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Der Hausarzt stirbt aus - "Mein" Kursmakler - Bei der Astrologin - Wilhelm Piefke und Julius Caesar - Was die alte Reithose sagt.
Mein Hausarzt meint . . . mein Hausarzt empfiehlt . . .ach, wie häufig hat man früher diese Sätze gehört, wenn Damen bei ihrem Kaffeekränzchen saßen oder Herren nach dem Diner bei ihrer Zigarre. Wer was auf sich hielt, der hatte seinen Hausarzt. Jede solide Bürgerfamilie hatte einen. Er kam allwöchentlich einmal zur Visite und kriegte sein herkömmliches Glas Portwein mit Biskuits vorgestzt. Dann wurden die Kinder gerufen, machten Knix und Kratzfuß und verschwanden wieder. War eines krank, dann setzte sich der Hausarzt ans Bett, legte seinen Stock mit dem goldenen Knopf - jeder Hausarzt hatte einen solchen Stock, wie der König sein Zepter - nachdenklich an Kinn oder Nase, riet dann Lieschen zu einem Migränestift oder pinselte Fritzchen gegen Halsbräune mit Jod. So machte er in vielen Familien die Runde. Selbstverständlich immer im eigenen Wagen. Dafür zahlte man vierteljährlich eine bestimmte Summe, die von vornherein in jeden anständigen Haushaltsplan eingestellt war. War die Familie das ganze Jahr über gesund, so waren die Besuche nur ebenso viele Plauder-Viertelstündchen. Für dasselbe Geld aber kam der Hausarzt auch wochenlang zweimal täglich, wenn es schlimm um einen stand. Das war in der Zeit, da wir Kinder waren, sozusagen also der Vorläufer der Krankenversicherung. Ich will nicht verhehlen, daß junge soeben zugezogene Ärzte sehr leicht in töchterreichen Familien Eingang als Hausarzt fanden und sich so verhältnismäßig bald ihr Existenzminimum schafften. Das ist nun alles anders geworden. Wenigstens in der Großstadt geht man nur noch "im Bedarfsfalle" zum Arzt. Mein Hausarzt meint . . . mein Hausarzt empfiehlt . . . ich glaube, diese Sätze verschwinden allmählich aus unserem Sprachgebrauch.
Dafür wird das besitzanzeigende Fürwort "mein" jetzt häufig mit Berufen in Verbindung gebracht, von denen wir früher nichts gehört hatten. Neulich sagt mir ein nach meinen Begriffen fürstlich reicher Mensch, bei dem ich nachmittags zu Besuch bin: "Gerade ist mein Kursmakler am Telephon - haben Sie einen Wunsch oder eine Frage?" Ich habe in demselben Augenblick vor Ehrfurcht fast meinen Geist aufgegeben. Andere Leute sagen: mein Chauffeur, meine Chefsekretärin, mein Trainer, meine Manicure. Ich werde bei so etwas immer kleiner; ich könnte mich schließlich in die eigene Westentasche stecken. Aber das ist alles noch gar nichts. Wer heute in Berlin überhaupt noch Anspruch darauf macht, mit der Zeit zu gehen der hat selbstverständlich auch - seine Astrologin.
Ich weiß von einem früher königlich preußischen Forstassessor, der heute einer der größten Berliner Holzverschieber aus Sowjetrußland und Jugoslavien nach Westeuropa ist, daß er kein Geschäft abschließt, ehe er sich nicht dafür das Horoskop von seiner Sterndeuterin hat stellen lassen. In der Gegend der Motzstraße gibt es fast schon so viele Astrologinnen wie Likördielen. Man hält mich geradezu für ungebildet, weil ich so fröhlich und unbekümmert dahinlebe, ohne Jupiter und Wassermann, Mond und Cassiopeia um ihre Genehmigung zu fragen. Man verweist mich auf einen großen deutschen Heerführer aus dem letzten Kriege, der sein Quartier stets nur in einem Ort aufschlagen wollte, dessen Name aus sieben Buchstaben bestünde, weil das doch Glück bedeute, und der wie Wallenstein vor jedem Angriffsbefehl die Konstellation der Sterne studierte. Und schließlich kommt man mir Ungläubigem noch gar mit Goethes Versen:
"Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, |
Zwar glaube ich nicht, daß der Olympier Goethe die freie Willensbestimmung so vollkommen geleugnet oder daß er gar vor der Niederschrift irgendeines seiner unsterblichen Werke sich bei einer Astrologin Rat geholt hat. Immerhin: auch mir, dem kleinen Nachstammler, sei nichts Menschliches fremd! Man soll auch nichts verspotten, das man nicht kennt. Also ich versuche, mich möglichst demütig und bescheiden und wissensdurstig zu stimmen, stecke 10 Mark extra in die linke Tasche, von der die rechte nichts wissen darf, und fahre in die Gegend der Motzstraße zu einer meinem Stande entsprechenden Astrologin; die ganz feinen, bei denen man nur in eigenem Auto vorfährt und von einem livrierten Diener empfangen wird, sind ja doch nichts für mich. In dem Vorraum fängt leider schon gleich die Lachlust mich an zu kitzeln. Da steht nämlich in falschen Buchstaben und in schönstem Druckfehlerlatein der Satz rund um die Wand:
Astra regunt fatuos, sapiens dominabitur astris
und darunter die angebliche Übersetzung:
Die Sterne beherrschen das Geschick, der Weise regiert die Sterne.
