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Auf nach Paris - Auch wir sind elegant und frivol - Die neueste Sommertoilette - Eberts Enkel - Gigli als Gast - Großer Empfang bei Herrn Israel - Das rentable Konsulat.
Im Berliner Stadion bewerben sich französische Radfahrer um den Großen Preis. Im Berliner Sportpalast kreigt ein siegreicher fremder Boxer einen Lorbeerkranz mit blauweißroter Ententeschleife.
Nach Paris bekommen aber deustche Radfahrer keine französische Einreiseerlaubnis. An der gegenwärtigen internationalen Olympiade in Paris dürfen deutsche Leichtathleten auch nicht teilnehmen.
Derartige Gegenüberstellungen könnte man in Menge machen. Nur die Berliner Sportunternehmer lernen nichts daraus und glauben immer noch, sie täten etwas für die - Völkerverständigung, wenn sie unter großen Kosten ausländische Wettbewerber herziehen. Auf der anderen Seite, im Publikum, ist wiederum Paris der große Reisemagnet. Von drüben kommen bezahlte Professionals zu uns und lassen sich die gute Rentenmark baß gefallen. Und von hüben wird deutsches Geld hinübergebracht, weil der echte Kurfürstendammer, wenn er seine Frau sicher in Marienbad weiß, nunmehr ohne 500 Mark Ausreisesteuer, unbedingt ein paar Strohwitwertage an der Seine - zur kulturellen Erweiterung seines Gesichtskreises natürlich - für sich als notwendig erachtet. Im französischen Generalkonsulat ist Hochbetrieb. Ganze Stöße deutscher Pässe erhalten ihr Visum. Es ist nicht nur die Großkonfektion vom Hausvogteiplatz, die diese Reiselustigen stellt, wenn man auch zugeben muß, daß sie unter ihnen am stärksten vertreten ist. Es fahren auch Justizräte und Konzertkritiker und Finanziers in Scharen.
In diesen Kreisen war die Selbstverspottung von jeher groß. In einem Kabarett des Westens erzählt ein Ansager, der auch zu ihnen gehört: "Er ist nach Paris, der Herr Moritz Wasserfall. Vor zehn Jahren in Lodz hieß er noch Mosche Pinkeles. Als Maurice de Lafontaine wird er einst enden." Das zweite Vaterland Heinrich Heines ist so anziehend, weil es immer noch den Ruf hat, daß seine Frivolität und seine Eleganz unübertroffen und unübertrefflich seien.
Das war einmal. Wenigstens in Paris. Die französische Provinz, das werden mir alle Kenner bestätigen, ist und bleibt rückständig, dreckig, ungraziös, stumpf. Heute ist aber auch Paris keine Ausnahme mehr. London ist schon ebenso frech, Berlin längst. Und die Eleganz ist auch allgemein geworden.
Noch vor zwanzig, zwölf, zehn Jahren war unsereins schon durch die Midinetten in Paris überrascht, die Fabrikfräuleins, die Ladenfräuleins, die Bureaufräuleins, weil sie alle - so schön frisiert und schön beschuht waren. Man kam nach Berlin zurück und sah schlechtes, plumpes Schuhwerk und ins Gesicht hängende Haarsträhnen, kurz, die "Aufmachung" war nachlässig. Wie hat sich das inzwischen geändert! Der Umschwung hat nur sehr wenig mit Krieg und Revolution zu tun, obwohl man auch das natürlich in Rechnung stellen muß, daß unsere jungen Mädchen heute fast durchweg ihr Geld selber verdienen und - ausgeben, während früher die meisten, wenn sie nicht überhaupt schon als Haustochter lebten, doch das Verdiente der Mutter abgaben und sich von ihr "solide" einkleiden ließen. Heute trägt unsere fünfzehnjährige Pförtnerstochter, die als Mädchen für alles in einer Familie beschäftigt ist, tramaseidene Strümpfe; und die sechzehnjährige Rahmenarbeiterin von drüben geht jeden Sonnabend zum Friseur und läßt sich ihre Haare waschen und ondulieren. Mit Schuhen wird aber geradezu Luxus getrieben. Man kann gegen die äußere Verfeinerung nichts Rechtes einwenden, denn jeder Einwand wäre vergeblich und daher töricht und unnütz. Wir haben eben wieder mal einen "Ruck" hinter uns. So einen erlebten wir schon einmal etwa in den ersten zehn Regierungsjahren Kaiser Wilhelms II., als es uns so - wie soll ich sagen - so rapide anfing, gut zu gehen. Ende der achtziger Jahre kamen noch Dienstmädchen mit Kopftuch nach Berlin. Ende der achtziger Jahre war noch die Mehlsuppe der abendliche Hauptgang auf dem Bürgertisch. Wer damals Deutschland verließ und um 1900 wieder zurückkehrte, der erkannte es kaum wieder, so üppig war es geworden. Nur ist die heutige Üppigkeit nicht so begründet. Aber sie hat alle Stände und alle Geschlechter und Altersstufen gepackt. Freilich, bei dem alten Professor, der neulich in meiner größten Not mich am Röntgenschirm durchleuchtete, unter dem Blutdruckmesser prüfte und ein betrübliches Cardiogramm von mir aufnahm, habe ich mit Rührung noch ein paar Röllchen am Kleiderhaken gesehen, Röllchen aus Papierstoff, von Mey & Edlich wohl, so wie man sie vor dreißig Jahren unter die Ärmel schob, um dann dauernd die Hände kreisen zu lassen, damit die Röllchen nicht herausfielen. Aber nicht um die Welt würden unsere Gymnasiasten noch Röllchen tragen. Der gebildete Mitteleuropäer hat feste Manschetten am Taghemd. Ebenso selbstverständlich ist es, daß unser vierzehnjähriger Jüngster, der bei der Grünauer Regatta an diesem Sonntag unter den Zuschauern sich befindet, zu Klubmütze und blauem Sakko "unbedingt" eine lange weiße Hose haben muß. Zu meiner Zeit, als ich Schülerruderer war, dachte man an so etwas noch nicht. Zum Glück habe ich unter meinen alten Tropenanzügen noch passende weiße Hosen; sonst könnte mein Filius "unmöglich" in Grünau erscheinen. Also die weibliche wie die männliche Jugend Berlins legen auf Eleganz einen ganz ungemeinen Wert. Der jüngste deutsche Parlamentarier, der deutschvölkische Tittmann, kommt zwar mit Schillerkragen und Wandervogelkittel in den Reichstag, was ihm zu seinen 25 Jahren noch recht gut steht, wie auch manchem jungen Menschen außerhalb des hohen Hauses; der weit ältere kommunistische Abgeordnete Reddermeyer tut desgleichen. Im übrigen möchte ich wetten, daß mindestens die Hälfte aller Berliner Jünglinge ein kokettes Taschentuch besitzt, mindestens drei Viertel aller Berliner jungen Mädchen ein paar seidene Strümpfe, und die gelockte Bubifrisur wird, wie man sagt, bereits von 12 Prozent aller Damen in Berlin W., von 8 Prozent derer in Berlin C., von 5 Prozent derer in Berlin O. getragen und, wie hinzugefügt sei, demnächst wohl verflucht.
