"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 22 - 24
31. Januar bis 14. Februar 1924


22

Großstadtkinder - "Auto? Auto?" - Mein kleiner Freund Franz - Nackttänze von Schulkindern - Auf dem Presseball - Ministerkneipe.

Wenn man früher nach der Ankunft in Petersburg aus der Bahnhofshalle trat, wälzte sich einem eine Menschenwoge von Droschkenkutschern - Iswoschtschicks - entgegen, ein Meer von Armen hielt einem die "Nummern" vor die Nase, und man befand sich in einem betäubenden Brandungsgebrüll. Man sagte sich: "Na ja - Asien!" und hielt krampfhaft die Reisetasche fest. In Warschau handelte es sich schon um schmierigere Dinge, da drängten sich zerlumpte Lausbuben heran und gackerten um die Wette, indem sie immer die Lebensjahre der Empfohlenen unterboten: sie hätten "hibsche klane Schwester" zu Hause, man könne gleich mitkommen. "Na ja - Asien!" Von den kleinen Lumpazi in Neapel, den Stiefelputzern in Bukarest, den Eseltreibern in Port Said nicht erst zu sprechen. In Deutschland waren wir von derlei Zudringlichkeiten frei, denn der Obrigkeitsstatt hielt auf Ordnung und Würde, und zum Erstaunen der herreisenden Fremden war hier alles so sauber, so adrett, so lautlos; noch 1905 schilderte Sidney Low im Londoner Standard in seinen Briefen aus Deutschland Berlin als eine Musterstadt, die sich wesentlich von den verwahrlosten englischen unterscheide, und bekannte wörtlich: "Man kann in Deutschland lange nach Kindern mit unordentlichem Haar, geborstenen Schuhen oder heruntergerutschten Strümpfen suchen; selbst wenn sie arm sind, haben sie reine Gesichter und Hände, die Knaben geschnittenes Haar, die Mädchen glatte Zöpfe." Ein paar Jahre später hätte Low in Berlin-Johannisthal, auf dem Wege vom Bahnhof zum Flugplatz, schon etwas anderes erleben können: da schlugen an großen Flugtagen, wenn in langer Reihe die Autos aus der Stadt kamen, zerzauste, verschwitzte, zerlumpte Buben neben den Wagen Rad und balgten sich um das ihnen zugeworfene Kleingeld. Und damals lebten wir doch wahrhaftig noch nicht in Not. Heute ist es vollends anders geworden, überall wird man von Kindern umdrängt, die einem kleine Dienste anbieten oder die irgend etwas verkaufen wollen oder einfach betteln.

"Auto? Auto?"

Kommst du nachts aus irgendeinem stark besuchten Lokal oder - jetzt in der Saison - von einem Ballfest, so umhüpfen dich alsbald die Buben und schreien dir schnell diese Frage zu, jederzeit bereit, wenn du unschlüssig bist, sofort den nächsten Heraustretenden mit ihrem "Auto? Auto?" zu umtanzen. Wie der Wirbelwind sind sie dann weg und springen an der Straßenecke auf das nächste heranfahrende Auto und sind schon wieder da und reißen den Schlag auf, verstauen dich in den Wagen und laufen bei der Abfahrt nebenher, bis eine Rentenmark oder gar mehr zu ihnen als Lohn hinausflattert.

"Auto? Auto?"

Donnerwetter, die Stimme kenne ich! Es ist wahrhaftig mein kleiner Freund Franz, der dreckige kleine Junge aus der Unbegabtenschule, der trotz aller offiziellen Unbegabtheit so gute Geschäfte mit Altpapier machte, während die Eltern mit einem Handwagen in der Straße Lebensmittel, Christbäumchen und sonst was verkauften. Seit fast einem Jahr ist mir mein kleiner Freund Franz nicht mehr begegnet. Er ist, wie ich im Laternenschein sehe, für seine Verhältnisse auffallend sauber, ist auch auffallend anständig gekleidet. Ich wolle kein Auto, sage ich ihm, während seine Augen schon weiterwandern und er schon sprungbereit in den Kniekehlen wippt. Er solle mich lieber ein Stückchen zu Fuß begleiten; wir könnten wieder mal ein wenig plaudern.

"Ick werd' mir nich in'n Bauch beißen!" antwortet er.

Mein kleiner Freund Franz ist immer hochmodern in seinen Redensarten. Statt "nein" sagte er also bisher "ausjeschlossen" oder "nich in de Tüte" oder "ick kann mir maßlos bremsen". Daß er neuerdings, wenn er etwas ablehnt, sich "nicht in den Bauch beißen" will, zeigt, daß er 1923 nicht verschlafen hat.

