademisch gebildeten Inder in Berlin ist diese Schaustellung trotzdem eine Peinlichkeit. Sie freuen sich nicht darüber, daß der Zoo allabendlich von Menschen überfüllt ist, die auf einem der großen Elefanten der Hagenbeck-Karawane reiten oder kleine indische Mädchen - es sind putzige Dinger von vier und fünf Jahren darunter - betasten und tätscheln wollen. Das ist doch nur, sagen sie, Rummel. Gewiß, sie haben recht. Hagenbeck hat eine Gruppe von Gauklern und Heimarbeitern aus primitiver Gegend zusammengestellt; es ist ja nicht seine Aufgabe, uns einen modernen indischen Hotelpalast hinzustellen oder einen indischen Gelehrtenkongreß herzubringen. Daß der Durchschnittsberliner von "Indien" hier eine ganz falsche Vorstellung bekommt, ist richtig. Ich habe mit einem indischen Studenten der Medizin darüber gesprochen. Er droht mir ironisch, er werde demnächst in Kalkutta eine "Deutschlandschau" veranstalten. Dazu nehme er sich von hier folgendes mit: einen Rummelplatz mit Karussel und Feuerfresser und Degenschlucker, eine Zigeunerfamilie aus dem Wittgensteinschen, ein paar Spreewälder Ammen in wendischer Tracht, den Hungerkünstler Siegfried Herz genannt Jolly, den Naturmenschen gustav nagel und einige strohgedeckte Hütten aus Masuren. Voilà Deutschland! Und doch hat diese Indienschau ihr Gutes. Sie regt zu rassischem Vergleichen an. Selbst der vierfach mit Weiß gemischte Quarterone bleibt immer noch der Nigger, das Tier aus dem Urwald. Aber die Inder sind uns gesippt. Das seien ja keine richtigen Hindus, keine Indoeuropäer, sondern meist Drawidas, sagt mein Student, aber trotzdem könnten sie für bronzebraun angestrichene Deutsche gehalten werden. Und nun sieht der Zuschauer sich um und entdeckt auf den Tribünen neben sich weiße Kurfürstendammer, die, obwohl sie in europäischer Tracht dasitzen, einen viel fremdartigeren Eindruck machen. Ich glaube alles, was in der Bibel steht. Aber das schwerste ist für mich nicht Bileams sprechender Esel, sondern die Abstammung der verschiedenen Rassen von einem und demselben Menschenpaar. Ich kann mir beim besten Willen keine gemeinsame Herkunft für Hindenburg und Kutisker vorstellen oder für Lucie Höflich und die Prima Ballerina beim "black people" im Metropolthetaer oder für Tai Tsien Hen und Louis Adlon. Wären die Rasseunterschiede nur Züchtungsergebnis, so müßten sie auch verschwinden können. Sie schlagen aber immer wieder durch. Selbst in Nordeuropa das Negerblut von einmaligem Eindringen in eine Familie her noch nach Jahrhunderten.

Fast ganz "unter uns" sind wir jetzt, wenn wir zum Tee zu Adlon gehen. Dieses modernste Berliner Hotel hat kürzlich seinen mächtigen Innenhof, in den kein Straßemlärm dringt, zu einem Freiluftsaal umgebaut. Riesige Wände und Dächer aus Glas sind verschiebbar, verschwinden bei gutem Wetter, rollen bei schlechtem hervor. Marek Weber spielt, nicht für das sonstige Stammpublikum, das jetzt in Heringsdorf und Westerland oder Garmisch und St. Moritz weilt, sondern für gute Gesellschaft aus Deutschland und aller Herren Ländern. Es sind auch zwei kommandierte Tanzherren da, so daß Frau Soundso während der geschäftlichen Konferenz des Gatten, die drinnen im Hotel stattfindet, die gewohnte Bewegung nicht zu vermissen braucht; auch der Nichtenbesuch aus Hannover oder Dresden, von dem asthmatischen Berliner Onkel hergeführt, kommt so auf seine Kosten. Da erscheint, kurz nach 5 Uhr, ein neuer Tanzherr. Aber das ist sicher kein abgebauter junger Bankbeamter. Das ist ein Schloßherr. Das ist ein Marquis von normannischem Adel. Das ist sicher ein Nachkomme von Kreuzfahrern. Hoch und schlank. Glatt anliegendes, aber nicht modern langsträhniges, silberweißes Haar, weißer kleiner Schnurrbart. Ein frisches, ebenmäßiges, vornehmes Gesicht. Tadellos gekleidet von der Schlipsperle bis zu den weißen Gamaschen. Und wie famos und elegant der alte Herr tanzt, wie sicher er seine Damen führt, wie ritterlich er ihnen die Hand küßt! Alle jungen Tänzer sind auf einmal von ihm ausgestochen. Zu seinem Tischchen ganz hinten in der Ecke bringen die Kellner ihm immer wieder Visitenkarten: da ist die Frau Generaldirektor aus Wien, da die Komteß aus Ostpreußen, da die Majorswitwe aus Edinburgh, da die Musikstudentin aus Chicago, die alle mit ihm tanzen möchten, am liebsten Tango; aber auch der Charleston ist, befindet man sich in seinem Arm, nicht zu verachten, denn er tanzt ihn ohne hysterisches Gezappel. Er läßt keinen Tanz aus. Natürlich hat er auch seine Bevorzugten. "Sind Bekannte da ?", hat er schon beim Eintreten den Manager gefragt. So widmet er einer deutschen Dame fast ein Drittel der ganzen Zeit. Er ist nachher immer noch vom Kopf bis zu den Füßen untadelig; sie aber hat den ganzen Rücken durchgeschwitzt. Ein Ehepaar aus dem Reiche sitzt am Nebentisch und macht Kulleraugen. Fabelhaft, was für einen repräsentablen Herrn sich das Hotel da in diesem Tänzer gefischt hat! Was der wohl von Beruf gewesen sein mag, ehe er so verarmte, daß er hier ums Essen - und um ein gelegentliches Geschenk einer reichen Dame - nachmittags und abends seine schlanke Figur herleiht ? Obs ein russicher Großfürst ist ? Ob man dem Manne nicht irgendwie helfen kann ? Schon winkt das Ehepaar einen Kellner heran, steckt ihm eine Mark extra zu und bittet um die nötigen Recherchen. Der sieht die Leutchen nur entgeistert an und sagt: "Aber das ist doch Herr Louis Adlon selber&nbsp!"