Wie mit der modischen Eleganz, so ist es auch mit der Frivolität. Selbst auf dem "Ball der vier Künste" in Paris geht es nicht toller zu, als in manchem Berliner Nachtbetrieb. Auch entfesselt eine Pariser Hitzewelle nicht mehr als eine Berliner. Steigt das Thermometer über 30 Grad, so begnügt sich die modernste Berlinerin mit Büstenhalter und gehäkeltem Seidenjumper. Dann fährt sie mit der Untergrundbahn.
Freilich läßt sich nicht beschwören, daß diese Dame, in deren Netzmaschen man sich sozusagen verfing, zu der besten Berliner Gesellschaft gehört. Es sind noch mehrere ihrer Art aufgetaucht. Die gute Berliner Gesellschaft, die vom November 1918, ist demgegenüber von allem Auffallenden wieder abgekommen. Man hat nicht umsonst die Herabkömmlinge der alten Zeit in seinen Kreis gezogen und von ihnen gelernt, daß Vornehmheit sich immer mit Zurückhaltung paart; jetzt ist "man" selber Gesellschaft und handelt danach. Da ist nun Herr Jänicke in seiner Herzensfreude als junger Papa ein wenig aus der Rolle gefallen und hat zwei ein wenig auffallende Vornamen für seinen Stammhalter gewählt: Hagen Ramsay Jänicke heißt der jüngste deutsche Republikaner. Herr Jänicke ist der Schwiegersohn von Fritz Ebert und ist Attaché oder wohl gar schon Legationsrat im Auswärtigen Amt. Hoffentlich ist er im Beruf ebenso tüchtig wie sein Vater in dem seinigen. Der war Hofschuhmachermeister in der Neuen Wilhelmstraße, und als ich zum erstenmal in einer Kaiserparade stehen sollte, habe ich mir natürlich auch bei Jänicke ein paar lange Lackstiefel gekauft; sie haben schon ein kleines Menschenalter hinter sich und sind noch immer gebrauchsfähig und sitzen wie angegossen. Also Fritz Eberts Enkel heißt nun Hagen, wird demnach vermutlich zu unbedingter Mannentreue erzogen. Ob zum Hause Ebert oder zum Hause Hohenzollern, das hängt von der Weltgeschichte in den nächsten zwanzig Jahren ab. Und Ramsay heißt er auch. Wie jener berühmte schottische Dichter, der als Friseurlehrling in Edinburgh seine Laufbahn begann. Oder wie der nicht minder berühmte englische Chemiker. Oder wie der preußische Artillerieoffizier Hans Ramsay, der mit Wißmann in Ostafrika, später selbständig in Kamerun war und auch einmal ein paar lange Lackstiefel zur Meldung bei Majestät von Jänicke dem älteren sich machen ließ. Oder gar wie der englische Premierminister Ramsay Macdonald. Jänicke schließlich ist ein gut märkischer Name. Jänicke ist plattdeutsch unser Johannchen, unser Hänschen. Also Hagen Ramsay Hänschen, das Vaterland schaut auf dich! Nun sieh du zu, daß du als Erwachsener zwischen Hunnen und Burgunden gut durchfindest!
An uns von der älteren Generation knüpfen sich nicht mehr so viele Hoffnungen wie an den neugeborenen republikanischen Erbprinzen. Wir sind die vorläufig Erledigten. Wir können uns zur Not wieder gut kleiden, aber das meiste von früher, auch das Kulturelle, ist uns zu weit geworden. Wir können nicht einmal die Berliner Theater füllen, die ihre Eintrittskarten großenteils schon zu einem Drittel des Preises unter der Hand abgeben, um nicht gähnend leere Zuschauerräume zu haben. Wenn freilich Benjamino Gigli aus Newyork - seit der Rentenmark finden sie alle wieder den Weg hierher - seinen strahlenden Tenor nach Berlin bringt, ist die Auto-Auffahrt vor dem Opernhause ganz weltstädtisch, drängt sich Frack und Décolleté in den Rängen. Ganz Berlin macht glückliche Gesichter und ist vom melodischen Verdi durchpulst. Man tänzelt auf der Straße, man schwingt rhythmisch den Spazierstock, man schreibt rhythmisch, man kaut rhythmisch, man wird es seit acht Tagen nicht mehr los: La donna è mobile, qual piuma al vento.
