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Portièren-Schicksal - Die Seligkeit des Kaufens - Minnas Kleiderschrank - Es gibt keine Proletarier mehr - "Schatz, verschluck dich nicht!" - Schaufenster-Idioten - Café Biedermeier - In der Maienzeit - Nach dem Abschminken bei der Kostrowa
Es war einmal eine Portière; aus lichtbraunem Samt mit goldgelbem Futter. Solch ein Vorhang ist, wenn ein lachender Frauenkopf hindurchlugt und "Guck, guck - da, da!" spielt, schon ein Romankapitel für sich. Außerdem sind Portièren so wohltuend, weil sie den Schein behaglicher Vornehmheit in einem erwecken. Ich war sehr stolz, als wir vor langen Jahren die Flügeltür aushoben, auf der Bodenkammer verstauten, und statt dessen den Vorhang anbrachten. Eines Tages wurde die Tür wieder heruntergeholt und die Portière zur Chaiselongue-Decke degradiert. Als Hans im Glück lag ich darauf. Die besten Sachen fielen einem hier ein; nicht nur lachende Frauenköpfe.
Es war aber auch durchaus nicht mehr die passende Zeit für Vornehmtun. In den ersten Jahren nach dem Kriege, wo das Geld zu einem Nichts und der Sachwert zum Rettungsasyl wurde, entdeckten wir, wie verschwenderich wir immer noch seien. Wozu braucht die Decke eigentlich Futter ? Also es wurde herausgetrennt, dunkelgrün gefärbt, und den schweren warmen Stoff "legten wir uns hin"; man kann nicht wissen. Jetzt ist das seit zweieinhalb Jahren ein Morgenkleid. Ein unverwüstliches Morgenkleid. Auch die zurückgebliebene samtene Decke, nach häufiger Säuberung etwas hell und verschossen, steht wohl noch nicht am Ende ihrer Lebensgeschichte, sondern wird - solide wie altes System überhaupt - auch noch etliche Metamorphosen überdauern. Schließlich ist beides für uns Museumsstück; fünfundzwanzig Jahre Deutschland sprechen zu uns sehr anschaulich daraus.
Manch einer wäre in diesen Tagen sicherlich gern zur Einweihung des Deutschen Museums in München gefahren, dieser Jahrhunderte-Schau des Werdeganges deutscher Technik. In vielen deutschen Häusern kann man statt dessen mit gleichem Stolze, wie wir, eine Übersicht des deutschen Könnens im Sich-nach-der-Decke.strecken sich leisten. Fast jede Familie hat doch so eine Art Portière oder etwas ähnliches als Heimgeschichte. Auch sollten die kargen Zeiten selbst von denjenigen unter uns nicht vergessen werden, denen es jetzt besser geht, die wieder frei aufatmen können und die Seligkeit des Kaufens, des Ergänzens von Hausrat, in vollen Zügen genießen. Es füllen sich doch schon erneut die Wäscheschränke; und allmählich, ganz allmählich, bekommen auch die Möbeltischler wieder zu tun, während in den Jammerjahren irgendein "neues" Stück nur dann an einen gelangte, wenn die Tante starb.
Aber zunächst gibt man immer noch dem Anschaffen von Kleidung einen weiten Vorsprung. Über unsere Frauenwelt ist die Unersättlichkeit des Mitmachenwollens gekommen. In einer Art wohliger Trunkenheit kaufen auch die Dienstmädchen ein. Sie sind heute besser gekleidet und beschuht, als es vor dem Kriege die Töchter unseres gebildeten Mittelstandes waren. Selbstverständlich trägt Minna, wenn sie Donnerstags und Sonntags tanzen geht, auch seidene Strümpfe; und wir haben ihr in ihr Zimmer, da sie mit der früher üblichen Kommode und den Haken an der Wand mit Vorhang nicht mehr auskommt, einen mächtigen Kleiderschrank stellen müssen. Das ist jetzt fats bei allen Berliner "Hausgehilfinnen" nicht anders; sie sind vollkommen dritter Stand geworden. Das, was man sonst Proletariat nannte, das kommt einem, wenigstens nach Feierabend, kaum mehr vor Augen, es sei denn das neue Proletariat, die Herabkömmlinge aus dem Stande der ehedem in den Zeiten der alten kaiserlichen Reichsmark so zufriedenen Kleinrentner. Wer noch arbeiten kann und Arbeit hat, der zahlt heute weniger für seine Wohnung, gibt aber mehr für seine Kleidung aus. Das Heldentum der Entsagung auf diesem Gebiete übt nur noch die Arbeiterfrau, die das Heim voll Kinder hat; aber in neun von zehn Fällen verzichtet dann wenigstens der Mann nicht auf seine "feine Kluft" und geht eben allein aus, während die Frau daheim einen neuen Flicken auf die Schürze und die Bluse und die Kinderhemdchen setzt. Mit Kopftuch sieht man Frauen in Berlin nur noch dann, wenn polnische Durchwanderer kommen. Sonst hat auch die einfachste Berlinerin jeden Sommer ihren neuen Hut. Dieser regelmäßige Wechsel wirkt uniformierend; kurzsichtige Leute können heute die verschiedenen weiblichen Wesen kaum mehr unterscheiden.
Also du gehst mit deiner Begleiterin zum Mokka mit Musik. Du mußt mal telephonieren. Du kehrst zurück und schaust dich an den vielen kleinen Tischchen nach ihr um. Es scheint dir, daß alle Damen Blindekuh spielen wollen, den alle haben denselben tief über die Nase gestülpten Helmhut. Keine Stirn, kein Auge zeigt sich, da Haar ist verdeckt, und die Kleider sind alle rostrot oder rosenholzrot oder zimtrot oder ziegelrot. Ha, da ist sie. Die, die ihren Helmrand fast in die Schlagsahne stippt. Du nahst, du berührst ihre Schulter, du sagst: "Schatz, verschluck dich nicht!" Eine wildfremde Person verdreht ihren Kopf und schielt dich mühsam unter dem Hutrand weg an. Sei froh, wenn es nicht zufällig die Gattin des Meisterboxers Samson-Körner ist. Sonst hast Du im nächsten Augenblick Deinen Leberhaken weg und klebst an der Wand. Telephoniere nie mehr, ohne vorher Deine Begleiterin zu markieren. Etwa mit einer Schleife in den lippischen Landesfarben; oder, noch einfacher, mit einem Auto-Schildchen: I.A.10742.
Vielleicht empfiehlt sich ähnliches auch für die Männer. Früher konnte man sie wenigstens an den verschiedenartigen Schnurrbärten auseinanderhalten. Heute, wo das glatte "Sportgesicht" fast ausschließliche Mode ist, sehen Unzählige einander ähnlich fade aus. Schon machen die Wachspuppen in den Schaufenstern der Kleidergeschäft mit. Diesen "neuen Typ" kann man im Kaufhaus des Westens und anderswo in den Auslagen bewundern. Es ist der Idiot schlechthin.