Man kann diesen Louis Adlon, den stillen Protektor vieler Männer von Geist, den uneigennützigen Helfer manches klangvollen Verarmten, hier so zwanglos als Herrn des Hauses sehen, während sonst eine dreifache Menschenmauer ihn absperrt. Es ist fast unmöglich, in irgendeiner der bekannten "dringenden Angelegenheiten" ihn zu sprechen, und Bettelbriefe gelangen bestenfalls bis zu seinem Generaldirektor. Seinen Verkehr und - seine Schützlinge sucht Adlon sich selber aus. Er ist unter den Berliner Hotelbesitzern eine in seiner Art einzigartige Erscheinung, ein Grandseigneur, der nicht so leicht zu kopieren ist. Aber den Freiluftsaal, den werden sie natürlich nachmachen, denn der hat gleich in den ersten Tagen gezeigt, daß er ein Bedürfnis ist, und das läßt bei Aufwendung der nötigen Geldmittel sich ja befriedigen.

Wer von den zahlreichen Berlinreisenden jetzt den Abend bei Jubel und Trubel in freier Luft verbringen will, der wählt meist den Lunapark als Ziel, wo für 70 Pfennig Eintrittsgeld - der Nepp fängt erst bei dem Besuch der vielen kleinen "Attraktionen" an - Musik und Feuerwerk und neuerdings sogar Boxkämpfe geboten werden, die man sonst im Sportpalast und anderswo nur unter sündhaft teuren Kosten sich gönnen kann. Für 70 Pfennig ein Wagnerabend des philharmonischen Blasorchesters gleichzeitig mit dreimal vier Runden Faustkampf! "Darf ich Meister mich nennen, das bewähr' ich heut gern!", summt mit Beckmesser der Mann im Ring und zieht die Handschuhe an. Erste Runde. das Schmiedelied Jung-Siegfrieds mit Klick-Klack der hämmernden Fäuste. Da, ein Solarplexushieb, ein Magenhieb: "Trauriges Dunkel trübt mir den Blick; mein Auge dämmert, das Licht verlischt!" Zweite Runde, ein linker Kinnhaken: "Zu Grunde stürzt Grane der Starke!" Walhallamotiv. Meisterlied. Und Loge lacht an der Kasse.
15. Juli 1926 (Donnerstag)


45

Das Leben auf dem Balkon - Serenade und Loggia - Weekend - Entdeckerfahrten in den Spreewald - Wenden und Goten - "Wenn du noch eine Amme hast ..." - Alte Berliner Familien - Eine derbe famose Frau

Irgendwo steckt in uns Großstädtern zutiefst die Sehnsucht nach der Natur. Man kriegt plötzlich eine Wut auf den Fahrstuhl, auf den Staubsauger, auf den Müllschlucker, auf den Fernsprecher, auf den Rundfunk. Man geht auf seinen Balkon und beäugt liebevoll das Bohnengeranke am Gitter. Jeder taub abfallenden Blüte trauere ich redlich nach. Jeden - ach, so selten - heranfliegenden verirrten Schmetterling, der die Blüten befruchten könnte, jedes Insekt, das sein Rüsselchen in die Süße versenkt, begrüße ich als trauten Freund. Der ganze Vorgang hat etwas so Zartes, Poetisches, Verträumtes. Nur der große Racker, die Hummel, ist brutal in der Erzwingung des Genusses; die Hummel gibt sich nicht die Mühe, zwischen den feinen Staubfäden hindurch sich in die Schatzkammer des Kelches zu tasten, vorsichtig, ritterlich, liebevoll, sondern sie reißt von außen mit ihrem Stachel ein breites Loch in die Blüte und steckt dann da die Schnauze gierig hinein.