Man konnte sich nach Italien versetzt fühlen, so südlich wild raste der Beifall. Aber er galt wohl ebensosehr dem Deutschen Schlusnus, der die Baritonrolle des Rigoletto sang. Kaum je gab es bei uns eine Aufführung, in der so lauter Leuchten vereinigt waren.
Anno dazumal hätte Gigli sicher eine Einladung zu Hofe bekommen. Anno heute machen andere Kreise in Berlin die Honneurs. Also gab es einen Empfang "zu Ehren Giglis" im feinen Westen für etwa 120 Personen. Bei Herrn Israel. Herr Israel ist der Besitzer eines großen Kaufhauses für Wäsche und Konfektion, der seitengroße Anzeigen den Zeitungen aufzugeben pflegt und infolgedessen eine solche Macht ist, daß er eines Tages von der weiland Täglichen Rundschau verlangen konnte, sie solle ihren Kritiker Erich Schlaikjer sofort entlassen, weil er so heftige Artikel gegen gewisse (jüdische) Theaterdirektoren schreibe. Sonst sei es um die Inserate - für 80 000 Mark jährlich - der Firma Israel geschehen.
Also bei Israels großer Empfang. Auch Mafalda Salvatini, ob sie wollte oder nicht, mußte hin und mit Gigli zusammen - "for naß un nicht", wie der Berliner sagt - das Duett aus der Cavaleria singen. Das ganze Italienisch-Berlin war da, dazu die Spitzen von Musik, Presse, Theater, Kurfürstendamm. Dazu die Nichte des Cardinals Jacobini, die eben aus Ägypten zurückgekehrt ist, wo sie gefilmt hat. Einfach fabelhaft.
Es lohnt sich schon, auf eine halbe Stunde da hereinzusehen. Und alle Welt macht Stielaugen, sowie der italienische Konsul Anselmi mit der jungen, blonden, schlanken, berückend schönen und eleganten Gattin erscheint, die ebenfalls filmt. Er ist auch jung, sehr jung, aber das übrige nicht, ja nicht einmal weltmännisch, sondern nur das, was man früher einen "jungen Koofmich" nannte. Er war Angestellter im Bureau der hiesigen italienischen Vertretung. Als dann Mussolini an allen Plätzen, an denen Gesandtschaften residieren, die Berufskonsulate "aus Ersparnisgründen" abschaffte, übernahm Anselmi auf eigene Kosten das Honorarkonsulat, zahlte Miete und Gehälter und Bureaukosten.
Seither hat er, da inzwischen die große Völkerwanderung nach Italien einsetzte, allein aus den Visa eine monatliche Reineinnahme von durchschnittlich 130 000 Goldmark gehabt. Dafür kann man schon eine junge, blonde, schlanke, berückend schöne und elegante Gattin nach Belieben filmen lassen.
26. Juni 1924 (Donnerstag)
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Zur Abendsonne - Dachgarten-Eindrücke in der Großstadt - "Mein Gott, die jungen . . ." - Sportfest im Stadion - Kiderlen-Wächter wird lebendig.
Die Sehnsucht nach der schönen Gotteswelt draußen ist um diese Zeit in der Großstadt sowieso immer groß. Wenn man nun gar gezwungen ist, drei Viertel des Tages mit einer Liegekur zu verbringen und erst gegen Abend kurze Ausfahrterlaubnis bekommt, so wird die Sehnsucht fast übermächtig. Monatelang hat man nicht mehr einen Sonnenuntergnag gesehen. Es ist wie im Gefängnis. Auf keinen Fall darf ich aber dem Professor ein Schnippchen schlagen und durchbrennen, so gern ich auch die Sonne zwischen den Bäumen des Dresdener Großen Gartens verglimmen oder draußen im Meer vor der Nordspitze Helgolands eintauchen sähe. Schon ein Wannsee-Ausflug würde mir nicht vergeben werden. "Ich denke, Sie wollen in vier Wochen die Grippe-Herzschwäche lossein? Haben Sie die Verantwortung oder ich? Oder wollen Sie sich eine Visitenkarte an die Weste nähen lassen für den Fall, daß man Sie draußen tot aufliest?" Nein, nein. Ich gehorche ja schon, Herr Geheimrat, ich will ja noch im nächsten Jahre im Flugzeug nach Teheran spritzen. Aber nur einmal ein bißchen Sonnengold am Abend . . .