Womit nichts gegen den Goethe-Kopf gesagt sei. Oder den Friedrichs des Großen. Oder einen glattrasierten Caesar. Ich bin ihnen nur in Berlin noch nicht begegnet.
Man freut sich schon, wenn man irgendwo auf etwas eigenwillig-betont Altmodisches stößt, etwa eine Dame mit vollem, nicht gebobbtem Haar, die einen breiten Florentiner Strohhut trägt, weil sie weiß, wie das sie kleidet. Oder wenn irgendein "Lokal" auf die moderne Charakterlosigkeit verzichtet und mit Urväter-Hausrat sich ausstaffiert. Mitten in dem lärmvollen Berliner Westen gibt es einen solchen köstlichen Ruhepunkt, das Café an der Ecke Augsburger und Kalckreuthstraße. Man öffnet die Tür, und es macht ganz uralt-traulich mit feinen Stimmchen: "Klingeling lingeling lingling." Und da umfängt einen - nur die Stühle an den Mitteltischen fallen etwas aus der Rolle - vollendetes Biedermeier. Und tiefer Friede. Hier sitzt keine Laufkundschaft, sondern nur Stammkundschaft. Es ist eine Oase in der Großstadtwüste. Ein Biedermeier-Sträußchen auf jedem Tisch. Hinten in einer Vitrine schönes Altmeißner Porzellan. Im Vorderzimmer - das ist das einzige Aufdringliche, nicht ganz Geschmackvolle in den Räumen - steht in einer Nische neben dem Eingang eine große Wachsfigurengruppe, ein Liebespärchen aus dem Biedermeier; das hat der biedermeier-verschwärmte Wirt bei der Versteigerung des eingegangenen Castan-Panoptikums erstanden. Dieser Wirt ist ein hoher, ernster, alter Mann. Er ist eigentlich gar nicht Wirt, wenn auch seine Frau einen trefflichen Kaffee braut, sondern Architekt. Er hat vor dem Kriege sechs eigene Mietshäuser gehabt. Aber die Kriegsteilnehmer aus den vielen Wohnungen bezahlten keine Miete, die Ladeninhaber unten hatten auch kein Geld, Steuern und Zinsen fraßen alles auf, und ein Haus nach dem andern mußte für ein Häufchen Papiergeld dank der Zwangswirtschaft verkauft werden. Es gab auch keine neue Arbeit für den Architekten, und so wurde aus dem reichen ein armer Mann. Tausendfältiges Schicksal braver Deutscher! Da hat er nun alle seine Möbel aus der eigenen Wohnung, das geliebte Biedermeier, zusammengenommen, sich die zwei großen Zimmer unten an der Ecke Augsburger und Kalckreuthstraße als Café gemietet und sie ausstaffiert. Er hält sich damit wohl nur gerade über Wasser. Eine Goldgrube ist das Unternehmen nicht, obwohl nur wenige Minuten davon entfernt das Leben der Kleiststraße und des Wittenbergplatzes vorüberschäumt. Es ist vorgekommen, daß ich mutterseelenallein und verträumt als einziger Gast dasaß. Besonders spät nachts. Wenn man von dem Trubel kurz vor dem Heimgehen zur Selbstbesinnung kommen wollte.
In der Maienzeit, wo schließlich doch auch in diesem großen Steinbaukasten Berlin der Saft in den Alleebäumen schießt und die Herzen und Sinne der Menschen von alleine sich erschließen, da sollten wir doch wohl des Trubels und der Anheizung durch Kabarett-Vorträge entraten können. Aber der Großstädter ist so unselbständig geworden. Er findet für das ausbrechende Gefühl keine Worte, es sei denn, daß er irgendeinen Schlagervers zitieren kann. Es wäre Dir schon recht, wenn die Liebste an Deinem Arm Dir bloß einmal so recht innig "Du! Du! Du!" sagte. Statt dessen trällert sie Dich mit einem
"So wie meiner, |
an, weil sie das bei ihrem letzten Kabarettbesuch aufgeschnappt hat. Wenn sie nichts Schlimmeres aufgeschnappt hat; denn man kann sich da vor plattesten Eindeutigkeiten kaum mehr retten. Aber in einem dieser üblen Dinger, das von zumeist üblen Einaktern französischer Schmierigkeiten lebt, hat sich nun doch ein Maiwunder vollzogen: eine Darstellerin von Klasse tritt da auf, zugleich Weib von so vollendetem Ebenmaß, daß die Bildhauer sich um sie reißen müßten, Warwara Andrejewna Kostrowa, die junge Gattin des berühmten russischen Kamenskij, des Verfassers der "Leda", der "Schwarzen Messe", der "Studentenliebe", der "Petersburger Menschen".
Um ½1 Uhr nachts sitze ich ihr in ihrer Garderobe gegenüber; sie hat sich schon abgeschminkt und glättet nur beharrlich den Pagenkopf, so daß das glänzende Haar wie Metall anliegt. Sie ist vorher in einem Sketch "Diplomat im Dienst" aufgetreten, wo sie die verführerische russische Spionin im Heim eines hochgestellten Österreichers gespielt hat. Da sie das Deutsche sowieso erst radebrecht, hat das ausgezeichnet gepaßt. Aber man glaubt ihr die Rolle, schon ehe man auch nur einen ihrer dunklen Gutturallaute gehört hat. Das ist die glatte Pantherkatze von einer unerhörten Pracht der Glieder, die die Männer beschleicht und vor dem tödlichen Ansprung willenlos macht. Der fleischgewordene Traum eines Praxiteles. Ihr Mann hat ihr die "Leda" buchstäblich "auf den Leib" geschrieben, wie man - sonst so oft zu Unrecht, nur in übertragenem Sinne - zu sagen pflegt. In diesem vieraktigen Drama, das ganz Wien verrückt gemacht hat, tritt die Kostrowa zweimal, im ersten und dann vor dem letzten Fallen des Vorhangs, wie eine Venus Anadyomene auf die Szene, in scheinbar naiver Anbetung ihrer eigenen Schönheit, während die Männer in echt russischer Spintisiererei über den Sinn oder Unsinn des Lebens und über die "Befreiung des Gedankens aus der Sklaverei" sich unterhalten, in Sentimentalität zerfließen und das heulende Elend bekommen. Unsereins kann da nicht mit. Die deutsche Rasse ist nicht so mongolisiert, so orientalisiert, daß sie Verständnis für dieses Gerede hätte; am allerwenigsten können wir die nihilistische Vorurtéilslosigkeit begreifen, mit der ein Dramatiker auch die körperlichen Reize seiner Frau hier so zur Ausstellung bringt. Aber was wahr ist, muß wahr bleiben: wenn es bei einer verlohnt, so ist dies bei Warwara Andrejewna der Fall. Eine derartige Statue der Schönheit - und doch voll zitternd leidenschaftlichen Lebens - ist bei uns noch nicht über die Bühne geschritten. Der "Diplomat im Dienst" stellt sie nicht ganz so zur Schau. Auch da fällt allerdings - nur drei Druckknöpfe ermöglichen es - in der großen Szene das Gewand von Schultern und Hüften, aber was sich dann zeigt, das ist nach "heutigen" Begriffen immerhin noch dezent, denn wir sind ja so gräßlich abgebrüht.