Der Wandschmuck ist ganz neu, noch farbfrisch. Es hat wohl noch kein Besucher Zeit gehabt, der hier waltenden Dame mitzuteilen, was für ein Unsinn das ist. Oder es ist noch kein Besucher mit Tertianerbildung hier gewesen. Drinnen im Allerheiligsten sind die Zeichen des Tierkreises an der einen Langwand angebracht. Ein Tellurium steht auf dem Schrank. An der Seite neben dem Schreibtisch ein Totengerippe, darüber ein Öldruck: Tannhäuser im Venusberg. Auf dem Tische selbst eine sogenannte Sternenuhr, ein Damaszenerdolch, eine Marmorhand als Briefbeschwerer auf einem Paket von Formularen, die die Aufschrift "Nativität" zeigen, drei Phiolen mit bunter Flüssigkeit und eine silberne Riesenspinne. An der zweiten Langwand neben dem Sofa ein Betpult mit einer mächtigen Gutenberg-Bibel darauf. Die sieht so aus, als sei sie nur Atrappe und als diene sie zur Aufbewahrung von Mampe-Likören. Einen Augenblick verweile ich vor dem Bücherschrank. Da steht populäre kabbalistische Literatur neben Büchern über Graphologie, Chiromantie, Astrologie, von dene ich einige kenne: sie sind fast durchweg auf Dienstmädchen-Intelligenz zugeschnitten.Dazwischen hat meine gute Astrologin aber auch ganz verfängliche Sachen. Die Memoiren der Schröder-Devrient und ähnliche "Privatdrucke"; sicherlich auch sogenannte Pariser Photos. Da geht die Schiebetür zum Nebenzimmer auf. In einer schwarzen Samtrobe mit schmaler Silberlitze am Kragen, geschlossen vom Kopf bis zu den Füßen, die Augen ein wenig schwarz unterlegt und die Ohrläppchen rosig getüncht, die Haare à la diable frisiert, schwebt die noch verhältnismäßig junge Dame herein, die auf Anhieb den Eindruck einer Barmaid macht. Also das ist die Astrologin. Meine Visitenkarte legt sie auf die große Silberschale vor dem Sofa, nur, wie ich verständnisinnig bemerke, nicht obenauf, sondern etwa in die Mitte, zwischen die anderen Karten; obenauf bleiben, hübsch auseinandergebreitet, die einer Gräfin und eines nachnovemberlichen Ministerialdirektors und einer Filmdiva, mit denen ich gewöhnlicher Sterblicher mich natürlich nicht messen kann. Nun werde ich zum Sessel neben dem Schreibtisch geführt. "D' Sietzung iescht ereffent!" pflegte in solchen Fällen Fehrenbach als Reichstagspräsident zu sagen.
Ob ich eine genaue schriftliche Ausfertigung von Horoskop und Nativität, etwa zwölf Seiten, Preis zwanzig Mark extra, wünschte.
Nein, danke, mir genügen mündliche Urteilsverkündigungen.
Ich werde nach Ort, Tag, Stunde und Minute meiner Geburt gefragt.
Die Astrologin schlägt Bücher auf, schiebt an der pappenen Sternenuhr, fährt mit dem Finger auf Tabellen herum, schaut mir dazwischen "märchentief" in die Augen, legt mir weich und bedeutungsvoll den Arm auf die Schulter und erzählt unaufhörlich von Aspekten, Häuserspitzen, Quadraturen, Konstellationen und von Tierkreiszeichen, die je nachdem gehorchend oder fruchtbar oder doppelkörperlich oder wässerig oder musikalischg oder lasterhaft seien. Dabei wechselt der Gesichtsausdruck der Astrologin ständig: er ist verklärt, triumphierend, schmerzlich; und nun lacht sie gar und züngelt. Gut zehn Minuten lang habe ich den Wortschwall über mich ergehen lassen. Ich weiß nun - ich wußte es auch so schon längst - die Bedeutung von Mars und Venus in meinem Leben. Ich erfahre, daß ich im ganzen vier Kinder bekäme (und dabei habe ich schon sechs), ich erfahre, daß ich einen sehr hohen militärischen Rang erreichen würde (sie hat das "a.D." auf meiner Visitenkarte übersehen); und sie sagt mir, zwischen - glaube ich - dem zehnten und dreißigsten August dürfte ich nie etwas unternehmen, da hätte ich immer Pech. Fast möchte ich empört auffahren. Bitte sehr! In dieser Zeit habe ich geheiratet! Einerlei, ich höre witer zu. Also ich würde sehr alt. Meine Todesursache: verdorbene Säfte. Pfui Deibel. Außerdem sollte ich auf Gallensteine, Brustquetschung, Verbrühungen gefaßt sein. Aber alles werde wieder gut, der Tod werde schmerzlos sein. Seereisen seien zu vermeiden. Ich hätte in meinem Leben wiederholt weniger Geld gehabt, als meiner Begabung und Pflichttreue und Arbeitsenergie entspräche, aber das werde sich noch glänzend machen. Wenn ich erkrankte, dürfte ich zu keinem allopathischen Schulmediziner gehen, sondern müßte mich der okkulten Heilweise bedienen. Dieses und anderes stehe für mich in den Sternen geschrieben.