"Wieviel verlangst du für eine Audienz?" frage ich.

Er mustert mich prüfend von oben bis unten.

"Na, Mensch, weil Sie's sin, drei Renntiermark!"

So wandern wir selbander fürbaß. Ich habe bald heraus, daß der kleine Franz Nacht für Nacht zwischen ½12 und ½3 Uhr sich so seine fünf bis zehn Mark verdient. Wie er sagt, nur als Autobesorger; wie ich vermute, auch als "Schlepper" in Nachtlokale. Einerlei, er ist selbständig, der Knirps, und zahlt seinen Eltern schon Kost und Logis in ihrem Keller. Vormittags mimt er in der Schule den Unbegabten. Nachmittags schläft er. Seine jetzige Sauberkeit gehört nicht unbedingt zum Geschäft, die hat er - beim Nackttanzen gelernt: "Det kamma nich mit dreckige Fieße." Da bleibe ich vor Erstaunen stehen und fasse ihn an der Jacke.

Junge, Junge!

"Mensch, det wissense nich? Wiclefstraße!"

Ich habe den kleinen Franz stark in Verdacht, daß er schwindelt. Er hat wohl nur davon gelesen, daß ein sozialistischer "entschiedener Schulreformer", zunächst unter Billigung seiner sozialistischen Vorgesetzten, diese rhythmischen Nacktübungen von Knaben und Mädchen bis zu 15 Jahren - Knaben und Mädchen gemeinsam - in der Aula der Volksschule veranstaltet hat. Aber der kleine Franz tut ganz informiert. Ich frage ihn, was er sich denn bei diesen Aufführungen gedacht hat, die doch selbst in unserem Babel von 1924 einigermaßen auffallen. Da guckt mich der Junge spitzbübisch von der Seite an und bemerkt nur:

"Det derf ick Ihnen nich sagen, da sin Se noch ville zu kleen zu!"

Natürlich habe ich meinen kleinen Freund Franz nicht vor einem Nachtlokale getroffen, sondern vor den Sälen des Zoologischen Gartens, in denen immer noch Tausende auf dem Berliner Presseball wogen. Es ist und bleibt nun mal der anständigste und doch eleganteste Ball der Reichshauptstadt. Aber ausgesprochen ein Ball der jungen Frauen, nicht der jungen Mädchen. Vorher gibt es zu Hause immer einen Kampf. Die Töchter, unterstützt von - sie weiß, warum - der Schneiderin, betteln: Warum soll nur immer Mama und Tante Sophie mit dir auf den Presseball, warum nicht einmal wir? "Weil das kein Lämmerhüpfen ist!" muß man endlich donnern und so die Debatte schließen. Das wäre ja noch schöner. Wo soll man das Geld herkriegen? Mit Tanzstundenfähnchen blamiert sich da jedes Kind und fühlt sich doch nur unglücklich, neue verblüffende Seidenroben aber kann man sich nicht jedes Jahr leisten, und so blieben auch Mama und Tante Sophie diesmal zu Hause. Ja, wenn man Mady Christians heißt! Da steht Mady Christians - standesamtlich Frau v.Müller - in einem entzückenden Stilkleid, Corsage mit violetten Straußfedern umsteckt, die seitlichen Falbeln nach unten zu - es sind viele, viele Volants - allmählich von lila zu rosa übergehend, an einem Tischchen und verkauft Sonderdrucke des für den Ball-Almanach gezeichneten Bildes eines "Pressemannes bei der Arbeit" von Max Liebermann. Steht da und plaudert in einem flotten Englisch-Amerikanisch mit einem fremden Attaché, schwebt dann ab und fliegt im Saale dahin, wozu ihr Falbeln-Gefieder rhythmisch wogt.