Die Kostrowa stammt aus guter Familie. Schon als kleines Kind wollte sie zur Bühne, aber der Vater gestattete es nicht eher, als bis sie eine andere vollständige Berufsausbildung genossen hätte. So stürzte sie sich denn auf die Bücher, machte mit 16 Jahren ihr Abiturium und bestand mit 20 ihr - juristisches Staatsexamen. Gleichzeitig nahm sie in der Petrowskijschen Schule dramatischen Unterricht. Mit 20 Jahren, 1918, hatte sie also die Bühne und die Bühne sie. Damals ging sie von Petersburg in die Krim, trat in Sewastopol, Jalta, Simferopol auf, von dort nach Konstantinopel, wo natürlich die "Petits Champs" ihre Stätte wurden. Wer dieses leichte Bühnchen kennt, der kann ein leises Bedauern nicht unterdrücken.
"Warum gingen Sie denn von Petersburg weg ?", frage ich.
"Aber das ist doch klar, wissen Sie, der Hunger . . .", antwortet sie.
Gleich darauf bittet sie mich, ich möchte nur nicht von Politik sprechen. Sie sei gänzlich unpolitisch. Ich verstehe. Es geht nun einmal der große Riß durch das Russenvolk. Drüben herrscht mit Feuer und Schwert der Sowjet. Hüben, in den großen Russenkolonien Mittel- und Westeuropas, sitzen die zarentreuen Verbannten. Wenn man in aller Welt wirken und doch auch die Heimat nicht verlieren will, darf man sich den Mund nicht verbrennen. Ein grandioser Zug des Abenteuerlichen geht durch dieses ganze Leben.Auch in der Berliner Russenkolonie gibt es "Spioninnen" von raffinierter Eleganz und - unbeschränkten Mitteln, nur nicht von einer derart faszinierenden Schönheit; die Geldmittel dieser Spionage, die sich besonders unseren vaterländischen Organisationen an die Sohlen heftet, stammen selbstverständlich aus Frankreich. Alles das kümmert freilich die Kostrowa nicht. Sie hat im vorigen Jahre in Wien ihre größten Triumphe gefeiert. Sie wurde dann zwei Monate in Prag verhätschelt. Tschechisch und Russisch sind einander so ähnlich wie Kölnisch Platt und Hamburger Platt, so konnte sie denn ruhig russisch sprechen, während die Mitspieler das Tschechische gebrauchten. Nur einmal gab es ein so komisches Zusammentreffen, daß sie mitten auf der Szene in Lachen ausbrechen mußte. Was russisch "shisnj" heißt, heißt tschechisch "shiwot", was russisch "krassiwyj" heißt, heißt tschechisch "krasnyj", beides sind auch russische Worte, aber von anderer Bedeutung, und wo es also im Stück heitß: "O Leda, wie schön ist Ihr Leben!", hörte die Kostrowa sich plötzlich von den Worten getroffen: "O Leda, wie rot ist Ihr Bauch!" Nun spielt sie 14 Tage in Berlin in dem widerwärtigen 9-Uhr-Theater am Kurfürstendamm. Vielleicht wird sie auch noch anderswo in Deutschland auftreten, falls ein gewitzter Impresario diese unerhörte Sensation ausnutzen will; mit der "Leda" natürlich, nicht mit dem "Diplomaten im Dienst". Dann geht sie mit ihrem Mann nach Paris.
Ein ferner Klang aus Morgenland. Ein sinnbetörender Haschisch-Traum. Kamenskij selbst, der diese Statue zum Leben erweckt hat, fühlt sich als glücklicher und gütiger Scheich. Man muß aber wohl Theaterblut haben, um diese Güte zu verstehen. Andere Scheichs würden die Kostrowa von keinem Fremdling angaffen lassen, sondern in zauberische Gärten, aber hinter dreifache Mauern bringen. Freilich zerrinnt der Haschisch-Traum sehr schnell. In der Garderobe einer Künstlerin finde ich nicht das Berauschende, von dem andere Leute zu fabeln pflegen. Das ist hier eine Friseurbude zweiten Ranges. Und mir gegenüber sitzt sachlich und ernsthaft die rechtskundige Frau Kostrowa-Kamenskaja.
7. Mai 1925 (Donnerstag)
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Am 7. Februar 1919 in Weimar - Nach den Hindenburgtagen - Die Einstellung gegen "Vorurteile" - Guillaume timide - Die "umärmelten" Damen - Das Ende des "Eisernen Hindenburg" - Kurleben im Zoo - In der Gemeinschaftsschule
Eine kleine Erinnerung wird uns gut tun. Vom 7.Februar 1919, von der 2. Sitzung der neuen Nationalversammlung in Weimar. Der Alterspräsident Pfannkuch läßt die Eingänge verlesen. Darunter folgende Depesche des Kapitäns a.D. Lender-Neubabelsberg:
"Der hohen Versammlung ein segensreiches Wirken wünschend, bitte als ersten Beschluß die Absetzung aller Arbeiter- und Soldatenräte zu beschließen und Generalfeldmarschall v.Hindenburg zum provisorischen Präsidenten zu wählen." |
Da setzt ein derart stürmisches Gelächter ein, wie man es noch kaum je in einem Parlament erlebt hat. Die gesamte Linke und die verbündeten Novemberlinge aus der Mitte krümmen sich vor Lachen. Was für ein naives Kind oder was für ein grotesker Spaßmacher ist doch dieser Kapitän und Fabrikbesitzer aus Neubabelsberg! Gestern erst hat Ebert unter tosendem Beifall der Mehrheit die "sozialistische Republik" willkommen geheißen, den "Kaiserismus" und "Militarismus" in den Orkus geworfen und stolz erklärt, nichts von ihm werde jemals wiederkehren. Da muß der Vorschlag, den Generalfeldmarschall v.Hindenburg zum Reichspräsidenten zu wählen, natürlich jedes Zwerchfell kitzeln. Man schüttet sich aus vor Lachen, man brüllt Tränen vor Vergnügen. Erzberger verschluckt sich dabei, wird blaurot und muß geklopft werden.
Heute ist Hindenburg unser Reichspräsident.