Gott sei Dank, ich habe einen Einfall. Wozu ist denn der Dachgarten auf dem Edenhotel da! Schon sitze ich mit zwei Damen im Auto. Mit zwei ist es immer anständig, da kann man ihn ruhig gehen lassen, pflegte meine verstorbene unschuldige Mutter zu sagen. Außerdem ist die eine Dame ein Fräulein Doktor. Warum soll ich nicht mit meinem Leibarzt ins Edenhotel? Praesente medico nihil nocet, sagt der Lateiner; auf Deutsch: wenn ein Fräulein Doktor dabei ist, darfst du ruhig eine Importe rauchen. Schon rauscht der Fahrstuhl im Edenhotel mit uns empor, der noch von der Billionenzeit her, wo die ganze Welt - und auch die halbe - hierherkam, einen Zeitungsstand mit "Se sourire" und "La vie Parisienne" und ähnlichem Zeug enthält, knackt am ersten, zweiten, dritten, vierten, fünften Stock vorüber und entläßt uns auf dem Dachgarten. Ah! Nun einmal so recht tief atmen! Selbst in dem Pfuhl Berlin gibt es also wirklich noch einen Garten Eden, einen zauberischen Blick in die Weite über das grüne Meer der Baumkronen des Zoo und des Tiergartens hinweg. Das hatte ich schon ganz vergessen. Zum letztenmal bin ich sozusagen zu völkerpsychologischen Studien hiergewesen, vor Jahr und Tag, wo man noch kaum einen Deutschen hier traf. Damals, als man ängstlich zusammenfuhr, wenn die Kinder einen um ein paar Apfelsinen baten, wo doch jede so viele Milliarden kostete. Merkwürdig: jetzt höre ich fast nur Deutsch sprechen. Der Herr am Nebentisch ist wirklich nicht aus Uruguay, sondern aus Hinterpommern. Er heißt auch bestimmt nicht Gonzales, sondern v.Zitzewitz oder so ähnlich. Und was ein noch größeres Wunder ist: die Dame bei ihm heißt sicher ebenso. Im vorigen Jahre, während der Ausländer-Inflation, hießen die Damen meistens Fritzi Pachulke oder Lora Lyra. Einen Tisch weiter sitzen ein paar Herren von unzweifelhaftem Deutschtum; der eine ähnelt dem früheren Reichskanzler Cuno, - aus Hamburg sind sie jedenfalls, darauf möchte ich wetten. Viel, viel schlichter und solider ist das Publikum geworden. Von den mehr oder weniger jungen Damen hantiert nur eine einzige dauernd mit Puderquaste und Lippenstift; offenbar will sie sich gegen das Ekel von Bankdirektor panzern, mit dem sie hergekommen ist. Zehn Tische weiter entdecke ich erst einen Fremden, einen hochgewachsenen Engländer. Mit einer Half-Cast-Dame aus Indien, einer dieser eigenartig goldbraunen Schönheiten, die immer häufiger Eingang in die "society" finden. Man speist gut im Edenhotel. Von der eisgekühlten Hühnerbrühe bis zum gebackenen Schweizerkäse ist alles vortrefflich. Die gutgezogenen Kellner überfallen einen auch nicht mehr wie früher in Anreißermanier: "Vorspeisen bitte, Hummer, Salm, Caviar gefällig?", empfehlen sogar einen ganz billigen Mosel zur Erdbeerbowle. Und vor einem rauscht die grüne Unendlichkeit ohne Großstadthäuser; und die purpurne Sonnen umzirkt die schönsten Wolken am Horizont. Nun versinkt sie. Aus dunkelviolettem Geäder zucken noch ein paar grüngoldene Strahlen. Hoch oben segeln ein paar rosige Flöckchen. Irgendwo tief unten, unsichtbar, braust das Leben der Metropole; man hört darüber weg, man könnte schier andächtig werden.
Man hat schließlich auf seine Umgebung kaum mehr geachtet. Nun sind aber die zwei "erlaubten" Stunden wieder herum, man schreitet zwischen wildem Wein und Blumen, zwischen Tischchen und Korbsesseln wieder zum Fahrstuhl, man erblickt zu seinem Erstaunen auch viel junges Volk, Junggesell und Junggesellin, die heute im Vergleich zur Vorkriegszeit so sehr selbständig tun. Aber bitte: bloß keinen moralischen Augenaufschlag! Ich wüßte nicht, weshalb man nicht hier seinen Abend verbringen dürfte. "Mein Gott, was soll aus diesen jungen Mädchen werden?", seufzt eine behäbige Mutter aus meiner Bekanntschaft. Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, gnädige Frau. Im Jahre 1944 sind aus den meisten dieser jungen Mädchen mit schlanken Seidenbeinen und silbernem Zigarettenetui behäbige Mütter geworden, die dann ebenso die Augen aufschlagen und seufzen: "Mein Gott, was soll aus diesen jungen Mädchen werden?" Ich vermute, viel anders haben unsere Großmütter auch nicht gesprochen, als sie bei unseren Müttern, den damals jungen Mädchen, einen Roman von Clauren oder einen Chignon oder ein Briefchen des Klavierlehrers in der Kommode abfaßten.
Der Professor soll nur ganz ruhig sein. Ganz behutsam hat mich der Fahrstuhl unten abgeliefert. Bloß keine Bange. Auch die Heimfahrt auf dem Asphalt ist keine Anstrengung. Am Sonntag habe ich es sogar gewagt, zum Stadion hinauszufahren, wo der Verband der leichtathletischen Vereine sein Jubiläum feierte. Das hätte der General v.Podbielski noch erleben sollen! Das Stadion ist doch seine Gründung. Als es fertig war, hat der alte Husarenoffizier, dessen guter Erkundung 1870 es zu verdanken war, daß wir Vionville-Mars la Tour noch einrenken konnten, freilich sich schon fest auf den Stock stützen müssen, denn das Zipperlein plagte arg den allezeit Fröhlichen, den Anekdotenerzähler, den Skatgenossen des Kaisers. Aber er strahlte wieder einmal. Er sah mit dem hellen Blick des Kavalleristen hier unser deutsches Olympia entstehen, sah schon die Zehntausende von Wallfahrern zu dem Wettspiel und die Tausende von Spielern selbst. Sah alles schon lange vor dem Aufkommen des greulichen Wortes "Ertüchtigung". Und nun säumen an diesem Sonntag, an dem es doch auch - mit ebenfalls Zehntausenden von Zuschauern - die Jugendregatta in Grünau und das Pferderennen in Ruhleben und noch viele andere sportliche Wettbewerbe gegeben hat, rund 42 000 Zuschauer das Stadion. Es ist eingebettet in den Rennplatz Grunewald, ein ovaler Kessel, dessen mächtiges Rasenparkett samt Fahrbahn rund herum von allem Lärm der Welt ganz abgeschlossen ist; nur wer hoch oben im Amphitheater sitzt, der sieht darüber hinaus etwas märkische Heide mit ein paar einsamen hohen Bäumen. Nicht weniger wie fünf Rekorde sind diesmal gebrochen worden, lese ich nachher in dem Bericht. Darunter der im Staffel-Schnellauf