Sage mir, wie die Balkons bei euch aussehen, dann sage ich dir, was für ein Volk ihr habt. In vielen spanischen Städten sind sie Ziegenstall und Rumpelkammer. In Süditalien sind sie Trockenboden für die Wäsche, sind sie Teppichklopfanstalt und Ausguß für Spülwasser und Gemüsereste. Noch weiter in den Orient hinein sind sie zum Erker vermummt und dienen zum ungesehenen Lugen auf die Straße. In Berlin und anderen deutschen Großstädten werden sie in der Hauptsache zur Kultstätte für die Natur.

In ganz alten Zeiten hatten sie ja wohl andere kultische Zwecke. Solange die Straßenbeleuchtung noch nicht so erbarmungslos hell war, konnte unten irgendwo in Dämmer und Dunkel der Jüngling auf der Zupfgeige zirpen, und oben lauschte mit klopfendem Herzchen seine Schöne; und dann fiel ihr wohl ein, daß sie vergessen habe, noch einen Krug Wasser vom Brunnen zu holen, und flink sagte sie es der arglosen Mutter. Heute ist allenfalls die feine Abart des Balkons, die Loggia, dem Frauendienst geweiht. Aber da sitzt der Verehrer unmittelbar dabei, unter der rotseiden verhängten elektrischen Ampel, und die moderne Holde hantiert mit dem Steckkontakt an dem elektrischen Teekessel; und der Jüngling braucht sich nicht eigenhändig mit Ständchen und Serenade zu bemühen, denn drinnen im Zimmer ist auch das Grammophon elektrisch angeschlossen und miaut in schnellem Tempo, von Sam Woodings schwarzer Kapelle verjazzt, den Pilgerchor aus dem Tannhäuser herunter. Der gewöhnliche billige Eisenbalkon der Mietskaserne, der Berliner Mittelstandsbalkon, ist nicht eingerückt, wie die Loggia, sondern außen angeklebt, verleitet also weniger zu Intimitäten. Er ist nach des Tages Last und Hitze für das Luftschnappen bestimmt und hat auch meist nur gerade zur Not Platz "for Vatern" und seine "Olle". Er hat das Staatsmöbel inne, den Liegestuhl, hat das Hemd über der Brust geöffnet und freut sich an den Blumen und an seiner Tabakspfeife. Sie aber hockt auf einem Schemelchen und putzt Gemüse in die Schüssel auf dem Schoß. Man läßt seine Augen auch auf anderen Balkons ausruhen, die durch den Lichtschein aus den Zimmern dahinter ungewiß erhellt werden, man stellt fest, daß Frau Schmidt ein neues Hauskleid an hat, daß der junge Herr Müller eine große "Weiße mit'm Pfiff" trinkt und daß bei Lehmanns die Geranien verblüht sind. Spotte, wer spotten mag, - ich finde diese Art Feierabend im Volke rührend, jedenfalls besser so, als wenn der Mann in der stickigen Kneipe sitzt und die Frau derweil "egal" in der Küche.

Das sind die Leute, die sich hier einen kargen Ersatz dafür suchen, was für andere, wohlhabendere Mitbürger die Sommerfrische oder das regelmäßige Weekend außerhalb der Stadt ist, das Wochenende, das uns jetzt als demnächst zu eroberndes allgemeines Menschenrecht geschildert wird. Bis vor kurzem kannte man bei uns nur das "saure Wochen, frohe Feste". Der Deutsche, und nicht zum mindesten der Berliner, arbeitete am Sonnabend womöglich noch länger als sonst, schuftete wie im Akkord, um das Angesammelte und Unerledigte wegzuschaffen, damit er dann mit reinem Gewissen am Sonntag in die reine Wäsche schlüpfen könne. Das war unsere Stärke. Damit haben wir auch im Auslande manchen Wettbewerb niederkonkurriert. Ich behaupte noch heute: die Engländer mußten schon deshalb Krieg gegen uns führen, weil wir das Weekend nicht kannten; weil unsere jungen Leute in Hankau und Valparaiso und Brisbane noch "Aufträge effektuierten", während die ihrigen längst auf dem Golfplatz waren.