Wie dumm müssen sich nun alle die Leute vorkommen, die damals so närrisch gelacht haben. Oder - wie beschämt. Wenn das deutsche Volk das erste Mal, wo es überhaupt verfassungsgemäß einen Präsidenten zu wählen hatte, Hindenburg gewählt hat, so bedeutet das doch nur, daß die Novembermehrheit in den sechs Jahren seit 1919 jegliches Vertrauen verwirtschaftet hat. Zu einer rein sozialistischen Republik ist es ja überhaupt nicht gekommen; aber auch die demokratisch-parlamentarische, die wir haben, glaubt nur dann aus dem Sumpf gerettet werden zu können, wenn der unzweifelhafte Monarchist Hindenburg sich vorspannt.
"Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!" möchten wir - wie Wilhelm I. nach Sedan - nach den nun verrauschten großen Hindenburg-Tagen in Berlin ausrufen. Heute sagt die Linke in ihrer Verlegenheit, es sei "ein Sieg der Republik", daß Hindenburg seinen Eid auf die Verfassung geleistet habe. Hätten die Herrschaften diese Wahl aber schon am 7. Februar 1919 vorausgewußt, so hätten sie doch ihre ganze Revolution für verloren gehalten.
Dieses Revolutionskapitel ist jetzt zu Ende. Es hebt ein neues des Wiederaufbaues an. Das weiß der letzte Schusterjunge unter den Hunderttausenden beim Einzuge Hindenburgs. Noch einmal holt die deutsche Geschichte tief Atem.
Einige wenige unter den vielen schnell Begeisterten fragen sich freilich, ob wir auch diese letzte Gelegenheit nicht wieder verpassen werden. Allen Rechtsorientierten, allen Rechtlichdenkenden bei uns droht, wenn sie, zunächst vielumstritten, ein Amt übernehmen, dieselbe Gefahr. Mit fast religiösem Eifer sind die bestrebt, die - Vorurteile zu zerstreuen, die ihre Gegner bisher gegen sie gehabt haben. Als Wilhelm II. noch Prinz von Preußen war, schrieb die Weltpresse, wenn er demnächst zur Regierung komme, gebe es Krieg; denn er sei die Kriegslust selbst. Ein langes Leben hindurch hat dann Wilhelm II. sich bemüht, anerkannter Friedenskaiser zu sein, bis er zuletzt sogar, ganz ungerechtfertigt, als "Guillaume timide", als der Furchtsame, von den Pariser Blättern angepöbelt wurde. In derselben Gefahr, aus innerer Vornehmheit das eigene Wesen zu verleugnen, befindet sich nun natürlich Hindenburg. Wir bekommen mit ihm nicht etwa eine Regierung der Rechten, sondern eine überparteiliche Regierung; manche Hoffnung auf Besserung der Dinge wird also unerfüllt bleiben, weil das "Ich bin ja gar nicht so!", vielleicht ihm selber unbewußt, zum Wahlspruch Hindenburgs wird und er die "Verdächtigung" seiner Wahlgegner, das Ruder werde nun hart Steuerbord herumgeworfen, entkräften will. Dazu gehört auch seine noble Anerkennung des Wirkens Eberts, die ihm im letzten Moment, überfallartig, der Reichskanzler Luther als politisch notwendig für die Antrittsrede abgerungen hat.
Man verarge mir diese wenigen ernsten Worte nicht. Sie sind notwendig, um Enttäuschungen vorzubeugen. Was in sieben Jahren eine gewissenlose Horde verwüstet hat, kann auch ein einzelner Mann in neuen sieben Jahren nicht wiederherstellen. Boch protzen in allen führenden Ämtern namentlich Preußens die Roten; noch verurteilen - gesetzlich bis zum Jahre 1926 - vor dem Staatsgerichtshof die von Ebert ernannten Novembermänner als Richter die Andersdenkenden der Rechten; noch ist der Staat vielfach die Futterkrippe für Unvorgebildete. Aber der Anfang ist wenigstens da - und der Rückfall in vollkommenes Novemberregiment verhütet.
So ist denn auch Hindenburgs Einzug ein Volksfest gewesen. Das Fest eines wieder hoffenden, wieder glaubenden Volkes. Es war wirklich "Volk", nicht nur, wie die Roten glauben machen wollten, Korpsstudenten und sonstige "feine Leute". Viele Tausende auch sogar Linksgerichteter haben - aus Dankbarkeit sich am Spalier beteiligt. Dem "Retter" zujubeln zu dürfen war ihr Begehr. Einer von ihnen, strammer Berliner, strammer Republikaner, findet sich am Kaiserdamm ein, kauft sich, gewitzt wie er ist, im nächaten Laden für 50 Pfennig eine leere Apfelsinenkiste und stellt sich darauf. Eine Dame hinter der Menschenmauer, die nicht viel "Aussicht" hat, fragt, ob er sie auch auf die Kiste lassen wolle.
"Denn muß ick Ihnen aber umärmeln, sonst fallen wa alle zwee beede runna!"
Gut, das wird ihm gestattet. Noch eine zweite Dame bittet um den bevorzugten Platz und kommt - für die sechs Füße ist nun wirklich kaum Platz - auch hinauf und wird ebenfalls um die Taille gefaßt. Nun ist die Laokoongruppe fertig und hält. Da wälzt sich die Hurrawoge näher und näher: Hindenburg kommt! In diesem Moment gerät unser braver Berliner in Ekstase, brüllt sein "Hoch! Hoch! Hoch!" und krallt unwillkürlich seine Pratzen so fest in die Hüften der beiden Schutzbefohlenen, daß sie aufschreien: für acht Tage haben sie blaue Flecken als Erinnerung. Aber der stramme Berliner und stramme Republikaner fällt ihnen nun beinahe um den Hals und erklärt, daß sei wirklich der schönste Tag seines Lebens gewesen.
Der Berliner Eiserne Hindenburg, das mehr als haushohe genagelte Holzdenkmal, ist seinerzeit von einer republikanischen Behörde barsch wegkomplimentiert worden. Es ist zu Brennholz zerkleinert. Der Käufer sollte nur in der Hauptsache die Kosten der Wegschaffung tragen; als Barzahlung hat er lediglich - eine Goldmark zu bezahlen gehabt. Aber nun haben wir ja den lebendigen Hindenburg unter uns und er ist, wie ich an anderer Stelle bei der Schilderung dieser Tage geschrieben habe, in seiner monumentalen Erscheinung immer ein Denkmal seiner selbst. Selbst ganz Verbitterte auf der Linken, bis in kommunistische Kreise hinein, haben nun doch das dumpfe Gefühl, daß kein anderes Land der Welt eine solche Größe als ihr Oberhaupt hat.
Aber die Alltagsarbeit hat uns wieder. Die Fahnen sind eingezogen. Berlin bietet wieder das alte Bild. Die keuchende Maschine geht weiter.