über 400 Meter für Damen. Die bisher beste Stafette der Welt, von englischen Mädchen gelaufen, hat über diese Strecke vier Zehntelsekunden mehr gebraucht, wird mir erzählt. Zu meiner Schande muß ich gestehen: ich habe nicht auf die Stoppuhr gesehen, sondern auf die Mädchenbeine. Das Herz lacht einem im Leibe, wenn man so Ebenmaß und Anmut und Frische bewundert. Die Berufsphotographen "knipsen" leider immer den Moment, wo die Siegerin mit letzter Kraftanstrengung, das Gesicht verzerrt, die Arme hochgeworfen, im Rennen das Zielband durchreißt, und diese Bilder können dem Ästheten den ganzen Sport verekeln. Unter keinen Umständen, meine ich, empfiehlt es sich, ein solches Bild einzusenden, wenn ein junger Mann unter der Chiffre "Ferienwunsch" ein Heiratsgesuch einrücken läßt. Er heiratet die junge Dame bestimmt nicht! Auch kaum irgendeine von gewissen schon fast professionellen Tennisspielerinnen aus Berlin W., deren Pedale allzu stämmig geworden sind und die Vergleiche der Dichter mit Reh oder Gazelle Lügen strafen. Überhaupt werden manche dieser Figuren schon zu männisch. So etwa, wie die Plastiken belgischer Bergarbeiterinnen von Constantin Meunier. Schon der stählerne Wille, der im Sport gezüchtet wird, zeichnet viele Teilnehmerinnen und nimmt ihnen allmählich die mädchenhafte Weichheit, für die unsereins so gern sich als Ritter bekennt. Aber dieser beschwingte Lauf der Jungmädels im Stadion ist doch leibhaftige Poesie. Es ist eine alte Weisheit, daß die Frau nicht hübsch zu sein braucht, um reizend zu sein, sondern nur anmutig. Anmut aber ist Sicherheit in der Bewegung. Wer die haben will, der muß entweder bei einer guten Schauspielerin in die Lehre gehen, oder - Sport treiben; nur, selbstverständlich, mit Maßen und in Züchten. Ich glaube nicht, daß die Läuferinnen des Stadion, wenn sie fein bürgerlich auf der Straße wandeln, es in Stöckelschuhen tun, und dann, wie man es so häufig sieht, halb stolpern, halb watscheln, - auch da werden diese jungen Mädchen federnd einherschreiten und gerade dadurch die Blicke auf sich lenken.
Manches im Stadion erinnert an klassische Vorbilder. Was es aber im Altertum ganz gewiß nicht gab, das ist das atemraubende Schauspiel der Jubiläumsstafette, in der fast jeglicher Sport sich die Hand reicht. Ein paar Flugzeuge brausen heran und werfen die Stäbe ab. Läufer ergreifen sie und rennen damit los. Reiter galoppieren als Ablösung fort. Radfahrer und Schwimmerinnen, Motorräder und Automobile - ich weiß nicht einmal, ob damit alles genannt ist - greifen ebenso ein. Und dazwischen sieht man, wie bei Barnum u. Bailey, gleichzeitig auf mehreren Schauplätzen Stabhochsprung und Speerwurf und, für Berlin ganz neu, das Spiel mit dem großen Stoßball von 1,80 m Durchmesser. Brot und Spiele wollte das Volk im alten Rom - und das will es heute noch. Nur die Gladiatoren gibt es bei uns nicht, und die geplanten Stierkämpfe hat die Behörde nicht genehmigt, obwohl die Unternehmer schließlich verzweifelt erklärten, es sollten keine Picadores auftreten und die Hörner des Stieres sogar umwickelt sein. Nein; dann schon lieber ins Kno.
Wie ein ungeheurer Heerwurm wälzt sich die Menschenmenge abends heim, vollgetrunken mit Sonne und Freude am edlem Spiel. Unser Wagen muß noch halten bleiben. Es ist kein Durchkommen. Hie und da wird gezupft und gezirpt, manch schönes altes Marschlied erschallt. Aber auch die neuesten und allerneuesten Schlager. "Im Blauen Bock - bitte wie, bitte wo - ist heute Maskenball, um fünf o'clock - bitte wie, bitte wo - in einem Schweinestall." Teufel nochmal, das paßt wie die Faust aufs Auge. Für diese Sorte "Volk" habe ich nicht viel übrig. Einen weiß ich, der hätte auch daran seinen Spaß, wenn er noch lebte: der Staatssekretär von Kiderlen-Wächter, genannt Spätzle, dessen Nachlaß jetzt eben veröffentlicht ist und in Auszügen begierig von der Berliner Presse aufgenommen wird. Um 1911 herum war Kiderlen für Berlin eine Sensation. "Der Mann mit der gelben Weste." Diese berühmte Weste, in der der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes seine etwas verunglückte erste Rede vor dem Reichstag hielt, war freilich nicht gelb, sondern rot mit schwarzer Borte, aber seine Heting hatte sie ihm doch gestickt, Hete Kypke aus Pommern, die zwanzig Jahre lang mit ihm Leid und Freud geteilt und der er in den kurzen Perioden, in denen er von ihr getrennt war, etwa während der Nordlandfahrten mit dem Kaiser, insgesamt 3000 Briefe geschrieben hat. Also Kiderlen hatte für Schlager sehr viel übrig. Noch mehr für Witze, die nicht für Damenohren passen. Nach dem Mittagessen pflegte er in der "Villa" des Auswärtigen Amtes mit einer riesigen Zigarre, Format Eduard VIII., in einem Klubsessel zu versinken, umgeben von seinen zwei Dackeln und zwei Bulldoggen, und dann seine Geschichten zum besten zu geben. Man durfte nichts übelnehmen. Weder die Geschichten, noch, daß sich einem einer von den Kötern auf den Schoß setzte. Einmal, bei einer solchen Gelegenheit, erhob sich der massige Box, eine der beiden Doggen, warf einen vielsagenden Blick auf Kiderlen und ging zur Tür. Und Kiderlen sagte: "Der merkt, was jetzt kommt, der Witz ischt ihm zu doll, das kann er nit vertrage!" Nun gut, dieser wackere Schwabe war also, würde man heute sagen, ein urgemütliches Bierhuhn, auch keineswegs auf den Kopf gefallen, sehr geschickt im diplomatischen Metier, - nur wird er jetzt wieder wie sie alle von Waldersee über Eulenburg bis Trützschler als Kronzeuge wider alle anderen Hochstehenden zitiert, und das ist nachgerade eine Ekelhaftigkeit, die wir uns abgewöhnen sollten. In seinen Briefen an Fräulein Kypke - ich will nichts gegen sie sagen, wie es beispielsweise die Bukarester deutsche Kolonie getan hat, nein, die Kypke war eine stattliche und kluge Frau und jedenfalls durchaus Dame - in seinen Briefen an Fräulein Kypke stehen auch Sätze über den "törichten" und "gefährlichen" Tirpitz, und das wird nun in der demokratischen Presse groß plakatiert.