Es gibt noch gar manche berückende Toiletten auf dem Fest, namentlich bei Inflationsgewinnlern, aber in allen diesen duftigen oder schwer brokatenen Gewändern nicht ein einziges Gesicht, das so ganz Dame von Welt ist, wie das von Mady Christians. Allenfalls ein knappes Dutzend der übrigen Gäste reicht in der ganzen Erscheinung an diese in ihrem ganzen Wesen mondänste Berliner Schauspielerin heran; ich werde mich aber hüten, das Dutzend mit Namen zu nennen, sondern höchstens mündlich und unter vier Augen jeder einzelnen Fragerin versichern, natürlich gehöre sie auch dazu. Im übrigen habe ich sicherheitshalber an dem Tisch neben dem Meisterboxer Breitensträter gesessen, dessen goldener Haarschopf zwischen der Champagnerflasche und seiner jungen Frau hin und her wippte, die auch dann allerseits als sehr nett anerkannt worden wäre, wenn sie nicht ein breites, über und über von Brillanten funkelndes Stirnband getragen hätte. Wie man sieht: es gibt schon bunte Reihe auf dem Presseball. Stolperst du nicht in die Loge der norwegischen Gesandtschaft, so landest du an dem Tisch von vier Filmdirektoren; versuchst du den Ministern Geßler und Stresemann zu entgehen, so prallst du todsicher auf Kommerzienrat Guggenheims Ordensbrust; und dazwischen flattert der ganze Berliner Intellekt umher, materialisiert in Schriftstellern, Malern, Dichtern, Bildhauern und ihren Gattinnen. An der Tombola habe ich dieses Mal die Hände gefaltet und still für mich gesagt: "Lieber Gott, laß mich diesmal nicht den Hauptgewinn machen wie im vorigen Jahr, laß diesmal auch andere ran!" Und schon ist der Schwechten-Flügel ausgerufen, ein junges, kleines, unscheinbares Ehepaar hat ihn gewonnen und - fällt einander im Beisein der Tausende jubelnd um den Hals und küßt sich ab.

Kein aktiver Offizier in Uniform ist diesmal da. Seeckt hat's für die ganze Ballsaison in Berlin verboten. Das passe nicht zum Ernst der Zeit, zu Ruhr und Reparation und Sachverständigenkommission und so. Das Gesamtbild ist also etwas dunkler als sonst. Wenn nicht unsere lieben Damen so besonders farbenfreudig wären! Und nirgends wird ihnen doch auch so nett gehuldigt. Der ganze Ball-Almanach ist voll von köstlichen kleinen Bosheiten und versteckten großen Schmeicheleien. Das Beste und trotzdem leider Unverstandenste hat diesmal Arno Holz beigesteuert: An eine junge Ballschöne. Und da steht zu lesen:

Ich bin aufs höchste beglückt,
daß es Paramaribo gibt!
Denn gäbe es
Paramaribo nicht,
so gäbe es,
wenigstens in ihrem gegenwärtigen Aggregatzustand,
die Welt nicht.
Und gäbe es,
wenigstens in ihrem gegenwärtigen Aggregatzustand,
die Welt nicht,
so gäbe es,
wenigstens möglicherweise, allem Vermuten nach,
oder vielmehr, ja, sogar geradezu höchstwahrscheinlich,
auch dein kleines, entzückendes, süßes, berückendes,
schwellend rundes Erdbeerschnäuzchen nicht,
das immer so nackt aussieht!

Ich weiß nicht, ob in diesem Jahre mehr oder weniger Besucher auf dem Presseball waren als sonst. Die Berliner Vertreter von Daily News, Manchester Guardian, Newyork Herald, Corriere della Sera und anderen Weltblättern hielten sich diesmal fern. Sie dächten nicht daran, sagten sie, zweieinhalb Pfund Sterling für den Eintritt zu einem Wohltätigkeitsfest zu bezahlen. Auch verschiedene "hochstehende" Deutsche, die auf Ehrenkarten hin hätten kommen können, haben es sich verkniffen und statt dessen lieber im Kochelbräu am Potsdamer Bahnhof gesessen. Ein preußischer und ein Reichsminister darunter, beide vom Zentrum, also nicht "rot", dafür aber um so mehr - blau. Ein Lärm da oben im ersten Stock, daß man an den Nachbartischen kaum sein eigenes Wort versteht. Unsere leutseligen lieben Minister, die so ganz anders sind als die des alten steifen Systems, trinken zwischen 10 und 12 außer vielem Kochelbräu noch ganze sieben Runden Schnaps, die Speckfalte des einen im Nacken ist schon in zitternder Bewegung, und als er die letzte Runde bestellt, da übermannt ihn die Seligkeit des neuen Systems, da haut er mit der Faust auf den Tisch und brüllt in das Lokal:

"Ich bin der Vertreter des souveränen Volkes!"

Do feit si nix.
31. Januar 1924 (Donnerstag)


23

Banken-Dämmerung - Nirgends ist Geld - Der Kleidererlaß des Finanzamtes - Ärmelschürzen - Prämienspenden auf dem Sechstagerennen - Um ein Tete-a-tete mit der Spenderin - Der Erfinder bei Stinnes.