Ein einziger Wochenend-Ausflug im Jahre ist aber für den kleinen Mann in Berlin ebenso herkömmlich und unumgänglich wie die Sonntagsfahrt zur Baumblüte in Werder: das ist der Ausflug in den Spreewald. Dieses Gewirr von Flußarmen und Kanälen nennt er, wenn er poetisch werden will, das märkische Venedig, - und eines haben Venedig und der Spreewald ja auch gemein, nämlich die Myriaden von Mücken. Als wesentlichen Unterschied kann man feststellen, daß man sich dort an übermäßig genossenem Speiseeis, hier aber an übermäßig genossenen Salzgurken den Magen verdirbt. Die Spreewäldler sind in der Hauptsache Gemüsebauern, und ihre Salzgurken sind eine Spezialität, die auch Durchreisenden auf den Bahnsteigen in Massen angeboten wird. Leider ist der "Wald" in den letzten Jahrzehnten vielfach zur dünnen Kulisse geworden. Früher dehnte sich dieser prächtige, saftige Laubwald, mit dem die Grunewaldkiefern auch nur zu vergleichen Tempelschändung wäre, meilenweit fast undurchdringlich aus, heute umsäumt er oft nur noch schleierartig die Wasserläufe und verbirgt kaum mehr, was dahintersteckt: Felder, Felder, Felder. Auf diesen Feldern gedeiht alles vortrefflich, ganz besonders die berühmte Gurke, und jedem Berliner Kleinbürger leuchten die Augen, wenn er den ebenso berühmten und dabei fast blödsinnig anmutenden Schlager hört:

"In Lübbenau, in Lübbenau
Sitzt ein Indianer hinterm Bau
Und schmeißt mit sauren Gurken.
Was sagt ihr zu dem Schurken ?"

Das Leben in der nivellierten Millionenstadt, in der jedermann "europäisch" gekleidet ist, ist arm an Romantik, im Spreewald draußen aber reißt der Berliner Junge, wenn er Sonntags früh mit Vater und Mutter und Hunderten anderer Ausflügler sich vor der Kirche in Burg aufbaut, Mund und Augen auf, denn da ist eine leuchtende verwandelte Welt. Da stolzieren die Mädchen und Frauen der wendischen Bauernschaft in ihren alten Trachten daher, in den sich plusternden vielen bunten Röcken übereinander und in den mächtigen weißen Hauben und den brennend farbigen Busentüchern. Und sie sprechen nicht einmal deutsch untereinander, diese Leute, sondern etwas ganz Fremdartiges, eben wendisch; und keine Straße und keinen Bürgersteig haben sie,sondern nur Wasser, Wasser und Wald, und jeglicher Verkehr von Hof zu Hof, von Ortschaft zu Ortschaft vollzieht sich auf Kähnen, primitiven für die Eingeborenen und solchen mit gondolaartig bequemen Sitzen für die Fremden. "Det sind bestimmt Hindianer!" erzählt Karlchen nachher den Nachbarkindern in Berlin. Weder Cook noch Stangen oder andere Reisebureaus haben bisher diese Wochenendfahrten vergesellschaftet. Es sind meist Volksschullehrer aus einfacheren Berliner Vierteln, die an jedem Sonnabend um ½3 Uhr nachmittags auf dem Görlitzer Bahnhof in Berlin ihre Gefolgschaft versammeln; schon für 16,50 Mark kann man die Bahnfahrt hin und zurück 3. Klasse, die Führung und Erklärung, die Kahngondelei am Sonntag, das Essen, abgesehen vom Mittagbrot, und das Nachtquartier haben - dieses "in Betten", wie der Prospekt besonders hervorhebt. Natürlich könnte man, wären wir nur in Verkehrsdingen so industriös veranlagt wie andere Völker, aus dem Spreewald die "greatest attraction" selbst für verwöhnte Amerikaner machen. Das ist ja nicht nur Naturschutzpark, sondern auch Völkerschau. Wenden, und Slawen überhaupt, haben einst bis an den Harz und bis zur Lübecker Bucht bei uns gesessen, so wie umgekehrt noch früher die Germanen bis zum Don und der Wolga, wovon die herrlichen gotischen Goldfunde in der Krim und anderswo zeugen. Aber jetzt ist das Slawische bei uns aussterbender Rest. Im Spreewald gibt es nur noch ganz wenige alte Leute, die nicht geläufig deutsch sprechen können, und wenn wir noch die allgemeine Wehrpflicht hätten, die große Eindeutscherin, so würde das Wendische noch schneller dem Deutschen weichen. Gelegentlich kommt auch aus dem feinen Berliner Westen Besuch in den Spreewald, aber nicht zu ethnologischen Studien, sondern etwa zur Gratulation, wenn - die eigene ehemalige Amme ihre Silberhochzeit feiert und dazu ihre Milchkinder einlädt. Ich habe selten etwas so mütterlich Verklärtes gesehen, als solch eine Frau, wenn sie beispielsweise ihre eigenen Kinder den fremden jungen Herren aus der Stadt vorstellt und die Hände der eigenen und der fremden ineinanderlegt; und selten etwas so unbeholfen Täppisches in dieser Umgebung, als die auf dem Parkett so heimischen smarten Berliner. Um das "Peinliche" zu mildern, nehmen sie sich auch wohl Freunde zu diesem Pflichtbesuch mit. Und von denen werden sie womöglich noch mit dem Berliner Schnadahüpfl verkohlt:

"Wenn du noch eine Amme hast,
Die dich gesäugt als Rangen,
So kannst du das, wenn du erwachsen bist,
Nicht mehr von ihr verlangen!"

Und dann wird in der Wotschofska oder einer anderen wendischen Wirtschaft kräftig "einer gehoben", man trinkt sich Mut an und fragt wohl auch im Auftrage irgendeiner bekannten Familie herum, ob die nicht "direkt" eine gesunde dralle Spreewälder Amme bekommen könne, da man zu denen, die durch Berliner Mietbureaus gingen, nicht mehr so viel Vertrauen habe. Es wird immer so viel von der "halb slawischen" Bevölkerung Berlins gefaselt, woran kein wahres Wort ist; aber das ist wahr, daß beinahe der halbe Kurfürstendamm mit wendisher Muttermilch aufgepäppelt wird, die ihm jedenfalls besser als Soxhlet bekommt.

Das sind zum großen Teil Zugewanderte, heute mehr denn je. Die alteingesessenen Abkömmlinge der Berliner Zünfte und Geschlechter brauchen zumeist keine Ammen. Deren Mütter nähren selbst. Es gibt Prachttypen darunter, nur sind sie nicht allgemein bekannt, weil sie genau so exklusiv sind, wie etwa die Holzhausens und ähnliche in Frankfurt am Main, die man auch nicht in einem Atem mit beliebigen Börsianern nennen kann. Ein alter Herr aus diesen alten Berliner Familien - ich nenne nur die bekanntesten Namen: Schultheiß, Gilka, Bötzow - ist kürzlich gestorben, und bei dieser Gelegenheit erinnert man sich wieder daran, daß wir sozusagen auch einen bürgerlichen Adel haben, der auf lange Jahrhunderte zurücksieht. Eine famose kernfeste Frau aus diesen Kreisen habe ich zu kennen die Ehre. Nun, ein bißchen derb, ein bißchen berlinisch ist sie freilich -, was sich trotzdem mit wirklicher Bildung gut verträgt. Ihr Mann gab einmal ein Herrendiner, eine Königliche Hoheit war dabei, und als einer der Gäste etwas erzählte, erstarrte man plötzlich zu Eis, denn die Frau sagte ganz trocken: "Machense sich man bloß nich in de Hosen!" Das heißt auf hochdeutsch aber doch nur: "Ich finde Ihre Behauptung etwas unwahrscheinlich." In Süddeutschland hat man für derb volkstümliche Bemerkungen mehr Verständnis. Da kommt einer in tiefer Trauer und berichtet vom Tode eines Verwandten. "Ja do leckst mi glei am A . . . .!", erwidert der Nachbar, und besser, meint er, könne er Überraschung und Mitgefühl nicht zum Ausdruck bringen; und der also Angeredete meint das auch und schüttelt ihm dankbar die Hand. Also um auf besagt Urberlinerin zurückzukommen: sie hat nicht nur ein tüchtiges Mundwerk, sondern ist auch sonst die Tüchtigkeit selbst. Während des Krieges kutschierte sie unermüdlich wiederholt ein Auto mit Liebesgaben unter Vermeidung von Etappenaufenthalt bis in die vorderste Front. Und sie ist vermutlich die einzige deutsche Frau, die - über dem Feinde geflogen ist. Ein Fliegeroberleutnant, Abteilungsführer, nahm sie auf dem Beobachtersitz mit. Er bekam nachher dafür einen kilometerlangen Anpfiff, sie aber hatte sich nie so grenzenlos deutsch und glücklich gefühlt als oben in den Lüften im feindlichen Flakfeuer. Ihre kleine Tochter, ein fünfzehnjähriges Ding, ist übrigens die wildeste Reiterin auf 20 Meilen im Umkreise. Tanzt aber auch ebenso gut wie die gleichalterigen reinen Großstadtgirls; das habe ich kürzlich feststellen können, als wir sie einen Abend bei uns hatten, und zwar einen recht vergnügten.