Es stehen auch sehr wenig schöne Worte über den Kaiser darin, wie ja Kiderlen überhaupt eine lose Zunge hatte, besonders gegenüber seiner Vertrauten. Er teilte buchstäblich alles mit ihr und hat sogar manchen Entwurf diplomatischer Schriftstücke - zuerst ihr unterbreitet.
Ich möchte wohl wissen, ob diese Presse ebenso begeistert als Offenbarung Worte Wilhelms II. zitieren würde, wenn er auch ein Heting gehabt und mit diesem Wesen alles durch Witzrinnsale gezogen hätte.
3. Juli 1924 (Donnerstag)
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Mady Christians - "Die Frau ohne Kuß" - Prinzliche Berufswahl - Extrarabatt für Minister - Fedor von Zobeltitz spricht - Morgenstern und Thüringen - Der Stein der Weisen.
Sie hat so verruchte, entzückende, berauschende Nasenflügel. Wenn sie sie - in Übermut oder in Ironie oder in Leidenschaft - bläht, so ist man einfach hin. Was, das dürfte ich von einer Dame der besten Gesellschaft, von der jungen Frau v.Müller in Charlottenburg, nicht sagen? Das sei unschicklich? Ich bitte: sogar Friedrich der Große mußte sich, als er mit seinen Versen an die Öffentlichkeit trat, allerlei Freimütiges gefallen lassen. Und diese Frau von Müller ist einstweilen unter dem Namen Mady Christians noch bekannter und ist die damenhafteste Dame der Berliner Bühnenwelt und kriegt nur deshalb die Pferde nicht ausgespannt, weil man heutzutage Auto fährt. Außerdem - man verzeihe freundlichst den Kalauer - ist sie doch selber die stärkste Zugkraft. So stark, daß die Sommerdirektion des staatlichen Schillertheaters es wagen konnte, jetzt - man denke, im Juli - eine Uraufführung mit ihr herauszubringen. Ein musikalisches Lustspiel von Kollo und Sohn. "Die Frau ohne Kuß", ein Halboperettchen mit einem guten Einfall und im übrigen dem dummen Zeug, wie es hierzulande - aber auch in London und Paris und sonstwo - Anno 1924 eben üblich ist. Mady Christians ist darin Edeltipse bei einem Frauenarzt, der vor ihr, der Offiziersgöhre, allerhand Hochachtung hat und ihr auf keinen Fall zu nahe treten will. Auch dann nicht, als er - aber nur, falls er verheiratet sei - einen ehrenvollen und lukrativen Ruf für ein paar Wochen in den königlichen Harem zu Teheran erhält und - sie als Scheingattin dahin mitnimmt, von einem kleinen Schieberich von Standesbeamten mit den nötigen Papieren versehen. Sie ist also gesetzlich verheiratet. Bloß nicht wirklich verheiratet. Mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel und, natürlich, mit einem nur für uns verräterischen Beben der Nasenflügel hat sie ja selber vorgeschlagen, daß man nach den sechs Wochen sich wieder scheiden lasse. Noch bis zum Schluß des zweiten Aktes, wieder daheim in Berlin, ist sie die Frau ohne Kuß. Und doch lechzt sie danach. Denn sie will ihn ja, den Doktor, diesen lieben, ahnungslosen, groben Tölpel von famosem Kerl. Und wie sie das endlich erreicht, nach einer etwas ausgezogenen Monna-Vanna-Szene und nach einem etwas lasterhaften Tanz mit dem persischen Operettenprinzen, das ist einzigartig: weil eben nur Mady Christians in solchen Situationen auf der Bühne die Dame bleibt, an die sich niemals etwa das Urteil heranwagte, daß sie die schickste und frechste Rübe von Berlin sei. Sie trägt mit Vergnügen geschmackvolle und kostbare Toiletten. Aber sie könnte in diesen Toiletten sofort auf irgendeiner Abendgesellschaft auftauchen, denn sie sind - nicht Theater. Sie sind sozusagen Natur. Wenn man da zum Vergleich an die Massary denkt, - die ist in ihrem Gold und Silber und Flitter doch gar nicht mehr wirklich, ist schon fast eine ägyptische Königsleiche in ihren Prachtgewändern.