Vor dem Anhalter Bahnhof, dort, wo die Möckernstraße in die Königgrätzer mündet, steht ein Häuschen. In verklungenen alten Zeiten war da für 5 Pfennige ein Glas Milch zu haben. Während des Krieges wurde die kleine Holzbude zum Warteraum für Droschkenkutscher. Im vorigen Sommer wurde sie neu angestrichen, ein Ladentisch und ein Geldschrank kamen hinein und rundum die knallige Aufschrift: "Bank. Exchange. Change." Auch das - war einmal. Jetzt ist das Häuschen verrammelt und wartet wohl wieder auf Frühling und Milch. Kein Mensch kommt mehr hierher Franken oder Lire oder Tschechokronen wechseln. Genau so trübsinnig verschlossen steht das Betonhäuschen mitten auf dem Fahrdamm der Kronenstraße da; und die Bank-Kioske unter den Linden; und die vielen, vielen Wechsler-Kämmerlein im Berliner Westen. Auch große Banken "bauen ab", so die Kommerz- und Agrarbank, die in das schöne Haus der eingegangenen Täglichen Rundschau in der Zimmerstraße gezogen war. Kein Geschäft mehr. Statt dessen Strafprozesse über Strafprozesse wegen Bewucherung des Publikums in den verflossenen schrecklichen Monaten der Inflation, wo jedermann besinnungslos die tollsten Bankspesen und Bankzinsen zahlte, um vor der Papiermark in die Effekten zu flüchten. Die Überstunden bei den Banken haben aufgehört, jüngere Beamte werden entlassen. Wissen Sie einen Satz, in dem siebenmal das Wort "mühsam" vorkommt, fragt einen der Prokurist. Na? "Mir is mies am Montag, mies am Dienstag, mies am Mittwoch, mies am Donnerstag, mies am Freitag, mies am Sonnabend, mies am Sonntag!" Noch haben wir nicht einmal Fastnacht, aber der Aschermittwoch ist schon in viele Gesichtern geschrieben. Nirgends ist Geld. Eines der größten Spezialgeschäfte für Japan- und China-Kunst in Berlin hätte dieser Tage gar zu gern ein Stück ganz prachtvollen echten Goldbrokats aus der ehemaligen kaiserlichen Manufaktur in Peking erworben, das ihm von einem Privaten angeboten wurde, konnte aber die nötigen 300 Mark bar "momentan" nicht zusammenkratzen und bat um längere Frist. Um eine Anleihe von ein paar Millionen Mark muß die Firma Krupp in allen Zeitungen Riesenanzeigen erlassen. Und unter den 18 Berliner Selbstmördern, die wegen Nahrungsmangels innerhalb der letzten fünf Tage in den Tod gegangen sind, befand sich wieder ein Arzt. Man hat also Grund genug, trotz aller Zeichen des Wiederauflebens sich ein wenig katzenjämmerlich zu fühlen. Aber das Berliner Vergnügungsprogramm bleibt trotzdem das alte. Wenn irgendwo eine junge Sekretärin ihre Stellung behält, so geht sie vor Freude darüber natürlich fleißig tanzen. Und wenn sie "abgebaut" wird, so hat sie viel Zeit und geht erst recht tanzen. Im Palais der Friedrichstadt in der Besselstraße läßt eine solche Kleine sich fröhlich schwenken und schiebt dann ihrem eben erst von ihr kennengelernten neuen Tänzer ein Zettelchen zu: "Dame vom Abbau mit Umbau und Baubau sucht Herrn vom Hochbau oder Tiefbau zwecks Neubau."