Unsere Bekannte, die, wie gesagt, einer der Familien Schultheiß, Gilka, Bötzow angehört, wurde von einem hervorragend tüchtigen Offizier geheiratet. Die Familie rümpfte aber die Nase: wie komme dieser Nichtsalsoffizier dazu, hier so einfach hereinzuheiraten ? Sein Schicksal als bloßer Prinzgemahl war alsbald besiegelt, die Hälfte jeder Woche hielt die Frau - später mit den beiden Kindern - sich auf der Besitzung der Familie draußen vor Berlin auf, und heute sind die beiden prächtigen, knorrigen Menschen geschieden.
22. Juli 1926 (Donnerstag)


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Der dritte Ferienschub - Die empörte Hausschneiderin - Beim Zahnarzt - Lola Kreutzberg - Heiraten, Geburten, Scheidungen - Scheidemann in Karlsbad - Meckerndorf an der Mecke - Unter dem Meckersystem

Schon rüstet sich der dritte Schub, zu dem auch wir gehören, zum Abmarsch in die Sommerferien, während der erste, der im Juni draußen war, sein Seebraun auf dem Tauentzienbummel zeigt, vielfach unter Nachhilfe aus dem Tuschkasten, und der zweite besonders kinderreiche aus dem Juli noch nicht zurückgekommen ist. Bei manchen Leuten ist das Rüsten freilich sehr einfach. Auch in der als anspruchsvoll verschrienen Reichshauptstadt gibt es noch männliche Barbaren, die im August auf ihre Hochtour gehen, nur alle paar Tage den letzten Talort, in dem ihre Frau derweil sitzt, zu kurzer Ruhepause und neuer Verproviantierung aufsuchen und daher gar keinen Wert darauf legen, daß die Gattin auch wirklich nett und adrett mit ihrem Staate Staat macht. "Also, du nimmst auf die Reise den Lederhut, den Lodenmantel, Lodenrock, eine Alltagsbluse und eine gute Bluse mit, fertig!" Es gibt wirklich Frauen, die gar kein Gefühl für die unbekümmerte Roheit haben, die in solcher Anordnung liegt, wie ja auch der Mann sich dessen gar nicht bewußt ist, daß er Unnatürliches, der Natur der Frau Widersprechendes verlangt. Wenn das große Aufatmen einmal im Jahre kommt, dann muß die Frau sich auch schmücken dürfen, dann soll sie ihr Bestes aus den Schränken zusammensuchen. Es lohnt sich schon; denn für ihren Mann wird sie dann neu aufblühen.

Das Rüsten kostet freilich immer ein bißchen Geld. Auch wenn man sich nichts Neues zulegt, nur das Alte "auf neu" umarbeiten läßt. Man glaubt, so an die 8 Tage werde die Hausschneiderin zu tun haben. Nachher sind es 14 Tage. Die Hausschneiderin ist empört, daß man auch ein liebes altes Sommerkleidchen "mit Wasserfall an der Seite" mitnehmen will. Das gehe wirklich nicht, das sei schon ganz unmodern; Volants oder Tüten müsse man machen. "Und was ist denn das da ?" flüstert sie plötzlich gellend und zeigt blaß vor Entrüstung auf eine seidene Bluse, die rechtzeitig zu verstecken nicht mehr gelungen ist. Man denke, eine - fertig gekaufte Bluse, nicht von ihr gemacht! Das hätte die Hasuschneiderin sich denn doch nicht träumen lassen, daß wir uns zu solchen Proletariern entwickeln könnten.

Derartige kleine Dramen gibt es überall. Manchmal erweist sich der Rüstungskredit für den Sommer wohl auch als zu klein. Am meisten zehrt das Unvorhergesehene daran. Nur die sorglichsten Hausväter beispielsweise schreiben an die Spitze des Reiseetats einen Betrag für den Zahnarzt. An mir persönlich verdient der unserige nicht viel, ich lasse mir nur alle paar Jahre bestätigen, daß ich ihn nicht nötig habe. Ein Bekannter von uns hat neulich bei ihm schlappgemacht. Ein Zahnarzt kann eigentlich an keine Helden mehr glauben, sage ich. Doch, doch, versichert mir der Arzt, - nur freilich an keine männlichen Geschlechts, aber es sei erstaunlich, wie tapfer viele Frauen seien.