Glücklich der, der die wenigen friedlichen Stellen und friedlichen Stunden kennt, die es hier gibt. Ehe die Weltstadt zu ihrem groben Lärmen erwacht, morgens schon vor 7 Uhr, muß man da zum Zoologischen Garten gehen. Zur - Brunnenpromenade. In der sogenannten Waldschenke und in deren Umgebung entwickelt sich da alltäglich ein Kurleben wie in unseren bekanntesten Heilbädern. Jedermann wandelt mit seinem Becher einher. Man schlürft - es gibt hier alles - seinen Rakoczy, seinen Karlsbader Sprudel, seinen Bonifaciusbrunnen. Dann setzt man sich behaglich unter grünen Bäumen und bei Vogelgezwitscher an den blumengeschmückten Frühstückstisch, hört der bescheidenen Musik zu und - eilt bald darauf im Geschwindschritt abseits. Es gibt Situationen, in denen selbst Gichtiker das Laufen lernen. Vielen von den Kurgästen, namentlich den wohlbeleibten Damen aus dem feinen Westen, sieht man es an, daß das Frühaufstehen und Spazierengehen (und der Geschwindschritt zuletzt) ein wesentlicher Teil der Kur für sie sind. Sie tränken lieber erst um 11 Uhr vormittags noch im Bett ihre Schokolade, statt hier um 7 Uhr Bitterwasser in bereits vollständiger Kriegsbemalung, was ein Aufstehen also schon etwa um 6 Uhr voraussetzt. Aber man sieht auch manches zerknitterte magere Gesicht irgendeines einfachen Frauchens aus dem Volke und schließt bei ihr auf Magenleiden, nicht auf Herzverfettung. Daneben den Typ des Generaldirektors, der sich hier verjüngen will, um in der nächsten Saison wieder ganz auf dem Posten zu sein und noch in den Frack zu passen, oder auch des Bureauangestellten, der sich Kissingen oder Karlsbad oder Salzschlirf nicht leisten kann und glücklich ist, daß er auf Rat seines Arztes hier im Zoo die Kur machen kann.
Es gibt auch Leutchen, die hier - einander die Kur machen. Das ist vielleicht noch das Schönste. So im wunderschönen Monat Mai.
Ich brauche nichts von alledem, ich will nur gelegentlich vor der Reveille dasein, um Natur zu genießen, die es sonst in der Asphaltwüste nicht gibt. Auch die Tiere im Garten sind morgens so zutulich. Noch gar nicht verärgert durch die Massenbestie Mensch. Der junge Elefant Karl, dessen Bruder Mampe neulich gestorben ist, macht auch seinen Kurspaziergang. Seine beiden Wärter können ihn nicht gut "umärmeln"; sie fassen ihn dafür liebevoll an den langen Ohren. Bei den Affen verzieht eine kleine Schimpansin das Maul, weil sie, ehe sie ihren gesüßten Frühstückstee bekommt, einen Löffel Lebertran schlucken muß. Die beiden Eisbären gehen immer wieder unter ihre Brause, den kleinen Wasserfall, springen dann abwechselnd kopfüber in das Morgenbad und schwimmen die fünf Schritt darin untergetaucht. Die Molukken-Kakadus machen rhythmische Gymnastik und kreischen voll Lust. Das Gnu trompetet krachend, die Pfauen schlagen brünstig ihr leuchtendes Rad, die kleinen dreimonatlichen Bären üben sich tolpatschig-süß im Klettern. Oder ringen miteinander. Oder schubsen sich ins Plantschbecken. Ihre Mutter, die dabeisitzt, kriegt von mir den Rest des Kaffeezuckers aus der Waldschänke. Sie stammmt aus Minsk. Zwischen Minsk und Molodetschno hatte ich am 14.Juni 1917 in großen Höhen über den Wolken ein Zusammentreffen mit einigen feindlichen Fliegern, das um ein Haar dazu geführt hätte, daß ich heute, statt Berliner Plaudereien zu schreiben, vermodert in jener Gegend läge. Seitdem bin ich nett zu der russischen Bärin aus Minsk. Von ihren Landsleuten ist einer auf jener Luftpartie verunglückt. Leider wird der neue Affenfelsen im Zoo immer erst um 10 Uhr dem Publikum eröffnet. Auch dort kann man völkerpsychologische Studien machen. Es gab eine Nation in Weltkriege, deren Flieger immer Theater und Kapriolen machten. Eine Nation, die ebenso pervers und sadistisch ist, wie dieses Affenvolk. Deren ganzer Lebensinhalt oft ebenso in dem Balgen und Zähnegefletsch um irgendein Weibchen besteht.
Es ist 9 Uhr. Nun kommen schon die ersten Volksschulklassen, es sind täglich immer einige, unter Führung ihrer Lehrer her. Der Morgenzauber ist zu Ende.
Das haben die Kinder Berlins vor denen der Kleinstadt allerdings voraus; sie können mal, wenn der Lehrer wegguckt, einen Affen am Schwanz ziehen. Sonst aber sind sie als Versuchskaninchen der roten "entschiedenen Schulreformer" bedauernswert. In Neukölln, unter dem Regime Löwenstein, besteht solch eine "Gemeinschaftsschule" nach mißverstandenem Pestalozzi-Muster, wo es keinen geregelten Unterricht, keine Disziplin, sondern nur eine sich lümmelnde Gemeinschaft für Plauderstunden gibt, den Lehrer nicht etwa auf dem verpönten Katheder, sondern mitten darunter.
"Was wollen wir heute treiben ?"
Das ist 33 der Schülerinnen völlig gleichgültig. Die 4 einzig Interessierten debattieren darüber.
"Nehm' wa Jeschichte! Ick ha' wat von Ludwig XIV. jelesen. Een kleenet Buch aus die kommunistische Bibbeljothek!"
Gut, also Liselotte erzählt davon. Der Lehrer wirft nur gelegentlich eine weise Bemerkung über die fluchwürdige Monarchie dazwischen. Annagrete weiß noch was. Die übrigen knuffen einander oder popeln sich in der Nase. So wird alle Tage und das ganze Jahr hindurch der "Initiative des Kindergemüts" alles überlassen. Technisch nennt man das: die Welle auffangen. Am häufigsten erheben sich aus der Kinderschar historische oder sportliche oder hauswirtschaftliche Wellen, von denen sich die Gemeinschaft dann monatelang tragen läßt.
Leider ist die arithmetische Welle ein ganzes Jahr ausgeblieben. Ein Kind, das in eine andere Schule kam, geriet daher in eine sehr niedrige Klasse. Es brauchte zunächst Privatstunden im Rechnen.