Alle diese wirklich und wahrhaftig und ehrlich "berufstätigen" jungen Damen sind zurzeit arg entrüstet und empört. Über eine hohe Behörde. Über das Berliner Finanzamt. Das hat nämlich dekretiert, daß diejenigen weiblichen Angestellten, die ein Kleid trügen, das die Arme ganz freilasse oder Teile der Brust oder des Rückens sehen lasse, mit Entlassung bestraft würden; schon eine sogenannte "Bluse mit Oberlicht", eine durchbrochene, ist derart strafbar. Sonderbarerweise entrüstet sich über den Erlaß am meisten das sozialdemokratische Zentralorgan. Das Blatt schimpft über "Reaktion". Wenn wir noch einen König hätten, würde es am Ende gar an ihn appellieren und mit Marquis Posa rufen: Sire, geben Sie Büstenfreiheit! Ich bin weder reaktionär, noch puritanisch veranlagt, sondern ganz freiheitlich, aber dann muß man davon auch etwas haben. Was nützt es mir, dem Publikum, wenn im Finanzamt die junge Rechnerin nur ihrem Gegenüber am Doppelpult "Teile der Brust sehen läßt", während sie sich über das Hauptbuch bückt; den jungen Mann ihr gegenüber hält sie dadurch von der Arbeit ab, weil er sie anstarrt, und ich muß derweil doppelt lange warten und ganz ohne Visavis. Aber Reaktion hin, Reaktion her: ich kenne sehr demokratiche Länder, in denen luftige Toiletten schon seit je her, schon vor dem Kriege, gänzlich verpönt waren. In Italien bekommt jedes Bankfräulein eine bis oben hoch geschlossene Ärmelschürze geliefert; was die Dame darunter anhat oder nicht anhat, ist den Banken egal, aber im Bureau ist die Ärmelschürze Vorschrift. Kommt da einmal in Mailand, während ich gerade im Arbeitskabinett des Direktors zu Besuch bin, eine Sekretärin herein, die wirklich oben ganz hochgeschlossen ist, aber unten einen fabelhaften Seidenstrumpf sehen läßt. "Wer hat Ihnen, Madonna, die Schürze ausgegeben?" "Die Beschaffungsstelle III B, Signore direttore!" Da schellt der Direktor, der Chef der Beschaffungsstelle erscheint und wird angepfiffen: Sofort eine 10 Zentimeter längere Schürze für die Dame!

Alles zu seiner Zeit und am rechten Orte! Im Ballsaal würde ich, wäre ich Diktator, anordnen, daß hochgeschlossen nur Schwiegermütter (aber die wirklich alle) und solche jüngeren Damen zu erscheinen hätten, deren Vorderseite starke Unterernährung aufweist. Dagegen finde ich im großen Kolonialwaren- und Feinkostgeschäft die Verkäuferinnen in blüteweißer Ärmelschürze viel appetitlicher als in sozusagen Gesellschaftsanzug; um von Krankenpflegerinnen, Laborantinnen, Beamtinnen nicht erst zu reden. Ein Trikot an Tänzerinnen ist für den Geschmack von heute widersinnig und störend, die können ruhig ihre Beine so zeigen, wie Gott sie geschaffen hat. Aber wenn am hellen lichten Tage Damen schon in Abendtoilette herumlaufen, so ist das geschmacklos. Vor allem bei sportlichen Veranstaltungen, selbst wenn es sich nicht um den grünen Rasen und Freiluft handelt, sondern die Veranstaltung im geschlossenen Raume stattfindet.

Zum viertenmal seit Kriegsende habe ich diesen Eindruck nun wieder bei dem Sechstage-Rennen gewonnen. Zum Glück gibt es da immer weniger Damen; kaum eine auf hundert Männer. Aber die eine tut dann auch so, als müsse sie die Blicke eben von hundert Männern auf sich vereinigen. Eitles Beginnen! Man läßt seine Augen ja doch nur immer um die Bahn rollen. Diesmal habe ich keine Nacht geopfert, sondern bin nur morgens und abends dagewesen, und das ganze Rennen war eine sehr zahme, wer weiß, vielleicht sogar verabredete Sache, wenn man der Galerie und ihren gellenden Pfiffen und ihrem "Schieba! Schieba!" Glauben schenkt. Von Jahr zu Jahr hat dieses Idiotenkarussel, wie Boxer und andere Sportler das Sechstage-Rennen der Radfahrer nennen, einen beruhigenderen Anstrich. Nämlich man hat, wenn man sich durch die Scharen der Besucher vor dem Sportpalast hindurchgezwängt hat, mit flackernden Blicken und angepreßten Armen hindurchgezwängt, weil man immer denkt: "Jetzt schneidet mir einer die Tasche auf!", das frohe Gefühl, daß in diesen 6 Tagen im übrigen Berlin sicherlich nichts gestohlen wird. Denn alle Taschendiebe und Einbrecher Berlins sind sicherlich in diesen 6 Tagen vor und im Sportpalast. O Publikum, o Publikum! Und nachts wird egal gesoffen. Im Innenraum knallen die Sektpfropfen, in den Rängen kreist die Schnapsflasche, im Parterre rinnt ein Amazonenstrom von Bier. In diesem Dunst trudeln die Fahrer meist recht gemütlich einher, und nur um die Prämien wird feste getreten. Hundert Zentner Kohlen; fünfhundert Mark; eine Schreibmaschine; ein Grammophon; ein Motorrad; 200 Mark; ein goldenes Zigarettenetui; 24 Flaschen Likör; zwei goldene Armbanduhren; 6000 Zigaretten; ein Herrenanzug; zwei Wochen Landaufenthalt. Det macht Laune, nich? Nur einmal habe ich die elf Radler wirklich wie besessene Teufel losrasen sehen. Das war, als die Spenderin einer hohen Geldprämie, eine Dame aus der Welt, die andere nicht langweilt, gleichzeitig als Nebenpreis - ein Frühstück "in ihrer Gesellschaft" aussetzte.