Übrigens ist "die Frau ohne Kuß" nur ein kleiner Seitensprung der Frau v.Müller-Christians; sie kehrt binnen kurzem von der Operette wieder zum Schauspiel bei Reinhardt zurück. Als sie das erstemal in ihrem Leben öffentlich auftrat, ohne bis dahin zur Bühne bestimmt zu sein, als ganz junges Ding, 1916 im Deutschen Theater in Newyork bei einem Propagandafest vor den "Spitzen" der dortigen deutschen Gesellschaft, da war es auch in einem Singspiel. Sie warf sich dabei mit solcher Verve auf das Sofa, daß das alte Bühnenmöbel unter ihr zusammenkrachte. Und als Jung-Mady sich dann wieder aufrappelte und mit ihrem liebsten "Ach bitte, bitte"-Gesicht ins Publikum starrte, war der Jubel groß und der Erfolg besiegelt. Ihre biegsame Sportfigur - sie treibt Tennis, Skilauf, Reiten - ist auch schon oft über die Leinwand gehuscht. Demnächst wird sie als Lenore in Gustav Freytags "Soll und Haben" von dem Terrafilm herausgebracht. Für eine Szene darin übt sie zu Pferde in dem Kostüm des zweiten Kaiserreiches in einem Berliner Tattersall. Als ihr Sportkamerad und ihr Reitlehrer steht ihr Mann dabei. Er ist der Sohn des bekannten Admirals und selber lange Zeit hindurch preußischer Gardeoffizier gewesen. Nachher hat er seinen Doktor der Rechte und der Staatswissenschaften gemacht, ein kluger und gescheiter Mensch, der dabei die stille Unauffälligkeit des geborenen Diplomaten besitzt. Wir begegnen ihm sicher noch einmal in der großen Politik. Natürlich ist zurzeit Mady Christians die stärkste Geldverdienerin in diesem Hause, aber Herr v.Müller ist keineswegs zu der Rolle des Prinzgemahls prädestiniert; vielleicht wird Frau v.Müller unter diesem Namen einst noch bekannter in Europa werden wie als Mady Christians.
Es ist heute nicht die einzige Familie dieser Art, wo beide, Mann und Frau, in der Öffentlichkeit schaffen. Heute bleibt kein Talent ungenützt - und kein Nützen von Talenten gilt als shocking. Es gibt Männer in angesehener Stellung, deren Frauen heute Fremdenführerinnen sind. Und es gibt kaum einen praktischen Beruf mehr, in dem wir nicht ehemalige Offiziere fänden. Nachgerade wird man dies sogar von den jüngeren Mitgliedern unserer ehedem regierenden Häuser sagen können. Der sächsische Thronfolger, in dessen Bataillonsunterstand im Schnee an der Düna ich einst zu meinem Erstaunen allerlei Heiligenbilder sah, ist katholischer Priester geworden. Der zweite Sohn des Prinzen Heinrich von Preußen ist als Vertreter einer Kaffeefirma nach Südamerika gegangen. Auch einer unserer Kronprinzenjungen, Louis Ferdinand, hat so beiläufig und ganz allein fließend Spanisch gelernt, in dem Gedanken, diese Kentnisse vielleicht einmal in einer kaufmännischen Stellung verwerten zu können.
Ich kann mir nicht helfen, ganz geheuer ist mir dabei nicht, sei es, daß ich noch zu altmodisch bin, sei es, daß ich das "Heute" doch nur für einen wirren Übergangstraum halte. Jedenfalls steht das eine aber fest, daß die Herabkömmlinge des alten Systems sich weit besser in jegliche Veränderung einpassen, als die Emporkömmlinge des neuen auf dem umgekehrten Wege. Jene werfen jegliches Vorurteil entschlossen über Bord und stehen mit beiden Füßen in dem gegenwärtigen Beruf. Diese aber werden ihre Herkunft nie los. Auch nicht ihre Manieren. Auch nicht ihre Erwerbsgepflogenheiten. Von unseren Berliner Prinzen hat in diesem Jahre einer eine kleine bescheidene Intalienreise gemacht, die anderen blieben alle daheim. Herr Noske aber, der schon um Weihnachten in dem vornehmsten Wintersportquartier der Schweiz geweilt hat, ergeht sich jetzt auf dem paradiesischen Eiland Madeira. Ein Genosse von ihm, der noch gegenwärtig Minister ist, befolgt derweil den kategorischen Imperativ: "Schmücke Dein Heim, nur immer hübsch billig!" Am Westende der Leipziger Straße, im Amtsgebäude des preußischen Handelsminister Siering, das er gegen eine Zweizimmerwohnung am Wedding eingetauscht hat, befindet sich die Schöpfung Friedrich des Großen, die Königliche Porzellanmanufaktur. Auch die jetzige rote Regierung hat in den Anzeigen das Wort "Königlich" um der Reklame willen beibehalten, stellt nur ein ganz kleines unscheinbares "vorm.", vormals, vor die großgedruckte Firma. Von den netten Sächelchen hätte nun Frau Exzellenz Siering, auch wenn sie "so leicht zerteppert" werden, gar zu gerne etliches in den Vitrinen ihrer nunmehrigen 21-Zimmer-Wohnung aufgestellt, aber von dem Hungergehalt eines Ministers kann man nicht allzu viel erübrigen. Doch es gibt ja gefällige Leute und entgegenkommende Untergebene. Wenn der frühere Finanzminister Hermes lächerlich billig Kabinettsweine bekam, warum sollten nicht Sierings einen Extrarabatt auf Porzellane bekommen. Also die "vorm. Königliche Porzellanmanufaktur" bewilligte einen Extrarabatt, den sonst kein Mensch erhält, und Sierings stellten ihre Kostbarkeiten auf - und jedermann hielt fein säuberlich den Mund. Nur kam die Geschichte leider bei der amtlichen Rechnungsprüfung heraus, und ein deutscher Volksparteiler machte die Sache im Landtage kund. Seither schmollen Sierings. Sicherlich sei das eine Gemeinheit von dem Finanzminister Dr. v.Richter, der es wohl seinen Leuten gesteckt habe. Rein gar nichts gönnen einem diese Beamten des alten Systems! Wenn man aber nicht einmal die billigen Bezugsquellen mehr hat, dann macht einem doch die ganze Republik keinen Spaß mehr. Bloß für das Lausegehalt lohnt die Arbeit nicht. Pfui Teufel. Es gibt keine Kollegialität mehr. Keinen Korpsgeist. Wo doch so schön eine Hand die andere waschen könnte . . .