13. Mai 1925 (Mittwoch)
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Der Tag der Herrenpartien - "Siehste!" - Berlin der größte Wassersportplatz Europas - Im neuen Freibad - Bilderreiche Sprache - Die Avus - Die Wannseeaten-Kolonie - Zweiundzwanzig Stunden auf dem "Baldur" - Mit Frau Neureich am Kaffeetisch - Die Schweden in Berlin und der kleine Köster in Riga
Der Sängerklub "Verfolgungswahn E.V.", Berlin-Wedding, hat schon vierzehn Tage lang das schöne Lied eingeübt: "Das ist der Tag des Herrn." Nämlich der Tag der Herrenpartien, der Himmelfahrtstag. Auch diesmal sollte es so kommen wie bisher immer, und vereinzelt ist es auch so gekommen; man erkennt die Herrenpartie unfehlbar daran, daß sie nicht aus Altersgenossen, sondern aus Berufsgenossen besteht, also Graubärte und Milchbärte gemischt, und vor allem daran, daß die Teilnehmer regelmäßig abwechselnd immer Bier und Cognac trinken. Die älteren mit schmerzlich verzogenem Gesicht, weil nun einmal dies das Rezept ist, wenn man den "Anschluß" schon am Vormittag garantiert haben will. Also vereinzelt, sehr vereinzelt, konnte man so etwas auch diesmal beobachten. Auch ganz rohen Ulk. So eine Gruppe von "Herren" mit einem Kindersarg, die, sobald Publikum ihnen begegnet, eine Beerdigung markieren und auf das Wohl der "Leiche" trinken. Und wenn beim Übersetzen von der Römerschanze zum Schweizerhaus, keine zwei Minuten, während der Sängerklub "Die linden Lüfte sind erwacht" vierstimmig anhebt, der erste Tenor schreckensbleich hervorstößt, er glaube, er werde seekrank, so gehört das mit zu dem alten Bilde.
Und doch war es in Berlin - zum ersten Male seit Jahrzehnten - ein neues Bild. Der Kremser, dieses herkömmliche Ausflugsgefährt für größere Gesellschaften, ist schon ausgestorben, durch das mit Bänken versehene Lastauto ersetzt, und nun stirbt auch die Herrenpartie aus. Das Donnerwort "Siehste!" hat ihr Schicksal besiegelt. Nämlich einige Tage vorher versicherte eine polizeiöffiziöse Zeitungsnotiz, die Partien im vorigen Jahre hätten so viele Ausschreitungen begangen, seien gegen ihnen begegnende Damen so gemein geworden, daß diesmal energisch eingeschritten werden würde. So, so, also gemein ? "Siehste!" sagt Frau Piefke bloß, stemmt die Arme in die Hüften und sieht ihren Mann durchbohrend an. Sie werde diesmal die doppelte Portion Stullen einpacken. Oder noch mehr. Jawohl, auch die Kinder kämen mit. Nee, nee, in Gemeinheit lasse man den Ollen nicht versinken. So sind diesmal Zehntausende solcher Frauen mitgezogen, alte und junge, schlampige und appetitliche, es war auch so sehr nett, die Weiblichkeit hat mit einem Schlage das letzte an die männliche Vorherrschaft noch erinnernde Bollwerk gestürmt, - und die meisten Berliner Männer atmen erleichtert auf, weil die anstrengende Herrenpartie mit dem gespielten Forschsein nun durch den Familienausflug abgelöst ist. "Abstimmung! Abstimmung!" riefen auch tags vorher die Kinder, wie der Reichstagsdiener in den Lautsprecher. Die große Rundfahrt durch zehn Kneipen wurde ohne Debatte abgelehnt und ein ganztägiger Aufenthalt im Freien einhellig angenommen. An einem der ungezählten Seen und Wasserläufe natürlich, denn alles lechzt in Sonnenseligkeit nach dem Plantschen. Allein im Freibad Wannsee haben sich 42 000 Berliner eingefunden, und auch die übrigen Freibäder waren so bevölkert wie noch nie.
Jetzt erst erkennt der Berliner so recht die Schönheit dieser verketzerten Mark Brandenburg. Sie ist gar nicht die "Streusandbüchse" des heiligen römischen Reiches, sondern der größte Wassersportplatz Europas. Man muß sich nur einmal das Wassergewimmel in 50 Kilometern Umkreis um die Reichshauptstadt ansehen, dann weiß man es. Ein Boot - wer hat denn überhaupt kein Boot ? Es muß ja nicht gerade eine so elegante Motorjacht sein wie die "Maysie II" des Margarinefabrikanten Isserstedt, dessen Cobu-Werke auf Pichelswerder an der Havel liegen. Von dem großen Schoner bis zum kleinen Canoe ist alles da, dazu in ganzen Geschwadern die Boote der Renn- und Tourenruderer, dann die Verkehrsdampfer, die Elite-Motorschiffe, die Hausboote, die Wasservelozipede, und vor allem: das Gepaddel der jungen Ehepaare. Aus Schilfstengeln blinken Bootssteven; am Ufer aber ist über Mittag alles gelagert, hebt das große Trinken von Luft und Sonne an. Gewíß, Berge haben wir nicht. Zu der bescheidenen Bismarckwarte am Müggelsee mahlt man sich durch Sand empor. Aber an und in und auf dem Wasser stählt sich der Großstädter mit Kind und Kegel - und kann da sogar des Alkohols entraten.
Es gibt hier manches wundersame Fleckchen Erde. Auch seine eigene Fauna hat dieses Gebiet. Die Schwäne auf der Havel sind ein entzückendes Bild. Sie sind während des Krieges großenteils eingegangen, verhungert, und werden nun wieder aufgezüchtet.
Der Massenbetrieb im Freibad Wannsee ermöglicht freilich keinen "stillen" Naturgenuß. Das ist ein großer Menschenkochtopf, von Jahr zu Jahr mehr auf das, nun, sagen wir einmal, Anlehnungsbedürfnis des sogenannten kleinen Mannes zugeschnitten. Reines Hochdeutsch kriegt man hier kaum zu hören. Aber echtestes Berlinisch. Das klingt oft grob, genau so wie in seiner Art das Münchnerisch, ist aber meist ebenso gutmütig. Man bevorzugt einen gewissen Bilderreichtum in der Sprache. Wenn also Orje noch faul und braun in der Sonne daliegt, während Emil sich schon angezogen hat und Abmarsch vorschlägt, sagt Orje zu Emiln nicht etwa "Nein, ich habe noch keine Lust, wegzugehen!", sondern bemerkt einfach und edel:
"Ick hau' dir jleich de Watte aus de Schultern, dettste de längste Zeit Amerikaner jewesen bist!"
Das ist doch anschaulich, nicht wahr; und darin steckt zugleich eine leise wohlmeinende Kritik des neuen Sakkoanzuges von Emil, den er für 88 Mark bei Peek & Cloppenburg erstanden hat.