Wenn man das so erlebt, schreibt, liest, könnte man denken, ganz Berlin amüsiere sich bloß, aber wie Berlin arbeitet und seinen Kopf anstrengt, das sieht man jetzt endlich wieder an der etwas zunehmenden Geschäftstätigkeit des Patentbureaus. Die Erfinder sind wieder obenauf. Die ganz schlauen unter ihnen, die irgend etwas Weltbewegendes ausgeheckt haben, gehen aber nicht etwa zum Patentanwalt, sondern gleich zum großen Geldmann. Kürzlich hat sich einer dieser verdienten Männer bei Hugo Stinnes in Berlin gemeldet. Er wolle für das von ihm gelöste Menschheitsproblem eine Anzahlung von 5000 Goldmark und eine Jahresrente von 8000 Goldmark. Dafür könne Hugo Stinnes den ganzen übrigen Reingewinn einstecken. Es handelt sich um einen "Apparat, der dazu dient, unweigerlich einen absolut geraden Scheitel zu ziehen".
7. Februar 1924 (Donnerstag)


24

Der Maecen - Die Diva ist verheiratet - Bei den preußischen Ministerfrauen - Chauffeur-Los - Shakespeare auf der Kreislerbühne - Die Einladung aufs Land.

Nächstens wird Tante Malchen aus Ostpreußen mich für einen Maecen erklären. Ich habe nämlich in letzter Zeit auf jeder Tombola, also etwa zweimal wöchentlich, Eintrittskarten für die Fremdenloge des Opernhauses oder des Marmorhauses oder sonst eines Theaters oder Kientopps gewonnen. Und in der Fremdenloge, sagt Tante Malchen, sitzt immer der Maecen. Und er hat immer eine Glatze und weiße Glacéhandschuhe. Und von der Bühne her lächelt ihn immer die Diva an; nur wenn er mal wegguckt, lächelt sie auch zu einem jüngeren Herrn ganz vorn im Parkett hinüber. Aber, Tante Malchen: ich habe ja noch keinen Kahlkopf; und weiße Glacéhandschuhe hatte ich zum letztenmal lange vor dem Kriege auf einem Ball im Offizierskasino an. Außerdem gibt es solche Maecene wie früher den Rennstallbesitzer von Oehlschläger oder den Bankier Sobernheim oder den Prinzen von Hohenzollern-Sigmaringen überhaupt kaum mehr. Wenigsten nicht in Berlin. Unsere Diven sind ja alle verheiratet, meist schon zum zweitenmal. Maria Carmi, einst Gattin des Dichters Vollmöller, hat jetzt einen kaukasischen Fürsten. Lucie Höflich hieß eine Zeitlang Frau Meyer und jetzt, glaube ich, Frau Jannings. Maria Orska war Baronin Bleichröder und steht jetzt vor einer neuen Ehe. Ja, meine Herrschaften, es ist nicht mehr so wie früher. Man braucht sich seine Toiletten nicht mehr von einem reichen Freund bezahlen zu lassen. Man ist selber gute Gesellschaft geworden. Wer heute zu einer Dame von der Bühne "Gnädige Frau" sagt, trifft in neun von zehn Fällen das Richtige. Und die allerneuesten Theater - haben überhaupt keine Fremdenloge mehr; und wenn sie noch eine haben, dann stiften sie deren Plätze für die Tombola irgendeines Festes der Wohltätigkeit.