In tiefem Sinnen gehe ich davon. Eigentlich hätte ich der Astrologin Doppelhonorar bezahlen müssen. Nämlich in derselben Stadt - auch als Auslandsdeutscher - und in derselben Minute wie ich ist auch Wilhelm Piefke geboren. Sein Schicksal regieren also in gleicher Weise dieselben Sterne. Wir schreiben uns zuweilen. Wilhelm Piefke wird hocherfreut sein, daß er noch einen hohen militärischen Rang erreichen wird. Er ist ein Sohn schlichter, aber braver Eltern, ist Schreiber in einem Anwaltsbureau, ist 1,44 Meter groß und hat einen großen Höcker.
Meine Astrologin hat mir auch - mit Aufschlag - einige Bücher ihrer Wissenschaft verkauft. Ich stelle daraus fest, daß laut untrüglichem Horoskop Julius Caesar bei einem Eisenbahnunfall ums Leben gekommen sein muß.
Scherz beiseite. Ich leugne gar nicht die Möglichkeit gewisser Gesetzmäßigkeiten. Vielleicht ist mehr als wir ahnen zwangsläufig. Aber - das Prophezeien ist das Sinnlose. Es läßt sich nichts prophezeien, schon weil niemand den Zeitpunkt seiens Werdens angeben kann. Wann ich "das Licht der Welt erblickte", ist völlig gleichgültig. Das können Arzt oder Hebamme beschleunigen oder aufhalten. Da könnte ich so aus dem Sternbild des Löwen in das der Jungfrau geraten und - ein ganz anderes Schicksal haben. Das ist also wirklich offenbarer Unsinn. Wann ich - gezeugt wurde, das muß ich wissen. Der Same wandert tagelang, bis irgendwann einmal die Befruchtung erfolgt. Hier stehen wir vor dem heiligen Geheimnis. Kein Irdischer kann seine Schleier lüften.
Und ich lache nicht mehr, nein, ich weine fast über die Dummheit der Großstadtmenschen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Es wäre wirklich hohe Zeit, diesem Dunsttempel von 4 Millionen Menschen wieder einmal zu entrinnen, die in dem Niederbruch der Nation auch selber innerlich haltlos geworden sind und nun zu allerlei Zauber und Schwindel sich drängen; und unter Menschen zu gehen, die noch fest auf ihren Beinen stehen und gesund im Kopfe sind. Gerade habe ich eine lustig-liebe Einladung von einem alten Kavalleriegeneral erhalten, der auf seinem pommerschen Gute einen Turnierstall unterhält; ich dürfte acht Tage lang alle seine Springpferde reiten. Er weiß natürlich nicht, daß ich auf keinen Fall so lange von der Arbeit weg darf. Aber vielleicht auf zwei oder drei Tage? Ich will darüber aber lieber nicht die Sterne, sondern meine alte Reithose befragen, die seit 1917, kurz bevor ich zu den Fliegern hinüberwechselte, keine Pferdewärme mehr gespürt hat. Ich hätte wohl mächtige Lust. Sie auch. Sie sitzt ausgebreitet auf dem Stuhle vor mir, grient durch den Vorderschlitz und wippelt hinten mit dem Schnallenschwänzchen. Ich weiß, ich weiß. In der Bibel steht, daß wir unserer Länge - vom Fuß bis zum Kopf, vom Südpol zum Nordpol - keinen Zoll zulegen können. Aber um den Äquator herum ist es anders; wenn auch nur erst ein ganz klein wenig anders. Also müßte ich doch wohl erst einen Keil in die Reithose einsetzen lassen. Und sie sieht mich schiefmäulig an und sagt bloß:
"Junge! Junge!"
13. März 1924 (Donnerstag)
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Kein Lachen mehr - Gespielte Dirnen - Die Auferweckung der Altberliner Posse - L. P. junior - Einrichtungssorgen in den Ämtern - Ebert im Adlon.
Wir haben das Lachen verlernt. Das tiefe, brustfrohe Lachen aus sonnig strahlendem Gesichte heraus, von gütigem Humor geboten, von reiner Freude getragen. Das Grinsen ist heimisch bei uns geworden. Man lächelt und lacht nicht, sondern man grinst und meckert, weil der Reiz nicht das Herz, sondern gewisse Nerven weit unterhalb streift. Vielleicht ist das Lachen noch auf Heide und Flur heimisch, vielleicht in unseren Kinderstuben, vielleicht auch in einem großstädtischen Nest von Wanderküken. Der Soldatenhumor ist dahin. Der Studentenhumor ist dahin. Sogar in den Schulen bei den kleinen Buben wird in altklugen Gesichtern alles verzerrt. Die Bierzeitung einer Berliner Untersekunda liegt vor mir, zusammengestellt für die Exkneipe, die man mit den abgehenden Kameraden feiern will. Da ist harmloser Ulk, ungebärdiges Veralbern mancher Lehrer, auch gegenseitige Verspottung; mitten darin aber meckert und grinst ein früh Alter etwas von Spitzenunterhöschen. Richtiges Lachen erleben die Jungen wohl auch bei den Eltern in der Großstadt nur noch selten. Wenn die es nicht in sich haben: von draußen bringen sie es nicht heim. Man geht, müde vom Beruf, abends oder gar schon nachmittags an eine der zahllosen Stätten, wo angeblich "Witz und Humor, Betrieb und Stimmung" regieren, und man sieht auf dem Bühnchen irgendeine Dame mit untermalten Montmartre-Augen, die vom Podium herunterkräht:
"Hach! Ich bin eine Dirne . . ."