Wer zum letzten Male vor etlichen Jahren das Freibad Wannsee gesehen hat, der erkennt es kaum wieder, so weltstädtisch ist es geworden. Es ist ganz "durchorganisiert", sehr ordentlich. Mehrere Riesenhallen sind zum Aus- und Ankleiden da, trotz aller technisch einwandfreien Ventilation bei Hochbetrieb allerdings von einer so menschendurchsäuerten Luft, daß man ganz instinktiv beim Aus- und Ankleiden sich von selber beeilt. Es sind reichlich Wasserbrunnen und Aborte vorhanden. In einer einfachen Wirtschaft mitten in dem kilometerlangen Bade - oder auch davor, im Badeanzug - kann man um ein Billiges sein warmes Mittagessen und auch ein Glas Bier dazu bekommen. Der Strand selbst ist sauber, ohne Stullenpapier und sonstige Ausflugsnachbleibsel. Auf ins Wasser hinaus gebauten Stegen passen städtische Badewächter auf, daß kein Unglück geschieht, und sind überall, wo es not tut, flink zur Stelle. Einer der kaffeebraunen Gesellen, den selbst ich Weitgereister zunächst für einen echten Mulatten hielt, trägt ein Megaphon am Gürtel seiner Badehose, nimmt alle Viertelstunden einmal den mächtigen Trichter in die Hände, setzt ihn an die Lippen und ruft mit Stentorstimme:
Achtung! Achtung! | |
Hier Berliner Rundfunk auf Welle Freibad Wannsee! | |
Die Badebesucher werden ge- |
Hast Du gegessen und geraucht |
Es ist nicht wahr, daß dem richtigen Berliner nichts imponiert. Er läßt sich sehr gerne imponieren, vor allem durch Ordnung, Disziplin, Bestimmtheit. Er hört auf Kommando. Auch Emil und Orje, auch Paula und Mieze stopfen gehorsam die Nachbleibsel wieder in den Rucksack oder in ihre schnauzig-revolutionär-kleinbürgerliche Berliner Morgenpost.
Der leidlich wohlhabende Fremdling, der sich dieses Leben einmal ansehen will und die quetschende Sonntagsende der Wannseebahn scheut, kann heute sehr schnell und sehr bequem zum Freibad Wannsee gelangen, wenn er sich ein Auto leistet und vom Kaiserdamm ab die 10 Kilometer lange Avus, die Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße, benutzt, die bis Beelitzhof führt, von wo aus man nur wenige Minuten Waldweg zum Strande hat. Eben war man noch mitten in der Weltstadt mit den hohen Mietskasernen. Alks Wahrzeichen der neuesten Zeit steht da der stählerne hohe Funkturm, unser kleiner Eiffel, der halbwegs, in 120 Metern Höhe, ein "Aussichtsrestaurant" bekommen soll. Dann geht es durch ein breites Tor in die Avus, und man saust die 10 Kilometer in windender Fahrt hinunter, während links und rechts kein Haus mehr droht, sondern Wald, wirklicher Wald stehengeblieben ist. Auch alle Querstraßen führen "unten durch", so daß man völlig freie Bahn hat. Niemand quert den Weg, niemand kommt einem entgegen; für die Rückfahrt ist die Parallelstraße da. Man ist also im Handumdrehen an Ort und Stelle und kann sich ansehen, wie das Volk aus dem Steinmeer sich hier draußen erholt und - amüsiert.
Nun ja, höfische Etikette herrscht da am Wannsee gerade nicht. Die Arbeiterfrau, die sich keinen modischen Badeanzug leisten kann, aber doch ihr bißchen Luftbad und Sonnenglück genießen möchte, sitzt eben in Hemd und Unterrock da. Und wenn Willem mit seiner Ida im Sande liegt, führt er mit ihr kein Gespröch über die Möglichkeit platonischer Freundschaft, sondern gibt ihr eben einfach einen Kuß. Da der Nachbar es nötigenfalls ebenso macht, chokiert es den Nachbar nicht. Aber wirklich Anstößiges gibt es nicht. Es herrscht wieder Ordnung in Berlin, seitdem wir städtische Beamte geworden sind, erklärt mir stolz mein Mulatte.
Nur ganz wenige Besucher passen nicht ganz in das Milieu. Einige junge Männer mit Friseurkappe über dem Langhaar, einige junge Mädchen mit Büstenhalter unter dem Badetrikot. Die gehören ja eigentlich zu den sogenannten feinen Leuten drüben in dem "Seebad" Wannsee, wo es teurer als in dem "Freibad" mit seinem 10-Pfennig-Eintritt ist, dafür aber auch gemischter.
Zwischen diesen beiden Welten aber hausen die Wannseeaten. Das ist eine Sommerkolonie von Wohnlauben, eng aneinander auf dem Sande ohne Gartenland. Hier übernachten Mann und Frau und Kind in dem meist von ihnen selbst gezimmerten Kabäuschen. Morgens und abends ein Bad; tagsüber auf Arbeit in der Stadt. Das Pachtgeld und der Vereinsbeitrag machen zusammen jährlich nur 18 Mark. Die Wannseeaten sind eine brave Gilde, die nebenbei den Rettungsdienst auf dem Wannsee betreibt.