Also man muß gnädige Frau sagen; aber zu der jungen Schauspielerin, die neulich im Foyer des Abgeordnetenhauses im stillen Eckchen mit ihrem Verlobten bei uns saß, habe ich doch zuerst gnädiges Fräulein gesagt, denn ganz so sah sie aus. Und dabei ist sie schon zweimal verheiratet gewesen, und der sehr bekannte Publizist neben uns wird ihr dritter Mann. Und sie hat schon etliche Buben, und er hat auch schon etliche. Aber liebe und nette Leute sind es, und ohne sie hätten wir uns im Abgeordnetenhause furchtbar gemopst. Es war ein Wohltätigkeitsfest zum Besten notleidender Berliner Kinder - "veranstaltet von den Gattinnen der preußischen Staatsminister". Das ist mein Stichwort. Da springe ich vor. Ministerfrauen der Republik habe ich für mein Leben gern. Die eine, die vom Berliner Wedding stammt, hätte ich von Angesicht zu Angesicht sehen mögen, nachdem ich schon so viel Liebes von ihr gehört und geschrieben. Ich frage einen Bekannten, den einzigen roten Bekannten, den ich habe, einen Sozialdemokraten, der ein bürgerliches Blatt redigiert, nach der Frau. Er winkt zuerst ab: er wisse schon, ich wolle die Dame wohl nur veräppeln! Dann aber sagt er: "Da, wo der Ministerpräsident Braun sitzt, da sitzen sie alle, und die mieseste Ziege, das ist sie!" Ich habe trotz dieser Auskunft den Honoratiorentisch mir nicht angesehen, denn es gab auch so schon genug, worüber man nur sehr sauersüß lächeln konnte. Sehr viel Wedding darunter. Leute, die mitten in das Klavierkonzert hinein Beifall klatschten, weil sie dachten, es sei zu Ende; oder die nach der Gralserzählung aus Lohengrin stillschwiegen, weil sie dachten, sie gehe noch weiter. Neben gut angezogenen Menschen auch Leute, die ostentativ im Radfahreranzug und Hausschuhen kamen; neben blitzsauberen jungen Mädchen auch Frauenspersonen, die unter den Fingernägeln den Humus für eine ganze Obstplantage hatten. Dabei alles so absichtlich. Nicht die Wohltätigkeit hatte gelockt, auch die Musik nicht, trotz Gertrud Bindernagel und Carl Clewing, auch nicht der viele Schnaps, der auf jedem Tisch stand, und mit dem das Fest so recht eigentlich begann, sondern augenscheinlich in der Hauptsache das Gefühl, auftrumpfen zu können: Jetzt sind wir, wir vom Wedding, die Herren hier auf dem roten Smyrnateppich! Dazwischen war natürlich auch gutes Beamtentum alter Art herkommandiert. Fast kann man dazu schon den ehemaligen Finanzminister Südekum rechnen. Schon vor dem großen Kladderadatsch mochten ihn die waschecht roten Genossen nicht allzusehr, denn es hieß, er habe 12 Paar Lackstiefel im Schrank, und nach dem großen Kladderadatsch ritt er auf Pferden aus dem Königlichen Marstall im Tiergarten spazieren. Er kann sich dank seiner sehr reichen Frau, einer geborenen Friedländer, auch sonst alle kapitalistischen Allüren leisten. Hier aber, auf dem Wohltätigkeitsfest im Abgeordnetenhause, ist er ganz der herzige Volksmann, tut aufgeräumt mit und zieht schließlich beglückt mit seinem großen Blumentopf ab, den er in der Tombola gewonnen hat, einer Primel. Wir hatten auch eine gewonnen und sie - draußen auf dem langen Heimweg wäre sie erfroren - einer Putzfrau des Landtages geschenkt. Eine prächtige alte Frau, mit der wir uns sehr schnell anfreundeten. Sie war sicherlich schätzenswerter als manche der Komiteedamen. Und die Chaufeure, die draußen an den Staatsautos stundenlang im eisigen Winde froren, machten vielfach einen gediegeneren Eindruck als ihre Herren Minister.

Wenn im Sommer diese Wagenlenker lässig-majestätisch in der Wartezeit hinter ihrem Steuer träumen, werden sie von der Straßenjugend wohl neidisch angestaunt, besonders der Leibchaufeur unseres jetzigen republikanischen Landesvaters, der um den Oberarm eine Binde mit großem schwarzrotgoldenen Adler trägt, dessen volkstümliche Bezeichnung man aus gesetzlichen Gründen nicht wiedergeben darf. Aber im Winter, im jetzigen kalten Winter, hat der Beruf trotz alles äußerlich Heroischen doch seine qualvollen Seiten, denn er prädestiniert zu lebenslangem Gliederreißen, und auf der Habenseite steht nur die vage Aussicht, daß man vielleicht - Karriere machen kann. Ich meine nicht eine amtliche, obwohl mancher Chauffeur vielleicht ebensoviel Grips hat als sein Herr dahinten im Glaskasten, sondern eine private: schon mancher Roman eines wohlhabenden Mädchens aus Berlin W hat in der Garage begonnen, besonders wenn - wie erst jüngst einmal geschehen - der stattliche Chauffeur sich als verarmter ehemaliger Fliegeroffizier entpuppt.