Das kann ich mir sehr gut vorstellen, nur sind es merkwürdigerweise nicht die sportlich gehärteten jungen Mädchen der neuen Zeit, die der Wehleidigkeit abgeschworen haben, sondern mehr die geduldigen Mütter der alten Art, weil sie es gewöhnt sind, nicht viel Wesens von sich zu machen. Nicht tapferer, nur selbständiger ist man heute geworden. Ganz febalhaft selbständig. Es gibt selbst in Berlin noch verheiratete Damen, die nicht dazu zu bringen wären, allein in ein Kaffeehaus zu gehen und allein beim Kellner etwas zu bestellen. Aber da hält neulich ein kleines Auto vor meiner Tür, in dem nur eine unverheiratete Dame mit ihrem Hunde sitzt, und dieses Auto hat die Dame schon kreuz und quer allein durch - Indien gesteuert. Ich denke daran, weil "Sport im Bild" ihr Bild bringt: Lola Kreutzberg in ihrer Vortragsrobe für Amerika. Jawohl, eben ist sie drüben, die berühmte Filmzoologin, wie sie genannt wird. Vor ein paar Jahren lernte ich sie auf Helgoland kennen, wo sie, natürlich außerhalb der offiziellen Besuchszeiten, stundenlang mit ihrem Apparat in dem Nordseeaquarium stand und geduldig die kurzen Augenblicke abwartete, wo sie die Salzwassertierwelt in ihrer Intimität filmen konnte, in Tanz und Spiel und Liebe und Raub und Kampf. Einer Freundin in Berlin hat Fräulein Kreutzberg eine Photographie von sich selber geschenkt; sie mit einem jungen Löwen im Schoß. Wer vor keinerlei Tieren Angst hat, hat wohl auch keine vor Menschen. Nur einmal ist es kritisch geworden. Tief im Innern von Sumatra. Da kam Lola Kreutzberg, die schöne blonde Germanin, wie immer mutterseelenallein mit ihrem Auto und ihrem Hunde auf Tiersuche in eine gottverlassene Eingeborenengegend, und die Männer dort wurden gierig und handgreiflich. Die Männer. Das sind die einzigen Feinde. Das sind die einzigen Raubtiere. Aber eine moderne Berliner Filmzoologin kann auch sie selbstverständlich bändigen, ganz gleich, ob sie als Naturmenschen auf Sumatra hausen oder als Geschäftsleute in Newyork. Vor einigen Jahren hat die erste Frauenbank in Berlin, eine Bank von und für Frauen, die keinen einzigen männlichen Angestellten hatte, noch Bankerott gemacht, da die Damen im Börsenspiel den Männern nicht gewachsen waren. Vielleicht geschah die Gründung zu früh; heute würde man vielleicht schon Erfolg haben, denn die Zahl der weiblichen Wesen, die es auch geschäftlich mit dem Manne aufnehmen, wächst ständig. Freilich sinken entsprechend die Heiratsaussichten. Die Junggesellin von heute hat's nicht nötig. Und die Männer von heute wollen die Junggesellin nicht als Frau. Allenfalls "auf Zeit", als Reisekameradin "mit getrennter Kasse", wie man das zu nennen pflegt.

Trotzdem wird natürlich auch in Berlin immer noch fleißig geheiratet, nur nicht mehr mit dem früher als natürlich geltenden Erfolge; im letzten Vierteljahr haben die Todesfälle die Geburten an Zahl übertroffen, haben die Scheidungen wieder ihre höchste Ziffer aus dem Jahr unmittelbar nach dem Krieg erreicht. Die geschiedene Frau gilt nicht mehr als Freiwild. Es hängt ihr nichts mehr an. Auch diese Veränderung in den gesellschaftlichen Anschauungen der Großstadt gehört zu der Emanzipation der Frau. Die sonst in der äußeren Aufmachung ihrer Amtsstuben so nüchterne Stadt hat schon früher Wert darauf gelegt, die Trauzimmer ihrer Standesämter mit Bildern und figürlichem Schmuck möglichst poetisch auszustatten. Neuerdings wird auch - das andere Ende der Lebensbahn geschmückt. In der Ehescheidungskammer des Landgerichts am Tegeler Weg, in dem hohen hellen Raum, in dem drei ernste Männer täglich dutzendfach lösen, was fröhlich dreinschauende Standesbeamte einst geknüpft haben, steht über ihrem Sitzungstisch an der Wand der nachdenkliche Spruch:

Die meisten haben das meiste satt,
Was ihnen das Glück beschieden hat,
Weil sie fortwährend das andere quält,
Was andere haben und ihnen fehlt.

Manch einen mag der Spruch noch im letzten Augenblick davon abhalten, hier vor der Ehescheidungskammer ausfallend und hart gegen den "Prozeßgegner" zu werden, von dem man geschieden zu werden begehrt. Es ist übrigens kein Wunder, daß unter den auseinandergehenden Eheleuten die meisten kinderlos sind; die Unnatur der gewollten Kinderlosigkeit rächt sich durch gesteigerte Nervosität, und die macht die Menschen einander unleidlich. Ein großer Naturforscher hat uns einst die sieben unlösbaren Welträtsel aufgezählt, die für unseren Verstand unerklärbaren Dinge, darunter das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung: wie beispielsweise eine Wellenbewegung des Äthers sich in gehörten Ton für uns umsetzt. Man könnte vielleicht noch einige Wunder hinzufügen. Eines davon, für das wir keine Lösung wissen, ist die Zunahme der Knabengeburten nach großen Kriegen. In Berlin kommen jetzt 107, in Hamburg sogar 110 Knaben auf 100 Mädchen, die neu geboren werden. Also gute Aussichten für die Zeit um 1950, sagen seufzend die Mädchen, die während des Krieges heranwuchsen und heute nur eine sehr beschränkte Auswahl unter den Männern haben.