Am gestrigen Himmelfahrtstage habe ich selber einmal einen ganzen Tag Sonnenbruder gespielt. Eine herrliche Einrichtung dafür, auch jedem Fremden zu empfehlen, der sich einmal unsere Gewässer ansehen will, ist das große Hausboot "Baldur" der Aktiengesellschaft Grüne Heimat. Das Schiff hat 208 Bettplätze in seinen Kabinen. Reise und Nachtquartier zusammen kosten in den zweibettigen Deckskabinen - 3,80 Mark pro,Person, in den sechsbettigen unter Deck die Hälfte, und für nur 1 Mark kann man die ganze Tagesfahrt an Deck mitmachen. Einfach fabelhaft. Rein zufällig habe ich die Sache entdeckt. Die Gesellschaft hat ihren Sitz im ehemaligen Königlichen Marstallgebäude, Berlin C, Breitestraße, im Hof, Aufgang 4, verschiedene Treppen hoch, also das muß erst gefunden werden. Kein Laden, kein Schalter, kein Schaufenster; und bisher auch so gut wie gar keine Reklame. Es ist eben kein geschäftliches, sondern ein wohltätiges Unternehmen. Ein eminent wohltätiges. Früh morgens geht man in Spandau an Bord, fährt die Havel hinunter, am Wannsee vorbei, läßt die Potsdamer Gewässer links liegen, macht eine Rundfahrt im Krampnitz-See, windet sich dann weiter zwischen schönen Ufern durch und legt in der Gegend von Fahrland an. Nicht, wie sonst üblich, an einem Dampfersteg vor einer Gastwirtschaft, sondern mitten in der Natur, an einer Wiese vor einem Walde. Das breite und 50 Meter lange Motorschiff ist so flachgehend, daß es sich leisten kann, auch seichte Ufer aufzussuchen. Nun hat man fünf Stunden Zeit zum Spazierengehen, Baden, Ballspielen oder Allotria. Manch einer geht auch "fein" Mittag essen, - irgendeine Gastwirtschaft ist ja überall in zwanzig Minuten zu erreichen. An Bord gibt es, vom Frauenverein gegen den Alkoholismus geführt, nur Feldküche, also ein Eintopfgericht zu Mittag. Gestern Mohrrüben mit Schweinebauch. Kostenpunkt: 60 Pfennig. Wer mehr haben will, kann sich noch warme Würstchen oder Eier oder belegte Brote kaufen. Alles ist schlicht und gut. Eine alte Exzellenz, die neben mir auf dem Vorderdeck saß, fand es herrlich; ein 12jähriges Mädchen aber auf der anderen Seite, das sehr verwöhnt war, mäkelte. Durch den sinkenden Abend mit dem Sonnengold auf den Wassern ging es dann zurück, kurz vor Dunkelheit gingen wir in der Gegend der Heerstraßenbrücke vor Anker, um 10 Uhr - von da ab ist "Ruhe im Schiff" - legten die Ganztagsgäste ihre durchglühten Wangen aufs Kissen in den winzigen, aber mit sauberen Betten, fließendem Wasser und elektrischem Licht ausgestatteten Kabinen, das große Fenster ließ man weit offen, hörte noch vom Ufer her das leise Gequarre der Frösche und fernes, verlorenes Hundegebell, wunderte sich eine halbe Sekunde lang über das Fehlen aller Großstadtgeräusche - und schlief schon. Morgens nach Sonnenaufgang werden die Motoren wieder angeworfen. Man steckt den Kopf heraus, man wird überschwenglich, man fängt an, aus dem Vorspiel zu Goethes Faust zu rezitieren. Um 6 Uhr ist man wieder in Spandau. Jedermann kann pünktlich wieder zur Arbeit. Ich empfehle allen größeren Reisegellschaften, sich den "Baldur", wenn sie nach Berlin kommen, für 24 Stunden zu chartern. Die meisten Fahrten sind ja Vereinsfahrten, wenigstens vorerst, wo das Publikum das Neue noch nicht so kennt. Für einen Junitag hat übrigens auch ein einzelner Privatmann, natürlich ein wohlhabender, dieses Hausboot gemietet. Für - eine Kindtaufe. Der Täufling, ein Pastor, die Eltern und 75 Gäste kommen an Bord und bleiben dort bis zum nächsten Morgen in behaglichem Gondeln; mit eigener Küche freilich.
Nicht zum Mittagessen, aber zu einer Tasse Mokka, weil es just so um die Zeit war, habe ich auf dem Spaziergang während der Liegepause des "Baldur" eine Ausflugswirtschaft aufgesucht. Vornehm, sehr "vornehm". Die Privatautos drängen sich von Land her, die Jachtbesitzer kommen vom Wasser her. Man findet kaum einen Platz. Von dem meinigen bin ich begeistert, denn ich okkupiere ihn gleichzeitig mit der Familie Neureich, die im übrigen für ausgestorben gilt, weil sie verschiedene ihrer Kennzeichen nicht mehr hat. "Tischsitten bringt bei, Anfragen unter M.P. 204 Geschäftstelle der Zeitung". Das hat man ausgenutzt. Also Familie Neureich walzt heran, voran sie, das Nilpferd. Sie legt die lederne Autokappe ab. Sie zieht den Nappaledermantel aus. Der seidene Mantel folgt. Nun zupft sie ihr Kleid über den Säulenbeinen empor, während sie Platz nimmt und mich wohlwollend anredet. "Aber weitere Enthüllungen, gnädige Frau, so reizvoll sie auch sind, würde ich nicht empfehlen, denn das wäre gefährlich!", bemerke ich. Ich bekomme nun nicht eins auf den Hut, sondern habe im Gegenteil ihr ganzes Herz gewonnen. Ich muß allerlei von dem Blitzboot anhören, das Neureichs sich jetzt anlegen wollen, von dem zweiten sechzigpferdigen Auto, mit dem sie kürzlich nach Italien gefahren sind, und von der Villa, die sie sich "lachhaft billig" in Lugano gekauft hätten. Schließlich ruhen sie nicht, bis sie mich in ihrem Auto über Stock und Stein auf Waldwegen zum "Baldur" gebracht haben. Kost' ja nischt, sagt sie. Nette Leute. Nich ? Beim Halten aber holen sie ihr Autogästebuch heraus, in das ich mich mit einem Spruch oder Verschen auch einzeichnen solle. Nette Leute. Nich ? Da fällt mir ein Wort ein, wie ich es neulich einmal gesprächsweise verballhornt habe, so wie man etwa sagt, Morgenstunde sei aller Laster Anfang, und ich schreibe in das Autogästebuch:
"Tout comprendre c'est tout mépriser!"
Mit etwas glasigen Augen schaut das Nilpferd die Buchstaben an und dankt mir dann mit überströmenden Worten. Hoffentlich begegne ich den Leuten nie wieder, denn inzwischen geht ihnen der Sinn dieser Eintragung vielleicht auf. Ich habe sie auch gar nicht kränken wollen, wenn ich schrieb, alles verstehen heiße alles verachten. Man wird nur so gelegentlich von der Lust überkommen, einmal sich die Zügel schießen zu lassen.
Besonders in dieser Zeit, wo man wieder in der Stimmung ist, etwas unbegreiflich Vergnügtes zu tun. Man sieht ja so viele strahlende Gesichter. Da ist neulich, zu Hindenburgs Einzug, fast ein ganzer Eisenbahnzug voll Schweden nach Berlin gekommen. Ein Großindustrieller aus dem Süden darunter. Eine Filmprinzessin aus Stockholm. Ein Gelehrter aus dem Norden. Sie alle sind rein aus dem Häuschen über das "neue" Deutschland, über das anständige, disziplinierte Hindenburgpublikum der Hunderttausende, über das sichtliche Dahinschwinden der Überbleibsel der Revolution im Stadtbilde. Das tut wohl, ach, so wohl, derartiges von fremden Freunden Deutschlands zu hören. Die gesamte Welt hat ja große Augen gemacht. Und nicht nur wir hier daheim waren mit ganzem Herzen dabei. In Riga, der Hauptstadt Lettlands, hat es unter den kleinen Jungen im Gymnasium vor der Wahl lebhafte Debatten gegeben, an denen der Sextaner Köster, der Sohn des sozialdemokratischen Gesandten, sich durch Eintreten für Marx beteiligte. Er war leider in hoffnungsloser Minderheit, denn die ganze Sexta schwärmte für Hindenburg. Der kleine Köster ist tapfer. Aber Keile kriegte er doch. Die deutschsprachigen anderen verstanden ihn nicht. Armer Gesandtensohn. Was kann er denn für seinen Papa ?
22. Mai 1925 (Freitag)
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