Das brauchen Sie doch nicht so laut zu sagen, mein Fräulein, erstens sehe ich das von alleine, zweitens ist das nichts Erschütterndes in dieser Umgebung; wenn Sie dann aber fortfahren
". . . und in den Pausen wieg' ich mein Kind",
so ist das bestimmt nicht wahr, denn erstens haben Sie keins, und zweitens essen Sie in den Pausen, wie ich festgestellt haben, ruhig ihre Klappstullen bis zum letzten Krümelchen auf.
"Laster brütet die Stirne . . ."
Nein, mein Fräulein, man brütet mit einem ganz anderen Körperteil, mit dem Sie gerade eben so wackeln; und daß Sie weiter bekennen:
". . . das Herz derweil in Kummer zerrinnt"
das glaube ich Ihnen erst recht nicht, denn so sehen Sie wahrhaftig nicht aus. Der Zweck der ganzen Übung ist, abgesehen vom Tageshonorar und der Möglichkeit, sich hier in aller Verblühtheit noch zur Schau stellen zu können, doch nur der, dem Spießer im Parkett einen Schauer über den Leib zu jagen, gleichzeitig seine Sentimentalität zu kitzeln und den Portokassenjüngling zum Grinsen und Zahlen zu bringen. Solcher Damen haben wir eine Legion. Man bemeckert sie im Kabarett, man beäugt sie im Theater. Man sollte sie lieber allesamt auf dem Schindanger verscharren, weil sie uns das Lachen rauben, das zu suchen und wiederzufinden wir nun doch schon fünf Jahre lang ausgezogen sind.
Hie und da in Berlin taucht, noch sehr vereinzelt und schüchtern, nach fünf Jahren des faunischen Grinsens wieder das gesunde Lachen empor, wie wir es noch von früher her im Ohre haben. Im Vestibül des Staatlichen Schauspielhauses treffe ich Muttel Behm, die silberhaarige deutschnationale Abgeordnete, mit einem ganz glücklichen Gesicht. Es ist an einem Altberliner Possenabend. "Bei den Stücken hat schon meine Mutter so gelacht!" sagt sie. Auch uns sind die Tränen vor Vergnügen über die Backen gelaufen. "Guten Morgen, Herr Fischer!" von W. Friedrich und "Das Fest der Handwerker" von L. Angely, zwei Possen mit Gesang und Tanz, gehen über die Bühne. Schon vorher aber geraten die Zuschauer, vom ältesten Herrn bis zum jüngsten Backfisch, in fröhlichste und behaglichste Stimmung. Die Theaterkapelle kommt, in Vatermördern und unglaublichen Zylindern, zum Teil noch in buntem Frack und mit Spitzenjabot; mit einem jovialen "N'aamt!" grüßt uns der Kapellmeister und legt dann mit der ganzen Begeisterung los, deren man einst fähig war, als man noch bei der Talgkerze jener Kunst diente, die heitere Menschen liebte. Eine Klingel, wie sie in manchen Familien noch am Christabend gebraucht wird, ertönt hinter dem altmodischen Vorhang, er rauscht auf, und von Urväter-Rampenlicht bestrahlt sehen wir auf der Bühne die herzhaften, derb komischen, innerlich gütigen Leutchen von Anno dazumal. Verschwenderisch sind die besten Kräfte für die lieben Harmlosigkeiten eingesetzt. Die als Kätchen von Heilbronn so hauchzarte, märchenduftige Lucie Mannheim ist da ein dralles Berliner Dienstmädchen aus fast vormärzlicher Zeit, das mit seinen dickbestrumpften Säulenbeinen und seinem pfiffigen oder verheulten Gesicht bloß auf die Szene zu kommen braucht, um die Zuschauer zum Wälzen zu bringen; und in dem zweiten Stück ist Albert Florath als Maurerpolier eine derart vollsaftige, künstlerisch bis auf das letzte vollendete Figur, daß man nach wenigen Minuten Krieg und Revolution und alles Übel der Welt vergessen hat und am liebsten selber zur Bühne hinaufeilte und sich unter diese Prachtkerle mit ihrer ansteckenden Gemütlichkeit mischte. Wir sind ja gar nicht so übergebildet, wie wir immer tun! Wir haben ja Zoten und Problemstücke gar nicht nötig! Wir können ja noch aus vollem Herzen lachen! Dann können wir auch noch wieder gesunden; noch ist nicht alles Dionysische in uns verkümmert, noch schwingt der Rhythmus der alten Tanzschritte in uns, mit denen unsere Großeltern als junge Leute im Sturm das Leben nahmen.
Freilich muß man die alte Behaglichkeit sich vorerst noch von der Bühne herab vorspielen lassen. Draußen ist sie kaum mehr vorhanden. In den Häusern läßt die Sorge um das tägliche Brot die reine Lust nicht aufkommen. Auch die vergnüglichen kleinen Kneipen haben ja den modern aufpeitschenden weichen müssen. Manchmal glaubt man noch eine Oase zu treffen. Da ist im alten Westen ein Weinlokal, das nicht mit charakterlosen Möbeln ausstaffiert ist, wie sie der Händler pro Hundert liefert, sondern mit dem Hausrat der achtziger Jahre und mit den Bildern, wie sie damals in der guten Stube hingen, auch mit "echtem Biedermeier" in einem Zimmer und mit mancher Erinnerung an das literarische Berlin jener Tage. Es ist das Erbe von Ludwig Pietsch, des mit dem Professorentitel und allerlei freundlichen Orden behängten Mitarbeiters der Tante Voß, der jahrzehntelang der unübertreffliche und unnachahmliche Schilderer der Toiletten auf Hof- und Subskriptionsbällen, aber auch ein guter Kunstkritiker und Reiseberichterstatter war, und vor allem: das Wohlwollen selbst, das jeden Gegner entwaffnete. Sein Sohn wurde aktiver Offizier, brachte es bis zum Hauptmann, nahm seinen Abschied, heiratete nach dem Kriege in dem allgemeinen Zusammenbruch seine Köchin und eröffnete dieses Lokal, in dem das beste warme Frühstück und Abendbrot Berlins zu haben war. Aber jetzt - wie das so zu geschehen pflegt - will die Frau Hauptmann nicht mehr. Man müsse "Personal" zum Kochen haben. Das bringt der Betrieb nicht auf; und so kann man jetzt zu einer guten Flasche Wein und den ein wenig rührenden Erinnerungen (und zu dem heimlichen Bedauern über die Mesalliance) nur noch ein belegtes Brot im Hause Pietsch bekommen.
Einst verkehrten bei dem Vater, dessen Initialen L.P. sozusagen weltbekannt waren, alle Berliner Koryphäen. Sie ließen auch alle irgendein wertvolles Andenken zurück. Heute nährt noch die Weinhandlung den Sohn, aber die geistige Elite ist zerstreut. Die neuen Machthaber haben für Erinnerungen auch nichts übrig. Es gibt heute viel interessantere Dinge. Etwa eine Probe von dem Tüll, der auf Reichskosten zu einem Betthimmel für Frau Stresemann verarbeitet worden ist. Oder die Geschichte von dem alten Sofa, das der Schwiegersohn Eberts so vorteilhaft an das Auswärtige Amt verkauft hat. Und wenn die heutigen Herrschaften sich sehen wollen, dann tun sie es natürlich nicht unter dem Hotel Adlon. Der Reichslandwirtschaftsminister hatte am vorigen Sonntag alle Spitzen zu einem Essen dorthin eingeladen. Nun ist gerade Köchestreik in dem Hotel, man arbeitet mit Streikbrechern, und die bisherigen Köche, übrigens sehr elegante Herren, stehen Posten vor dem Hause und tragen auf dem Bauch Schilder mit der Aufschrift: "Hier wird gestreikt!" Durch dieses Spalier schritt nun auch Herr Fritz Ebert, ohne daß sein altes Gewerkschafterherz sich empörte. Nicht sehr erfreut sahen die Köche ihm nach, und einer von ihnen konnte es sich nicht versagen, den Seufzer auszustoßen:
"Fritze, Fritze, wie hast du dir verändert!"
20. März 1924 (Donnerstag)
30
Das Italien-Fieber - Unsere Auslandserfahrung aus dem Kriege - Die Perlen der Kleopatra - "Ham Se Rundfunk?" - Variété-Erlebnisse.
Müllers haben angerufen. Lehmanns haben angerufen. Meyers haben angerufen. Ich kann mir schon denken, was los ist. Seit Wochen hatten wir von Müllers, Lehmanns, Meyers nichts gehört, also waren sie selbstverständlich in Italien; das ist heute jedermann, von dem man eine Weile nichts hört. Sicher wollen sie mich jetzt fragen, ob wir uns nicht bei Formiggini in der Lutherstraße zu einer Minestra Milanese und ein paar Ravioli treffen möchten, damit sie von Italien schwärmen können. Müllers haben sich beim Taubenfüttern auf dem Markusplatz fünfmal photographieren lassen, Lehmanns haben in Florenz das schwere Wort Cinquecento richtig aussprechen lernen, und Herr Meyer ist selbstverständlich erstens beim Papst gewesen, hat zweitens in Catania zu seinem Erstaunen zu kaltem Kaffee frischen Schnee vom Ätna serviert bekommen und erzählt drittens augenzwinkernd allerlei sehr Intimes aus den Ausgrabungen von Pompeji. Nun soll ich alter Italienfahrer sie bewundern. Ich danke. Ich freue mich ja von ganzem Herzen, daß so viele Deutsche jetzt wieder im Süden, dem alten Sehnsuchtsziel seit Gothen und Vandalen, die Augen weiten; bin selber schon vor drei Jahren wieder hingepilgert, nur mitten im glühenden Sommer, in der echtesten Zeit für die Vorhöfe Afrikas. Ich bin glücklich, daß nicht nur das elegante Rittergutsbesitzerpaar aus dem verlorenen deutschen Osten in Italien gewesen ist, sondern auch der Schwiegersohn unserer alten Waschfrau, der als Billetknipser an der Eisenbahn angestellt ist. Ich bin glücklich, daß alles wieder, luxuriös oder bescheiden, mit seinem guten wohlerworbenen Gelde die Fahrt macht und daß die Periode der reisenden deutschen Bettelstudenten, ich meinen derer, die nationale Scham und nationalen Stolz am Brenner hinten liegen lassen, anscheinend zu Ende ist. Aber, verehrte Herrschaften, ich habe keine Zeit für eure Erzählungen. Wochenlang ginge ja täglich ein halber Arbeitstag dahin. Ich kann auch keine Visa "schneller" besorgen. Das italienische Generalkonsulat in Berlin macht Überstunden und fertigt alltäglich Stöße von Hunderten von Pässen ab, kommt aber immer mehr in Rückstand, hat schon unser Auswärtiges Amt gebeten, es möchte doch nicht mehr Empfehlungen zu eiliger Abfertigung irgendeines Reisenden schicken. Ich kann auch keinem Anfrager angeben, wo es in Italien noch ein Hotel gibt, in dem nicht bis zur Badewanne alles überfüllt ist. In Calabrien weiß ich freilich manches Nest, in das sich nur alle Jahrzehnte einmal ein Deutscher verirrt und wo man noch echte Altertümer bis zu wundervollsten phönizischen Gläsern um ein Butterbrot bekommen kann, aber da gibt es in den Gasthöfen nur einen gemeinsamen Schlafsaal und als einzigen Komfort mitten im Saale einen großen Bedürfniseimer.
Es ist schade, daß die meisten Auslandfahrer sich ausschließlich an die internationalisierten Gaststätten halten, in denen alles auf die Wünsche etwa der englischen Globetrotter zugeschnitten ist. Schon im abseits liegenden Mittelstädtchen ist es ganz anders. In Udine in Oberitalien fand ich im besten Hotel einen Anschlag, der das Publikum ersuchte, auf den Aborten sich zu setzen, nicht in Hockerstellung auf der Brille zu stehen. Nur abseits lernt man die Zivilisation eines Volkes kennen. Wie haben unsere Landwehrmänner während des Krieges die Augen aufgerissen, wenn sie in Frankreich "vornehme" Landschlösser fanden, in denen es überhaupt kein Badezimmer oder auch nur eine Badewanne gab! Dieser Anschauungsunterricht in allen Himmelsgegenden war ausgezeichnet und vielleicht das Wertvollste an Erkenntnis während des ganzen Feldzuges. Unsere Leute - selbst die Rotesten der Roten - kehrten mit der Überzeugung heim, daß es überall schmutziger sei als in Deutschland, die Unbildung überall größer als in Deutschland, das Proletariat überall verelendeter als in Deutschland, die Staatsordnung überall unbilliger als in Deutschland. Fragt sie noch heute danach, sie werden es euch bestätigen. Und sie werden euch zugeben müssen, daß der Sturz unseres sauberen alten Systems uns selber nun auf die Stufe des Auslandes, so wie sie es kennengelernt haben, herniedergedrückt hat. In den fünf Jahren seither haben wir es erfahren. Keine Wahlparole zieht heute so sehr, als das kurze, alles zusammenfassende Wort: "Raus aus dem Dreck!"
Wie tief wir darin stecken, nicht nur politich, sondern auch kulturell, ist den wenigsten von uns klar. Die zünftige Kritik mit ihrem Weihrauch vor allem Undeutschen verhindert die Klarheit. Die für Berlin neue Operette "Die Perlen der Kleopatra" wird von den Dienern der öffentlichen Meinung so besinnungslos gepriesen, daß der einfältige gute Bürgersmann schon voreingenommen hingeht und zunächst auch gar nicht merkt, was ihm hier geboten wird und von wem.Wieder einmal triumphieren Geschmack und Mache jener Leute, die einst Rathenau in einem Anfall selbstquälerischer Offenheit "Die asiatische Horde auf märkischem Sande" nannte, jener Leute, deren ausgeglühte Wüstenphantasie nur den einen Akt kennt, der für primitive Völker das A und das O des Erlebens ist und von ihnen auch sehr freimütig besprochen wird, während wir Mitteleuropäer vor seine Mysterien den Schleier der Schamhaftigkeit ziehen. "Die Perlen der Kleopatra" - von Brammer, Grünwald und Straus - haben drei Akte, die sämtlich mit der Bereitschaft zu diesem Akte schließen, den mitanzusehen uns nur das Fallen des Vorhanges verhindert. Also drei Liebhaber hat die ägyptische Buhlerin nacheinander, von denen je einer je einen Akt beherrscht, um von den nur angedeuteten übrigen Liebhabern zu schweigen. Das Ganze aber ist nicht die furchtbare historische Tragödie bis zum Schlangengifttode der Kleopatra, sondern eine behaglich schmatzende und grunzende Offenbachiade, jener verruchte mixed drink aus Legende und Anekdote, Zote und Sentiment. Der ganze Singsang dabei, die einschmeichelnd orientalische Musik, ist hier freilich maskiert und überrumpelt uns daher um so leichter: sie kommt im Walzergewande, das Straus von Strauß, der Galizier vom Wiener, entlehnt hat. Schon das Publikum bei der Erstaufführung zu sehen, ist ein Erlebnis von ganz besonderen Eindrücken. Man denkt unwillkürlich an das bekannte Bild von Susanna im Bade, wie sie von den beiden Alten getätschelt wird. Überall ungeheure quellende Decolletés und speckige Arme im Brillantengefunkel, daneben aus Frack und Smoking ebenso herausquellend die gurrenden Begleiter; nur hie und da eine normale mitteleuropäische Figur, die bei Berliner Premieren stets so selten ist. "Wer den Bestien seiner Zeit genug getan - Der hat gelebt für alle Zeiten", möchte man mit einer kleinen Veränderung zitieren; und nicht nur Brammer, Grünwald und Straus, sondern vor allem auch die Darstellerin der Kleopatra, Fritzi Massary ("edel wie der Name"), die Gattin Max Pallenbergs, tun mehr als genug. Tagsüber bekommt man die Massary eigentlich nur noch hinter dichten Schleiern zu sehen, aber abends auf der Bühne des Nollendorf-Theaters ist sie so gut emailliert, daß sie einen unverwelklich jugendlichen Eindruck macht. Auch die Stimme, die sie in vorbildlicher Disziplin hat, ist noch nicht so brüchig wie bei anderen Großmüttern ihres Alters und verfügt über ein Pianissimo von seltener Klarheit. Diese Frau deutet zum Glück nur an. Das ist ihre große Kunst. "Die Perlen der Kleopatra" mit ihrer schmierigen Witzelei werden dadurch wenigstens einigermaßen erträglich, aber gerade dadurch wird dem Gros des Publikums auch die Erkenntnis vorenthalten, in welchem Dreck man hier tänzelt. Das Ehepaar Pallenberg-Massary, das in Berlin monatelang nur im Adlon wohnt, in Wien sich so recht eigentlich heimisch fühlt, in Partenkirchen aber seine Familienwohnung hat, von der aus es - um der Vibrations-Massage willen - weite Fahrten mit Motorrad und Beiwagen unternimmt, hat einst größere Ziele gehabt, als bloß Hanswurste zu adeln und Soubretten zu mimen, aber, je nun, man wird alt und man bleibt im Geleise. Schließlich hat eine Frau wie die Massary nur noch eines, das sie erregen kann: die Toiletten. Um ihrer Toiletten willen strömt auch das Publikum noch herbei, selbst wenn die Massary selbst eines Tages nur noch ein dürrer Haubenstock ist.
Je weniger Musik wir in uns haben, je disharmonischer unser Innerstes ist, desto mehr drängen wir in der Großstadt uns zur Operette, zu der äußerlichsten Musik, die es gibt. Der Schlager übertäubt Disharmonien. Und damit er sich ja dem Gedächtnis einprägt, wird er auch noch vom Rundfunk wiederholt, der in Berlin jetzt schon 6100 Abonnenten und sicherlich an die 100 000 heimlichen Zaungäste hat. Er bietet freilich auch gute Musik und allerlei Belehrendes und vor allem, er kreischt uns den kategorischen Imperativ zu: Tanze zu Hause! Kein Wunder, daß sein Rufen schon bis zur Küche und bis zur Hintertreppe gedrungen ist und daß man bei der Stellenvermittlerin von dem neu engagierten Mädchen beiläufig gefragt wird: "Ham Se Rundfunk?" Oh, die Minna weiß Bescheid, die weiß mit dem Apparat schon zu hantieren. Und als dieser Tage die Herrschaft "aus" war, wurden die Waschfrau und der Laternenanzünder und die Familie aus dem Grünkramkeller und der Stift von nebenan und seine Braut von Minna zu einem Rundfunkkonzert in den Salon der Herrschaft geladen. Da ertönte eine sonore Stimme aus dem Verstärker: "Also, meine Herrschaften, die englische Stunde beginnt. Hier stelle ich Ihnen Herrn Sseimöns als Lehrer vor. Bitte, verbeugen Sie sich, er verbeugt sich auch!" Ganz perplex macht der Laternenanzünder einen Kratzfuß, Minna sperrt die Augen auf, die übrigen Besucher schauen sich hilfeflehend um. "Und nun beginnen wir mit dem Alphabet. Sprechen Sie bitte laut nach: e, bi, ßi. Lachen Sie doch nicht, Herr Levy! Also bitte nochmal: e, bi, ßi." Entgeistert schaltet Minna den Rundfunk wieder aus. Sie weiß noch gar nicht, daß er auch zur Reklame benutzt wird und daß diesem Anfangsgespräch eine Empfehlung für die sehr mäßigen Unterrichtshefte eiens Berliner Verlages folgt, die bei weitem an die Langenscheidtschen nicht heranreichen. "Se ham wohl jar keen richtjen Rundfunk nich?", wird nachher die Herrschaft gefragt. Gewiß, einen ganz richtigen. Aber schließlich wird auch da die Musik nur das Fettauge auf der Reklamebrühe sein, die uns in anfänglich spannenden feuilletonistischen Plaudereien das beste Schuhputzmittel oder unübertreffliche Bouillonwürfel andrehen soll. Schon sieht man sich nach Dichtern, nach Schriftstellern, nach Humoristen um, die gegen anständiges Honorar zu diesem unanständigen Gewerbe bereit wären; vielleicht kriegt man sogar Reichstagsabgeordnete zum Anpreisen von Mundpillen und Ministerpräsidenten wie Zeigner und Hermann zu pädagogischen Vorträgen "Über den schnellsten Weg zur Volkstümlichkeit" heran. Die Aussichten sind grandios. Meyers haben mit dem Rundfunk zu Hause noch nicht einmal genug, sie haben sich auf ihr Tourenauto und auf ihr Motorboot ebenfalls eine Rahmenantenne montieren lassen. Nicht einmal der Rheinsberger Park, diese stille Insel der Liebespärchen und Weihestätte der Erinnerung an den jungen Fridericus, wird dem Berliner Rundfunk heilig sein. Die ganze Welt fängt an zu quäken. Für einsame Restaurants hat das natürlich sein Gutes, der immerhin erträgliche Rundfunk wird die gräßlichen elektrischen Klaviere und automatischen Orchestrions vertreiben, gelegentlich hören die Ausflügler dann auch wirklich Gediegenes, aber doch graut mir vor solcher Entwicklung und ich verstehe es, daß es heute schon Berliner Kaffeehäuser gibt, die empfehlend bemerken, daß sie "behaglichen Aufenthalt ohne Musik" böten.