Merkwürdigerweise sieht man jetzt nur verhältnismäßig wenige Privatautos abends vor irgendwelchen Portalen warten. Neun Zehntel von ihnen laufen in der Steuerbilanz sowieso über Geschäftsunkostenkonto, aber es scheint, daß sie auch in Wirklichkeit heute im wesentlichen für Geschäftszwecke benutzt werden. Das Geld ist tatsächlich knapp. Die Theater sind leerer als noch vor einem Jahre. Selbst eine Sensation, wie es für Berlin immer noch eine Neuaufführung der Kreislerbühne, des Theaters in der Königgrätzer Straße, ist, verpufft in wenigen Tagen. Schon in der dritten Aufführung von Shakespeares neu einstudiertem Sommernachtstraum habe ich dort im Parterre leider über große Lücken hinweggesehen. Eigentlich ist es nicht einmal die richtige Kreislerbühne mit ihren sechs Kämmerlein neben- und übereinander, die jeweils abwechselnd für ein schnelles, huschendes Zwischenspiel allein grell erleuchtet werden, wir haben also nicht ein Berliner Sechs-Bühnchen-Rennen Shakespeares erlebt, sondern eine richtige Märchenaufführung der seit Reinhardt bekannten Art ohne besondere Tricks. Sie reicht an die erste Reinhardtsche im Deutschen Theater vor etwa 18 Jahren, die eine Offenbarung war, nicht ganz heran; ihr fehlt der Dämmerzauber des "echten" germanischen Waldes (hier ist er stilisiert), ihr fehlen auch die Darsteller, wie etwa Hans Waßmann einer war. Aber der Puck ist endlich wieder ein männliches Wesen, wird nicht mehr Gertrud-Eysoldtisch gegeben, sondern von Hans Hermann in einer ganz neuen Art musikalisch-gymnastischer Drolerie, so daß dieses purzelnde, hüpfende, schnellende Ungetümchen schon in dem Augenblick, wo man von fernher seine abgestimmten Schnalz- und Quarr- und Gurrlaute hört, das Publikum elektrisiert. Und dann haben Meinhard und Bernauer fertiggebracht, was bisher immer noch die englischen von den deutschen Theatern unterschied: da vorn auf der Bühne agieren wirkliche liebliche weibliche Wesen. Marlene Dietrich, die Elfenkönigin Titania, wird sogar als Schönheit gepriesen. Dafür hat sie, für meinen Geschmack, zu wissende Augen, so Kurfürstendamm-Augen, Edenhotel-Dachgarten-Augen, aber immerhin, wenn sie ihr Grautier in den weißen Armen hält, schlägt doch manchem anderen Esel im Parkett das Herz ein wenig stärker als sonst. Sieht man davon ganz ab, so kann man auch dann noch sagen: so zauberisch ist im Stammlande Shakespeares selbst noch nie der Sommernachtstraum geträumt worden. So poesiedurchtränkt. So hold in den duftigen Elfenreigen. Nur bessere Rüpel habe ich allerdings in englischen Aufführungen gesehen.

Vielleicht ist es auch nicht der Mangel an Geld, der den Berliner Theaterbesuch zurzeit so schwach macht. Vielleicht ist ein gut Teil Müdigkeit dabei. Es wäre eine Wohltat ohnegleichen für uns Angehörige der Berliner Gesellschaft, wenn es etwas weniger Wohltätigkeitsfeste gäbe. Man erzählt gar nicht einmal von allen. Immer wieder wird man dazu gepreßt, seine Abende für irgendeinen guten Zweck mit Gentila-Gürtel unter der Frackweste zu verbringen. Draußen auf dem Lande und in der kleinen Stadt denkt man mit glühenden Backen, wie herrlich das alles doch sei. Meist ist es staubig. Wenn unsereins könnte, wie er wollte, so ginge es gleich zu den Toren Berlins hinaus, - irgendwohin, wo freundliche Einladung winkt. Ein ganzes Päcklein davon liegt auch auf meinem Tisch, aber meist von sonst sehr lieben Menschen, die nun erwarten, daß der Mann aus Berlin ihnen da tagelang vom Morgen bis zum Abend Geschichten aus der Reichshauptstadt erzählen würde. Das denken auch die drei jungen Grazien, die mit Billigung der Eltern zu einem Besuch auf dem Rittergut locken. Zum Ausruhen für den hirnmüden Großstädter? Bewahre! "Wir freuen uns schon so auf ihre Berichte, wir werden die ganze Zeit an ihren Lippen hängen."

Das ist natürlich nur bildlich gemeint. Ich bin nicht sehr fürs Bildliche.
14. Februar 1924 (Donnerstag)



Glossen 19 - 21

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Glossen 25 - 27

© Karlheinz Everts