In despotisch regierten Ländern - wie beispielsweise dem ehemaligen und auch jetzigen Rußland - erlaubt die Zensur nicht, derartige Dinge anders als lächelnd zu besprechen. Auch ich denke nicht daran, etwa den Entrüsteten zu spielen und zu wettern, denn wir sind zwar eine freie Republik, - aber mit dem Gesetz zu ihrem Schutze könnte man sich doch leicht veruneinigen. Auch halte ich es mit dem alten Wahrwort: "Fern bleibe bechernder Männer Gespräch Politik die leidige Hexe." Einen Becher Toskanerwein vor mir, die kleine Zigarre (nur eine kleine soll ich vorerst wieder) im Munde, die Horchklappen am Ohr, so höre ich dem Rundfunk zu, aus dem Fedor von Zobeltitz ganz unpolitisch zu uns spricht über das "trockene" Amerika und das Gott Lob noch weinfrohe Deutschland. Wir sind im Leben zufällig immer aneinander vorbeigeglitten, obwohl wir oft an demselben Strange zogen und wohl auch oft - nur zu verschiedenen Zeiten - an demselben Stammtisch gesessen haben. Jetzt höre ich ihn zum erstenmal in meinem Leben leibhaftig. Ich möchte aufspringen und ihm die Hand schütteln - aber es geht ja nicht, er sitzt ja weit ab im Voxhaus, und zwischen uns sind zwei Kilometer Luft. Es ist doch nett von dem Rundfunk, irgendwann einmal zu jedem Berliner eines jeden eigensten Liebling sprechen zu lassen. Ich ziehe Fedor von Zobeltitz jedenfalls bei weitem der sanften Henny Porten vor, die vor einigen Tagen zum Entzücken aller Berliner Backfische durch den Rundfunk um milde Gaben für das Kaiserin-Auguste-Viktoria-Säuglingsinstitut warb, das vor dem Erliegen sich befinden soll. Also Zobeltitz spricht. Ganz so habe ich mir seine Stimme vorgestellt. Es steckt eine Unmenge Burgunderbehaglichkeit darin, so daß mir selber ordentlich warm ums Herz wird. Vielleicht ist auch eine leise Tönung guten alten Rheinweins dabei - mir fehlt zur genauen Feststellung doch noch die absolute Musikalität. Aber wenn Fedor v.Zobeltitz so spricht, dann werden sogar Morgensterns Galgenlieder in mir lebendig, und ich summe leise:
Das Perfekt und das Imperfekt |
Nun möchten die Hüter des Gesetzes zum Schutze der Republik sicherlich gern wissen, was Morgenstern sich dabei gedacht hat oder weshalb ich ihn zitiere. Aber Morgenstern ist längs tot - und ich verrate nichts. Ich gehöre zu den Plusquamperfekten, die nur blinzen. Und daß im übrigen mein Futurum nicht das Futurum ist, auf das die gegenwärtigen Imperfekten anstoßen möchten, versteht sich am Rande. Die heutigen Machthaber jubeln schon, weil dem weiland thüringischen Genossen Ministerpräsident nur eine einfache Urkundenfälschung zugunsten von Parteifreunden vor Gericht nachgewiesen worden ist, ohne daß er sich, wie sein sächsischer Ministergenosse, für Gefälligkeiten hat bezahlen lassen. Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn! Und siehe da, die Steine bleiben ungeworfen; denn es ist doch wirklich fabelhaft anständig, daß ein sozialdemokratischer Ministerpräsident so ganz ohne Entgelt durch Vordatierung ein paar dienstlich befreundete Beamte vor dem Abgebautwerden bewahren wollte.
Inzwischen wird ja ein großer Teil unserer deutschen Souveränität abgebaut, nachdem Frankreich und England sich wieder einmal auf unserem Rücken geeinigt haben, wobei wir die Balance der beiden durch exemplarisches gebücktes Stillhalten ermöglichen. Was allein die Leute nicht abbauen können, das ist der deutsche Kopf. In wenigen Tagen wird eine Kunde die Welt durcheilen, daß in Deutschland das Bemühen langer Jahrhunderte endlich geglückt ist, den sogenannten Stein der Weisen zu finden: Gold auf synthetischem Wege herzustellen. Ich kenne den berühmten Professor, dessen Lebensarbeit jetzt so gekrönt ist, die Sache ist durchaus "seriös", aber vorerst nur laboratoriumsreif, nicht betriebsreif, da die Herstellungskosten bei dem jetzigen Verfahren noch ein Vielfaches des erzielten Goldes betragen. Es ist also noch nicht so weit, daß die lieben Leser in schlaflosen Nächten die ungeheure Revolution durchgrübeln müßten, die die Erfindung in die Weltwirtschaft bringen dürfte, und leider auch noch nicht so weit, daß der Berliner Professor in ein paar Überstunden die 132 Milliarden Mark Gold des Londoner Ultimatums (fünfmal soviel als die ganze Menschheit an Gold besitzt) fabriziert und der Reparationskommission mit den Begleitzeilen zuschickt: "Da habt Ihr Euren Dreck! Und nun verduftet!"
10. Juli 1924 (Donnerstag)
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