Im Grunde ist es dabei gar nicht so merkwürdig, daß Musik und Lärm jeder Art den meisten Berlinern, wohl den Großstädtern überhaupt, zum Bedürfnis werden. Ich weiß nicht, ob die Nervenärzte mir beipflichten, aber ich denke es mir so: wenn man in Hatz und Eile und Trambahngekreisch und Autogetute seine Tagesarbeit - und in Berlin wird scharf gearbeitet - getan hat, dann würde man, sofort in äußerste Stille versetzt, ganz unruhig und nervös werden. Es muß alles langsam verebben. Lärm ohne Arbeit ist zuweilen die beste Erholung nach Arbeit unter Lärm. Das Gedudel in einem Kabarett oder Variété höre ich dann gar nicht mit musikalischem Gehör ab, sondern lasse mich sozusagen davon wie unter einer Brause beregnen; es fließt alles wieder ab, nur die Erfrischung ist da. Im Metropol - dem Variété, nicht dem Theater - kann man dabei, und das gilt von den wenigsten Instituten dieser Art, jetzt sogar vollkommen Eigenartiges erleben. Claire Waldoff ist für den März dorthin engagiert. Sie ist neben Otto Reutter so berlinerisch, als Yvette Guilbert und Aristide Bruant einst pariserisch waren. Berlinerisch im guten Sinne. Natürlich "keß" und witzig, aber nicht gemein, obwohl sie ihre Stimme zur Rüdigkeit zwingt. Immer nur im Basse jrunzt se, alle Töne die verhunzt se, sagt sie selber von sich. Warum ? Sie ist selbstverständlich durch und durch musikalisch. Warum also ? Das Gröhlen ist durch ihre Zille-Rollen künstlerisch gerechtfertigt. Gelegentlich selbst die ganz rauhe Jodkali-Stimme. Und das Publikum rast. Unsere Claire, die sich nur den Anschein gibt, als gehe sie mit den Instinkten der großen Masse mit, steht in Wirklichkeit hoch über ihr, hat ihr Gymnasial-Abiturium hinter sich und zu Hause das reine Gelehrtenheim. Davon merkt man freilich auf der Bühne nichts. Ihr neuestes Couplet "Warum kiekste mir denn immer uff de Beene" ist zwerchfellerschütternd. Claire Waldoff habe ich vor vielleicht zwölf Jahren in einem Berliner Klub kennengelernt. Sie war schon damals eine ausgekochte Göhre und gehörte zu den Frauen, mit denen man sich schon nach einer halben Stunde raketenartiger Unterhaltung duzte, obwohl jede gesellschaftliche Distanz gewahrt blieb. Nun lache ich vorgestern im Metropol wieder einmal aus vollem Halse. Und wenige Minuten später lachen die Meinen, die mit mir an einem Tisch vorn Platz genommen haben, - über mich. Ich bin in übermütige Laune gekommen, und als ein Kartenkünstler und Taschenspieler auftritt, Sealtiel der Geheimnisvolle", den ich auf einmal unbedingt entlarven möchte, geselle ich mich zu den "vier Herren aus dem Publikum", die wie üblich auf die Bühne gebeten werden. ("Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß'"). Trotz angestrengter Aufmerksamkeit komme ich hinter keinen Trick. Aber als ich nachher abtreten will, ruft der Geheimnisvolle mich zurück und überreicht mir ein Bündel Schatzanleihescheine und etliche lose Zettel, die er mir unvermerkt aus der Tasche gezogen hat. Verwirrt stecke ich alles ein. Dann werde ich nochmals zurückgerufen: hier hätte ich auch meine Uhr und Kette wieder. Und während ich die erneut wie immer befestige, klaut der Kerl mir wieder mein Geld, ohne daß ich oder das Publikum es ahnen! In meinem Leben bin ich noch nicht von solchem Gelächter umdröhnt worden wie jetzt beim dritten Zurückruf.
Ich bin ganz klein geworden. Und da nennt man mich einen scharfen Beobachter! Hoffentlich begegnet mir dieser Sealtiel nie im Gedränge des feurigen Elias, des Autobus zum Kurfürstendamm. Oder dann wenigstens nur am Monatsletzten.
27. März 1924 (Donnerstag)
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