"Es gibt überhaupt keine Männer mehr!" sagen viele von ihnen und rümpfen die Nase; wenigstens keine männlichen Männer. Nicht einmal die Revolution hat Helden auf ihren Wogen dahergetragen. Man kann Herrn Scheidemann jetzt in Karlsbad auf der Brunnenpromenade täglich in übereleganten Anzügen und sehr schicken Pullovern von prächtigen Farben einherschwänzeln sehen, aber nicht einmal er, der Herrlichste von allen, ist das Idealbild eines Mannes. Sie alle sind heute nur Sprecher, Redner, Schwätzer. Es ist kein Zufall, daß der Ausdruck "meckern" im letzten Jahre in Berlin zu dem gangbarsten geworden ist. Alles meckert, macht unnütz Worte. Schon benutzt man dies in weiser Selbstverspottung in unserer Epigonenzeit. Draußen im Südosten der Mark, am herrlichen Scharmützelsee, haben sich seit Jahren darstellende Berliner Künstler mit ihren Familien, als einer der ersten der große Komiker Hans Waßmann, in puppigen kleinen Villen angesiedelt, abgesondert von den "großen Seeplätzen" Saarow und Pieskow. Es fließt ein namenloser Graben da durch. Es ist eine richtige Kolonie geworden. Man hat schon in einer Ulksitzung den braven Harry Liedke zum Bürgermeister gekürt und beschlossen, den neuen Ort zeitgemäß - Meckerndorf an der Mecke zu nennen. Auch in der Politik dieses Jahres lauter Gemecker und Drumherumgerede mit großen Worten. Oder haben wir etwas davon, daß der "Cri de Paris" schreibt, Herr Stresemann werde als der "Bismarck von Locarno" auf die Nachwelt kommen ? Man liest den Hohn heraus; ebenso aus der Bemerkung derselben Wochenschrift zu dem Porträt unseres Außenministers, es sei unmöglich, auch nur im Traume sich ein typischer germanisches Gesicht vorzustellen. Aber es mag Leute geben, denen so etwas Spaß macht, die in dem ganzen Gemecker lauter Taten sehen. Heute schreibe ich das letzte Berliner Allerlei dieses meines Jahrganges 1925/26, aber schon im Winter stand es bei mir fest, wie ich den neuen Band gesammelter Wochenplaudereien, wenn er im Buchhandel herauskäme, nennen wollte. Ich stand damals einem hohen Herrn gegenüber, der mich danach fragte; ihm könnte ich es doch, meinte er, ein bißchen früher verraten als dem gesamten Publikum. Da straffte ich mich und brüllte militärisch:

"Mecker' nich!"

Der hohe Herr prallte im ersten Moment zurück, denn das hatte ihm noch niemand gesagt. Dann zuckte ein Strahl des Verständnisses über sein Gesicht, und er nickte Beifall zu diesem - Buchtitel. Gewiß, in dem Kelch unseres Leidens hat sich manche Hefe schon gesetzt. Von Jahr zu Jahr gibt es wieder ein bißchen mehr Ordnung in Berlin. Ausländer behaupten schon, die Stadt mache fast denselben Eindruck wie vor dem Umsturz; wenigstens äußerlich. Aber das eine bleibt doch: daß jedes Gemeinwesen heute - Reich, Staat, Stadt - von Leuten regiert wird, die lediglich von der Angst vor Unpopularität getrieben werden. Daher wird so wenig getan, daher wird so viel gemeckert.

Einst galt sprichwörtlich das Recht als das Fundament der Königreiche. Heute wird es von Sophisten in parlamentarischen Ausschüssen totgeredet. Einst galt der in seinem Berufe tüchtige Fachmann als Zierde der Gesellschaft. Heute wird nur noch ein Talent, die Überredungsgabe, als Befähigung zu führenden Stellen anerkannt. Wer reden kann, wer Volksversammlungen herumkriegen kann oder sich von ihnen geschickt schieben läßt, der hat dem Marschallstab in der Aktentasche. Anderswo steigt den Völkern bei diesem System schon der Ekel auf. Wir müssen es anscheinend noch eine Weile durchprobieren.

Noch meckert ganz Berlin.

Aber einmal wird es wortlos zu seiner Befreiung schreiten.
29. Juli 1926 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts