"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 1 - 3
6. bis 20. September 1923


1

Der Index in der Sommerfrische - Österreicher überall - Die Berlinerin - Wieder daheim - "Schönheit mit herrlicher Figur" - Die Saison beginnt - Der Fall Kattenbusch - Wie Menzels Nichte lebt.

Geld macht nicht glücklich. Aber es beruhigt.

Es ist schon die halbe Erholung, wenn man sich beim Antreten zur Sommerreise sagen kann, genau zu rechnen brauche man nicht, das Geld reiche für alle Fälle. Und wenn die gattin, ach, die Teure, die vorsichtshalber ganze Stullenpakete mitgenommen hat, noch zweifelt, dann geht man mit ihr und den Kindern in den Speisewagen und futtert zunächst mal die ganze Karte entlang. Das wirkt. Tiefe Beruhigung zieht nach den ersten Fahrtstunden auch in das Herz der sorgenden Hausfrau. Mögen die Stullenpakete also in Gottes Namen für die Möven zurechtgemacht sein; wir haben ja plenty Millionen.

Am 1. August ist einem das Geld für die halbe Auflage des kommenden neuen Rumpelstilzchen-Bandes ausbezahlt worden. Der prozentuale Anteil des Autors. Himmel, so viel Geld! Nach dem Buch-Index 30 000 berechnet. Jungens, das Glasschälchen mit dem Schwamm her, und hübsch angefeuchtet! Vater muß unser Reisegeld zählen.

Am 3. August treffen wir in Helgoland ein und finden den Hotel-Index 42 000 vor. Macht nichts. Den kleinen Unterschied schaffen wir schon. Überhaupt ist diesmal alles so beruhigend. Wir wohnen nicht mehr, wie bei Vorkriegsreisen nach Helgoland, unten in der lärmenden Kaiserstraße, sondern in der Pension Felseneck im Oberland. Da ist es friedlich und schön. Und besonders aus dem Zimmer Nummer 22, dem einen der drei von uns besetzten, hat man den wundervollsten Ausblick, den es auf der ganzen Insel gibt. Der reicht vom Wangerooge-Leuchtturm bis Amrum-Feuerschiff; dazu in der Nähe Unterland, Hafen, Reede, Düne. Und in sechs verschiedenen Taschen knistern die funkelnagelneuen Millionen.

Leider haben aber wohl ungezählte deutsche Familien diesmal dieselbe Erfahrung gemacht wie wir: daß die Millionenscheine nur Scheinmillionen sind. Der Index stieg während unseres Aufenthaltes von 42 000 ruckweise auf 450 000. In harten schnellen Stößen; wie der Atem bei einem Fieberkranken. Und so fanden denn schließlich alle, die in diesem Spätsommer - meist vorzeitig - wieder heimflüchteten, daß Geld allein doch nicht beruhigt. Es muß auch gutes Geld sein. Altes keiserlich deutsches Geld, die Mark zu einem Quarter amerikanisch. Oder neues gutes Geld aus dem Auslande, meinetwegen Lettenrubel. Kleine Randstaaten, deren gesamte Bevölkerung samt Heer und Diplomatie in der einen Stadt Charlottenburg untergebracht werden könnte, haben mehrhundertfach bessere Finanzen als wir. Es gehört in das Witzbuch unserer Zeit, daß sogar die Österreicher, die in diesem Jahr keinen deutschen Berg unbekraxelt und keine deutsche Meereswoge unbebadet gelassen haben, daß diese Österreicher, die Mann für Mann und Mädel für Mädel diesmal zu uns herüberwechselten, die Lippen schürzten und sagten: Pfui Teifi, da kennt sich ja neamand mehr vor Millionen net aus, wär' ma halt doch lieber nach Italien gangen! Und das Wort "Anschluß" ist aus ihrem Vokabular gestrichen. Vor lauter Wienern und einigen sonstigen Fremden konnte man - o Wunder über Wunder, o herrlichste Erholung - nicht einmal mehr Berliner unterwegs eräugen. Also rundum kein lautes Wort. Allenfalls lauter Sang - "Seidelbast, Gymnasiast, Seidelbast, Gymnasiast" hören wir es im Kehrreim - von Wandervögeln, die morgens um fünf Uhr ihre Decken abwerfen, nachdem sie die Nacht über auf freier Heide des Oberlandes bei Mutter Grün im Sturmwind geschlafen haben, um das Logis zu sparen. In den Hotels ist alles so still und gesittet. Alles studiert nachdenklich die Speisekarte. Sogar die offenbar sehr reiche, hochelegante Dame mit großen Boutons, die mindestens auf Kaffeekönigin aus Java eingeschätzt wird. Man weiß nicht recht, ob sie holländisch oder französisch sprechen wird. Sie studiert die neuen Millionenpreise für Beefsteak à la Meyer und bricht dann in die denkwürdigen Worte aus:

"Da bleibt einem wahrhaftig die Spucke weg!"

Und nun strahlt alles, was rundum ebenfalls mit trockenem Gaumen rechnet, - endlich mal ein befreiendes Kraftwort, endlich mal wieder eine Berlinerin! In gewissen Lagen schätzt man sie. Auch hier ist man nicht enttäuscht, daß sie also doch nicht aus Batavia stammt. Die Berlinerin, das ist doch allemal Volkesstimme, Gottesstimme. Die Kurgäste (das haben sie sicher in vielen hundert deutschen Erholungsstätten getan) rechnen aus, was jeder von ihnen am Tage verdient und was jeder von ihnen am Tage ausgeben muß - und wie hoch die Einnahme der Kellnerin am Tage ist. Da ist eine in Thatens Pavillon, die hat es auf 39 Millionen an einem Tage gebracht. Da erblassen selbst Ministerialdirektoren. Und in den nächsten Tagen (auch das ist sicher in vielen hundert deutschen Erholungsstätten ähnlich gewesen) findet ein allgemeiner Namenswechsel bei den Einheimischen statt. Es kommen überall neue Schilder zum Vorschein. Die Leute heißen auf einmal alle: Zimmerfrei. Stolz, wohl gar höhnisch, ziehen die abreisenden Gäste mit ihren Koffern an diesen Schildern vorbei. Salzt euch nur ein mit euren Preisen, denken sie. Und doch ist das ungerecht. Die Schilder "Zimmer frei!" bedeuten für viele Vermieter, die in vier Sommermonaten den Jahresunterhalt erwerben müssen, den sicheren Hunger im kommenden Winter. Bei einem Dollarstand von durchschnittlich einer Million haben sie eingenommen. Bei einem Dollarstand von vielleicht 500 Millionen werden sie ausgeben müssen. Und nur wenige haben Devisen oder sonst etwas Wertbeständiges.

Inzwischen ist aber anscheinend auch Berlin zur friedlichen Sommerfrische geworden. Man kommt zurück und fragt sich, wie dieses Dorf wohl heiße. Keine Laterne brennt. Man tappt im Dunkeln nach Hause. Natürlich, es wird wieder einmal gestreikt, und "der Jas" strömt durch keine Röhre mehr. Die wenigen Straßen mit Bogenlicht sind aber hell. Und, Gott sei Dank, zu Hause gehen auch die elektrischen Lampen an.

Man kann sich also in die heimischen Zeitungen vertiefen. Man versucht das Akklimatisieren zunächst im Bereich der Kleinen Anzeigen, denn da ist echtes Berlin. Ha, schon leuchten einem die Augen! Da steht lockend gedruckt:

Schönheiten
mit herrlicher Figur
für neue Revue gesucht.
Meldungen 4-6 im X-Theater.

Selbstverständlich "nichts wie hin". So etwas kann man sich nicht entgehen lassen. Schon stehe ich in der breiten Toreinfahrt, ein paar andere Herren sind ebenso wißbegierig hergekommen, man spricht, man lacht, und da schiebt sich breit und wuchtig und tressenbepackt der Portier daher. Was wir wünschten. Bitte sehr, wir kämen wegen der Anzeige. Die sei ja doch nur für Damen, grollt der Würdenträger. Bitte sehr, davon stehe nichts in der Anzeige, sage ich; auch wir seien Schönheiten mit herrlicher Figur. Etwas unschlüssig werden wir gemustert. Eigentlich möchte der Portier sagen, wir seien Galgenvögel und sollten uns fortscheren, aber ein Trinkgeld besänftigt ihn. Schön, nun stehen wir also Spalier. Im Grunde bin ich voll Spottlust hergekommen, in der Überzeugung, den Aufmarsch der gläubigen Schönheiten verulken zu können, aber ich bekenne mich als geschlagen. Da tänzeln gleich ihrer dreie Arm in Arm daher, die eine "der Kürze halber" reichlich kniefrei, damit der Herr Direktor von vornherein sehen kann, wie diese Beinchen seine Revue schmeißen werden, und ich muß gestehen, es sind ganz entzückende Wesen. Etwa der Typ Sisters Barrison, der englischen Song- und Dancing-Girls, von verblüffender Rosigkeit. Merkwürdig, wie schnell doch bei unseren Zwanzigjährigen, sofern nur ein hübsches Lärvchen die besondere Pflege durch einen sorgsamen Gärtner verlohnte, alle Verkümmerung aus Kriegszeit sich ausgewachsen hat! Gewiß, es ist noch etwas Infantiles oder Bubenhaftes bei diesen Berliner Schönheiten nachgeblieben, kein Ungar beispielsweise würde sie für "voll" ansehen und erst recht kein Türke, der die Schönheit nach Lebendgewicht taxiert, aber graziös sind sie unstreitig. Diese drei da und noch manche andere leben offenbar auch ganz gesund, sind frisch und resolut. In dem Ab und Zu vor dem Bureau des Direktors, der die Prüfung wohl unter Klausur und sehr genau vornimmt, zeigt sich allerdings auch manche Gestalt, die schon in der Blüte zu welken beginnt, manche Kaffeehauspflanze, die salopp einhergeht und vornüberhängt.

"Engagiert?" fragen wir eine von ihnen.

"Tjawoll!" antwortet sie siegesbewußt.

Sie scheint nicht übel Lust zu haben, sich mit uns in ein Gespräch über Kunst einzulassen. Wir weniger. Und das stockende Gespräch zerreißt mit einer schrillen Dissonanz. Ein Berliner Bengel hat sich draußen von der Straße herangepürscht. Er erfaßt blitzschnell die Situation und schmettert:

"Wenn eener eene jerne hat
Und kann se jut verknusen,
Und wenn se ooch 'n Buckel hat,
Er schwört, es is ihr Busen!"

Schwapp, soll er seine Backpfeife von der Berliner dürren Pflanze weghaben, aber er ist noch gerade ausgewichen, springt davon und höhnt aus der Ferne. Wir lachen Tränen. Und beleidigt rauscht die Donna davon. Vielleicht zu einem anderen Direktor, der, auch für eine Revue, von 5 bis 7 seine Auswahl treffen will; denn an das Engagement hier in dem Theater, in dem wir Posto gefaßt haben, glauben wir nicht. Oder sie geht wieder ins Kaffeehaus, weitervegetieren. Vielleicht kein reines Pflanzendasein, sondern ein mehr animalisches: als musculus Berolinensis occidentalis, um gleich die richtige naturgeschichtliche Bezeichnung zu wählen.

Jedenfalls wissen wir nun, daß die Berliner Saison beginnt. Die erste Revue von den dreien oder vieren, die angekündigt sind, soll schon nächste Woche steigen. In der Voranzeige einer anderen Revue, die rund drei Dutzend Szenenbilder haben soll, wird eines davon als der "Lebende Vorhang" angepriesen. Wir ahnen schon. Da wird man also die "herrlichen Figuren" leibhaftig sehen, wie sie ohne viel Hülle herniedergelassen und wieder emporgezogen werden. Uns dünkt, wir hätten gelesen, die Polizei habe jetzt endgültig alle Nackttänze und Damen-Boxkämpfe verboten; die Republik wolle endlich nach fünf Jahren korybantischen Treibens für Reinlichkeit sorgen. Aber, richtig, es hieß ja: verboten, wo kein höheres künstlerisches oder sportliches Interesse vorwiegt. Das wiegt wohl überall vor. Wenigstens wird man an den Anschlagsäulen immer noch zu diesen Natura-Balletten und Box-Meisterschaften eingeladen.

Aber das sind Dinge, die ja nur einen kleinen Kreis der Berliner und der Fremden angehen. Die meisten Menschen haben heute andere Sorgen. Freilich, der "Faun" in der Friedrichstraße wird noch nicht leer, obwohl die Brüder Steiner dort nicht mehr konzertieren, dafür aber zwischen allerlei weiblichem Gehopse und zwischen verquältem Schmus eines Conferenciers ein ganz ausgezeichneter Balalaika-Spieler, der als Virtuose von Klasse schon am Zarenhofe geschätzt war. Auch manche anderen Vergnügungsstätten weisen noch guten Besuch auf. Nur sind es immer dieselben Besucher. Für die große Schicht der Enterbten, auch aus dem künstlerischen Berlin von ehedem, liegt das alles jetzt weltenfern.

Einer hat sich still aus dem Trubel gedrückt. Den Justizrat Kattenbusch kannte ich von den neunziger Jahren her. Er stand in der "Berliner Bewegung" als nationaler Mann, plädierte vor Gericht, schrieb Aufsätze, paukte künftige Referendare ein, kurz, er arbeitete rastlos. Nun ist die neue, die herrliche Zeit über die geistigen freien Berufe gekommen. Kattenbusch geriet uns in diesen Jahren aus den Augen, trug wortlos und stumm seinen letzten Anzug bis zu Lumpen auf und ist jetzt - verhungert. Ein Mann von hohen geistigen Gaben. In einer Zeit, in der in einigen staatlichen Verwaltungszweigen sechsmal so viel Beamte beschäftigt werden als unter dem Kaiserreich. Nur hat eben nicht jeder die für heute richtige Gesinnung.

Man trifft auf Schritt und Tritt solche Gezeichneten, wenn man sich aufmerksam umschaut. Man sieht sie nur bei Tage nicht. Sie erledigen ihre notwendigsten Gänge in der Dämmerung, kurz vor dem Laternenanzünden. Sie huschen einher wie die Fledermäuse in der Bahnhofswirtschaft von Verona, dunkel, unscheinbar, nach dem Aufflattern schon wieder verschwunden.

Eine aber weiß ich, die tapfer und gleichmütig am lichten Tage ihre Bürde trägt, Fräulein Krigar-Menzel, die Nichte und Adoptivtochter des berühmten Malers, unserer "kleinen Exzellenz" Adolph v. Menzel. Die alte Dame hat - woraufhin ihre Verwandten sie prompt entmündigen ließen - kurz nach dem Tode ihres Onkels die Gemälde und Handzeichnungen, die er ihr hinterlassen hatte, im Jahre 1908, weil Menzel sich in süddeutschen Städten mit ihrer barocken Architektur immer auf Reisen so wohlgefühlt habe, an das Königreich Bayern verschenkt. Bis zur Revolution hatte sie ihr gutes Auskommen. Jetzt reichen ihre Zinsen noch nicht einmal zur Ernährung der Hauskatze. Nun zieht das alte Fräulein tagsüber mit dem Besen auf der Schulter in verschiedene Bureaus zum Reinemachen. Davon lebt sie. "Ich sehe ja wie eine Hexe aus, aber nicht wahr, das macht doch nichts, wenn ich keinem etwas zuleide tue", sagt sie fast schalkhaft. Mittags bekommt sie für ein Geringes, denn viel verdient sie mit dem Bureaureinigen nicht, in einem vegetarischen Speisehaus in der Bülowstraße ihre Nudeln oder ihren Reis. Nachher erbittet sie von den Küchenmädchen ("Es sind liebe Mädchen, sie werfen mir nie Schmutz oder Schlechtes in meinen Eimer") die Reste und Abfälle, wandert zum Tierhort, füttert dort die Katzen und Hunde, deren Rationen knapp geworden sind, und säubert dann die Käfige, da das geringe Personal des Hortes das nicht mehr ausreichend tun kann. "Die lieben Tiere sind doch auch Geschöpfe Gottes, und wenn ich mich nicht um sie kümmerte, würden sie ganz verkommen", sagt Fräulein Krigar-Menzel und putz also umsonst und um Gotteslohn auch dieses Asyl. Das frühere Dienstmädchen des alten Fräuleins hält auch in diesen bitteren Zeiten treu bei der "Herrschaft" aus, nur hat sich das Verhältnis etwas verschoben: Lohn gibt es nicht mehr, beide Frauen gehen täglich auf Arbeit, wohnen aber beieinander, und das kleine Stübchen, in dem noch vieles an den Altmeister Menzel erinnert, wird von dem Mädchen sauber gehalten.

Das ist die Zeit, in der jeder jugendliche Arbeiter Goldlöhne verlangt, da er sonst seine Zigaretten nicht mehr bezahlen kann.
6. September 1923 (Donnerstag)


2

Java - Die neue Revue: Drunter und Drüber - Maxe Schliephake - Redensarten - Ehescheidung im Hause Reinhardt - Goldgeld - Der kleine Kaktus.

Musik, Lichtbild, Tanz haben vor dem gesprochenen Theater den Vorzug, daß auch jeder Tonkinese, der kein Wort Deutsch kann, seinen Spaß daran hat. Ebenso, notabene, jeder auf tonkinesischer Kulturstufe stehende einheimische Berliner. Infolgedessen war mit Tschingtara, Kientopp, Halbnackttanz hierzulande immer noch etwas zu machen, während die ernsthaften Theater brechend leer waren. Das Tanzen - ich meine das Selbsttanzen - läßt jetzt freilich ein wenig nach, da nicht jedermann mehr, der in den letzten Jahren nach Tango, Maxixe, Foxtrott schob, das nötige Geld zur Erlernung des "Java" hat, der heute der einzig moderne ist. Für Nichtkenner der Synkopen-Rhythmen ist er im Vergleich zu den übrigen auch nur Jacke wie Hose, gehupft wie gesprungen, oder vielmehr: geschoben wie gewackelt. Auf die Zuschauer macht auch er den Eindruck, den der ehemalige französische Ministerpräsident Clemenceau, der alte Chirurg und messerscharfe Kritiker, hatte, als er neulich zum erstenmal in seinem Leben von ein paar Lebegreisen in einen Tangoklub verschleppt wurde: "Man sieht so viele vergnügte Rückseiten und fast lauter gelangweilte Gesichter." Also Java ist heute nur für einen sehr verengerten Kreis Trumpf. Ein Pfund Java-Kaffee ist den meisten lieber als eine Stunde Java-Tanz.

Aber Tschingtara und Kientopp florieren noch. Und alle wortlosen Künste zusammen auf einem Fleck am meisten; denn da kann eben jeder Tonkinese hingehen, und seine deutsche Begleiterin ist es zufrieden. Wenn uns aber die Tonkinesen und sonstigen Mehr-oder-minder-Exoten "alle" werden in Berlin? Wir fürchten, daß die sogenannten Revuen, die es einst - nach Pariser Vorbild - nur im Berliner Metropoltheater gab und die jetzt gleich zu viert die Reichshauptstadt beglücken, noch zu sehr mit einer Besuchermasse rechnen, die nicht Deutsch kann. In der Tat werden die Ausländer spärlicher und immer spärlicher. Im Admiralspalast in der Friedrichstraße, in der sich früher unsere wundervolle Eisarena befand, wird jetzt die Revue "Drunter und Drüber" gegeben, die, nach Analogie der wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler, noch den Untertitel führt: "Die wunderlichen Geschichten des Maxe Schliephake." Der Vorhang geht auf, man sieht die nächtliche Friedrichstraße im Bogenlicht mit ihren Bummlern und Kokotten, man hört durchaus eindeutige Gespräche, und da muß der Vorhang plötzlich herunter, denn es gibt einen "Theaterskandal". Oben auf der Galerie im Publikum begehrt einer auf. "Wat denn, wat denn," schreit er, "bloß Friedrichstraße? Da brauch' ick ja bloß vor de Türe zu jehn! Wozu bin ick denn heite aamd meine Olle durchjebrannt? Ick denke, nanu denke ick, is det der Nackttanz, wo ick hinwollte?" Ruhe do oben! Ruhe! "Halts Maul, oller Dussel!" wird von der Galerie gegenüber gerufen, unten im Parkett erhebt sich ein grüner Schutzmann, der Theaterdirektor kommt von der Bühne gestürzt, von den oberen Korridoren eilen Saaldiener herein und packen den Störenfried. Wer er sei, wird er barsch gefragt. Er sei Maxe Schliephake, Portier aus der Ackerstraße, und anfassen lasse er sich nicht, und, schwupp, turnt er an einem Seil von der Galerie herunter zum ersten Rang, schlüpft da durch, erscheint unten im Parkett und dringt polternd auf den Direktor ein, bis er vom Grünen "verhaftet" wird. Das Publikum ist nach dem ersten Staunen schon bald im Bilde. Aha, das gehört zum Ganzen! Und siehe da, gleich darauf sehen wir unseren Maxe Schliephake auch auf der Bühne, im Kittchen auf einer Bank mit zwei Gaunern. Und demnächst wird eine Dirne, die in eine Razzia hineingeriet, eingeliefert, die den Schicksalsgenossen in der Polizeihaft Kokain zu schnupfen gibt. Und im Kokainrausch - träumt Maxe Schliephake nun das ganze "Drunter und Drüber".

Man muß gestehen: Friedrich Schiller hätte ganz anders geträumt, und Rudolf Presber sicherlich geschmackvoller. Es ist ein saftiger Blödsinn, aber sehr farbenbunt, mit viel Mädchenfleisch, allerlei Reigen, ganzen Klaviaturen nackter Beine, mächtiger Musike, schreienden Lichteffekten, etlichen uralten Berliner Witzen aus der Zeit etwa des Pharao Tutankhamen und, in den Gesängen, strotzender Friedrichstraßen-Gemeinheit. Die Pariser Revuen, die doch das Urbild sind, hatten meist Esprit und tolle Lustigkeit; die Londoner Revuen mehr große Aufmachung im Matrosengeschmack der Music-Halls. Das hier, das "Drunter und Drüber", ist Berlin-Londoner Mischung, nur etwas ärmlicher als drüben und vor allem viel ruppiger, kurz: Maxe Schliephake. Irgendeines der Lieder, etwa "Das kommt vom Hmtata" oder "Wenn ein Mann drei Frauen hat" oder "Es gibt Mädchen, die kaum vierzehn", im Wortlaut anzuführen, oder auch nur die drei Verfasser, wäre eine Beleidigung der Berliner, die nicht alle Maxe Schliephake sind. Die paar guten Darsteller, so Kurt Lilien in der Titelrolle oder die blonde Uschi Elleot (Toelle) als Hilde in ihrer Modejournal-Stengelhaftigkeit oder die dunkle Molly Wessely als Mieze in fülligerer Kostümierung setzen sich durch, fast alles übrige aber ist Grimasse. Unsereins geht natürlich berufsmäßig hin, um den jeweiligen Berliner Kulturpegel abzulesen, aber wer ist es denn eigentlich, der hier das ganze Riesenhaus stopft? Bei den Eintrittspreisen, bis zu 48 Millionen Mark für einen Platz, denkt man natürlich an Ausländer. Aber ich sehen nur vereinzelt ein paar Japaner, einen Siamesen, knapp ein Dutzend Amerikaner, einen Holländer, sehr wenige andere Valutarier. Das Gros ist: Maxe Schliephake. Frauen und Töchter aus seinen Kreisen; dazu etliche Stifte aus Depositenkassen. Und willst du wissen, was sich ziemt, so sieh' dir nur Revuen an. Hier wird nicht etwa Pariser Ehebruchsmoral verzapft, nein, über dies Stadium sind wir längst hinaus, sondern die Moral der Köter von der Promenade. Und alles lacht und kreischt und vergnügt sich.

Es lohnt nicht, darüber mit seinen Mitbürgern zu sprechen. Der Herr Ministerialrat Müller trinkt in bedächtigen Zügen sein Glas Bier, grunzt, setzt ab und sagt nur: "Wir tanzen auf einem Vulkan!" Statt eigener Gedanken stehen solche bocksteifen Redensarten auf vier Holzbeinen einem überall im Wege. Wir lesen mit Erstaunen, daß Goethes deutscher Sprachschatz aus rund 11 000 Worten bestand, während der kassubische Bauer mit 360 sein Leben lang auskommt. Der richtige Berliner aber braucht nur ein Schock stereotyper Phrasen. Nach einer langen Weile des Sinnens sagt der Schneidermeister Lehmann, während er sich eine Schellfischgräte aus den Zähnen zieht: "Wir treiben dem Chaos entgegen!" Was das ist, weiß er natürlich nicht; für den einen ist es Mord und Totschlag, für den anderen umfangreiche Verkehrsstillegung, für den Dritten das Aufhören weißer Semmeln. Man plappert gedankenlos nach, man wirft gelegentlich solche abgegriffenen Worte hin, statt daß man lieber schwiege und seine geistige Trägheit verbärge.

Nur wo ein Skandälchen beim lieben Nachbarn herausguckt, da hat die Wortkargheit und Gedankenarmut sofort ein Ende. Der Theaterdirektor Max Reinhardt, der epochemachende frühere Leiter des Deutschen Theaters, der Gründer des Theaters der Fünftausend, der Mann von tausend und aber tausend sprühenden Regieeinfällen, hat seinen 50. Geburtstag gefeiert und einige wohlgesetzte Gedenkartikel in den Berliner Zeitungen bekommen. Da wird denn beschrieben, wie er, ursprünglich ein kleiner und kaum beachteter Schauspieler, sich der Kunst des Materialismus und Verismus zuwandte, um einige Jahre darauf Bahnbrecher der holdesten Romantik zu werden, die wir je auf der Bühne erlebt haben; ich habe noch die ersten Aufführungen des "Sommernachtstraums" unter Reinhardts Leitung in der Erinnerung, die wie eine Offenbarung wirkten. Alles das interessiert heute aber nicht. Wovon ganz Berlin vielmehr spricht, das ist Reinhardts Ehescheidungsprozeß. Der aus Ungarn gebürtige Künstler hat seine gerichtliche Zuständigkeit in Preßburg, also vor einem jetzt tschechoslowakischen Tribunal wird die Klage seiner Frau, Else Heims, wider ihn entschieden, mit der er zuerst zehn Jahre ohne Bemühung des Standesamtes und dann noch zehn Jahre in aller Form Rechtens zusammengelebt und zwei Kinder bekommen hat, die von dem schlichten Blond der Mutter und dem schwarzen Gelock des Vaters je einen Schuß geerbt haben. Es war zuletzt keine Leidenschaftsehe mehr. Wenn große Künstler große Geschäftsleute werden, pflegt die Ehe mehr eine Erwerbsgemeinschaft zu sein, in der die repräsentativen Pflichten überwiegen. Man freut sich gegenseitig der nach allen Richtungen hin angeknüpften Beziehungen und ihrer Erfolge, man macht ein Haus, man hat Konferenzen, man erledigt manches mit den Geschäftsfreunden bei einer Motorbootfahrt, auf einem Picknick, während einer Bergtour. Gelegentlich berichtet man einander und freut sich wiederum. Im übrigen ist man verstehend und nachsichtig, verrät jedenfalls nicht seine Stimmung, wenn man am liebsten vielleicht einen Wehelaut ausstieße. Nach dem Motto

"Du brauchst mir ja nicht immer treu zu sein,
Du brauchst nur manchmal für mich frei zu sein"

haben auch diese beiden Theaterkaufleute großen Stils ihre Bezirke in aller Vielgeschäftigkeit abgegrenzt. Nun klagen sie. Frau Else Heims leider mit triftigen und durchschlagenden Gründen. Demgegenüber hat Max Reinhardt wahllos eine lange Reihe von Kunst- und Geschäftsfreunden bezichtigt, daß sie in seine Ehe eingebrochen wären. Aber nicht in einem einzigen Falle hat sich die Bezichtigung als wahr erwiesen. So generös Reinhardt mit Millionen - Goldmillionen - früher um sich zu werfen gewöhnt war, so filzig scheint er jetzt geworden zu sein, denn der ganze Streit ist ja nur deshalb in die Öffentlichkeit gekommen, weil Frau Heims-Reinhardt für sich und die Kinder - getrennt leben die beiden Gatten schon lange - nicht mehr das Unterhaltsgeld bekam und nun soundso viel Tschechokronen monatlich einklagen muß. Und nun horcht die ganze Öffentlichkeit auf und - in gewissen Finanzämtern werden neue Aktenfaszikel angelegt: Fall Reinhardt. Wenn eine Frau als sozusagen Sozius über die Zahlungsfähigkeit des von ihr "separierten" Mannes berichtet, kommen ja häufig Posten zum Vorschein, die nicht so allgemein bekannt waren. Aber bei dieser Aufzählung hier in den Preßburger Gerichtsakten leckt sich doch mancher die Lippen. Else Heims weist nach, daß ihr durchgebrannter Krösus, der ursprünglich, als beide sich fanden, wirklich ein ganz armer Schauspieler war, vielfacher Goldmarkmillionär ist, noch im Jahre 1920 nicht weniger als 15 Millionen zur Vermögenssteuer angemeldet hat, außerdem aber das Salzburger Schloß Leopoldskron besitzt, in dem sich geradezu märchenhafte Kunstschätze befinden, darunter Werke von Tizian, Rubens, Veronese. Ferner sei Reinhardt Hauptaktionär des Efa-Films, habe große Effektenkonten und auch einige Not-Millionen in Devisen im sicheren Auslande. Sie, Else Heims, verlange aber für sich und die beiden Kinder nur 5000 Tschechokronen monatlich, und das wolle Max Reinhardt nicht zahlen, der Multi-Millionär.

In Reinhardts Schriftsatz finden sich außer der Beschuldigung der Untreue, die Else Heims entrüstet abweist, Schilderungen der ersten Zerwürfnisse. Sie habe im Theater große Rollen als Heroine oder Dulderin verlangt, und das habe er, als Regisseur, nicht gestatten können; sie habe oft, während die Kinder unter fremder Aufsicht daheimblieben, Gastspielreisen absolviert, und das habe er, als Vater, nicht zulassen dürfen. Wie man sieht, haben in dieser Ehe die familiären und die künstlerischen und die geschäftlichen Interessen einander oft im Wege gestanden, wie es ja auch in mancher anderen Ehe heute der Fall sein mag.

Also hüte man sich, sagen die Unverbesserlichen, vor der Frau als Sozius. Schön. Wenn man Goldmillionen hat. Das trifft aber doch nur noch für einen winzigen Teil - den betriebsamsten - der Bevölkerung Deutschlands zu. Die anderen hören immer nur von Gold, haben aber keines. Gelegentlich habe ja auch ich, ein teutscher Sinnierer, einen Dollar oder Gulden erwischt, ihn aber schleunigst wieder auf den Trab gebracht. Das bekam uns immer gut. Jetzt soll es demnächst wieder Goldmark geben, wie auch die französische Revolution, nachdem die Assignaten ausgelitten hatten, neue Bonds "unter Garantie der gesamten Wirtschaft" einführte, die schließlich ebenso den Weg alles Fleisches gingen. Komme, was kommen mag: ich habe vorgesorgt. Einmal habe ich nämlich 15 Dollars nicht alsbald in Leben - Weiterleben - umgesetzt, sondern in Dollarschatzanleihe, die laut Testament nun daliegt, bis ich einst fröhlich verscheide. Dann sollen sie gegen landesübliches Geld umgetauscht werden und zunächst für einen Umtrunk zur Herzstärkung meiner Hinterbliebenen dienen, sodann für meine Einäscherung. Von dem Plan, mich der Anatomie zu schenken, bin ich abgekommen, denn wer weiß, was die Leute da für greuliche Dinge in meinem Gehirn fänden. Aber ich habe einen kleinen Kaktus zu Hause, der, wie ich, ein Virtuose im Aufsaugen von Flüssigkeiten ist und sie ebenso selten bekommt. Alle acht Tage den Untersatz voll. Dieser Kaktus soll, so erkläre ich hierdurch testamentarisch, meine Asche als Dünger erhalten. Es muß dann von den 15 Dollars nur noch ein etwas größeres Blumentöpfchen angeschafft werden, denn ich ergebe sicherlich viel, sehr viel Asche. Und da der kleine Kaktus bestimmt sehr langlebig ist, freue ich mich schon darauf, daß es lange Jahre hindurch in so schönen Herbstmonaten daheim erschallen wird: "Setzt doch Vatern wieder ein bißchen in die Sonne!"
13. September 1923 (Donnerstag)


3

Verjuxen oder sparen? - Die Hoffnung auf die neue Ära - Auf den Hund gekommen - Die Kabaretts - Wieder eine Revue - Auf den Gewässern um Berlin - Wem der kaiserliche Hofzug jetzt gehört - Kommunistische Jugend - Neue Schnupftücher für Zuchthäusler.

"Du Unglückskind, du Leichtsinn, erst den Fünfzehnten haben wir heute und schon hast du kein Taschengeld mehr - aus dir wird ja im Leben nichts!"

Ebenso häufig, wie ich unter Beängstigungen träume, daß ich als alter Knabe noch einmal ins Abiturientenexamen steigen müsse, träume ich mich in noch frühere Kinderzeiten zurück und höre so die besorgte Stimme der Mutter, weil ich wohl wieder in den ersten Tagen des Monats alle 15 Pfennig auf einmal für Lakritzstangen verjuxt habe. Und nun ertappe ich mich selber auf dem Drange, als Vater einen Jungen wegen Dummheit und bodenlosen Leichtsinns zu ohrfeigen, weil er am Fünfzehnten umgekehrt - noch sein ganzes Taschengeld daliegen hat, unangetastete Millionen, verwesungsreif, jeden Tag weniger wert. "Aus dir wird ja im Leben nichts, du Träumer, der du noch Papiermark liegen läßt, statt sie sofort in Ware anzulegen! Kostet ein Quartheft, liniiert, nicht schon 21/2 Millionen, während du es am Ersten noch für eine halbe bekommen konntest?"

Berliner Kinder haben heute keine Märchenaugen mehr, sie sehen einem so merkwürdig wissend ins Gesicht. Alles, was in Kinderbüchern vom Sparen steht, vom Ehren des Pfennigs, vom Fleißigsein, ist heute doch "sinnlos" geworden. Aber auch das Anlegen des Geldes, sagen sie, geht nicht, wenn man zu wenig hat. Keine Hausfrau bekommt mehr monatlich ihr bestimmtes Wirtschaftsgeld und erprobt daran ihre Künste. Bekommt sie was, so rennt sie schon, um "irgend etwas" zu kaufen, was nicht gerade in 24 Stunden verdirbt, denn am nächsten Tage mag alles doppelt soviel kosten. Ein großer Teil der Verwahrlosung unserer großstädtischen Jugend, ein großer Teil der moralischen Verlumpung unserer Erwachsenen ist darauf zurückzuführen, daß die Revolution durch Erfüllungspolitik, Minderarbeit, Konfiskationssteuern unsere Währung ruiniert und das "Streben" als sittlichen Faktor aus der Welt geschafft hat; das "Es nützt ja doch alles nichts" ist heute in voller Hoffnungslosigkeit ja schon überall in die Mienen eingegraben. Eine kurze Weile strafften sich freilich wieder die Rücken, eine kurze Weile hoffte ganz Berlin auf das Wunder, das der neue Volksmann herbeiführen würde, der gegenwärtige Kanzler, dessen Vater noch als Weißbierverleger in Berlin N.O. gerlernt habe, "wo das Volk der Schuh drückt," und dessen Frau einer Rasse angehöre, die sich auf Sanieren und Finanzieren verstände, kurz, jetzt werde binnen kurzem wieder das Zeitalter des goldenen Zwanzigmarkstückes anheben. Statt dessen ist die deutsche Papiermark noch unter den Sowjetrubel gesunken. Die große Koalition mit der roten Rotte Korah, die Betrauung eines Ostjuden, des sozialdemokratischen Wiener Arztes Dr. med. Hilferding, mit dem Reichsfinanzministerium, die neue Devisendiktatur und alles übrige haben die Not nicht aufgehoben, sondern gesteigert. In der ersten Hälfte September sind zu den bereits bestehenden 32 Berliner Hundeschlächtereien noch 13 neue eröffnet worden. Auch unter dem alten System wurde Hundefleisch verzehrt, aber nur in einigen wenigen Hausindustriedörfern der ärmsten Gegend Deutschlands, im sächsischen Erzgebirge, und sonst weder in Berlin noch in irgendeiner anderen Großstadt, und heute kaufen dieses Hundefleisch - für den Sonntag - die Angehörigen des gebildeten früheren Mittelstandes.

Da möchte man wirklich lieber scheintot sein. Oder unter Narkose. Das ist es, was schließlich so manchen Berliner, der noch nicht auf den gebratenen Hund gekommen ist, an Stätten treibt, wo man für kurze Zeit Vergessen findet. Je schlechter es uns geht, in desto mehr Kabaretten wird Lust verzapft. Nur aus dem Gedächtnis heraus nenne ich hier flink Fledermaus, Grille, Wien-Berlin, Schall und Rauch, Schwarzen Kater, Metropol, Alt-Bayern, Weidenhof, Kakadu, Nachtlicht, Rote Nachtigall, Greif, Gondel, Rampe, Wilde Bühne, Prisma, Weiße Maus, Rakete, Sorrent, Palais der Friedrichstadt, Blumensäle, Rokoko, Nelson, Frou-Frou, Admirals-Kasino, Bohème, Libelle, und es gibt noch viele Hunderte mehr, dazu die Tausende von Likörstuben und Dielen.

Es ist alles Betäubung. Auch die Bühnen haben vielfach keinen anderen Zweck mehr. Nun ist schon die zweite Revue herausgekommen, ein blödes Kokottenstück, in dem Guido Thielscher, unser unverwüstliches Knoppchen, einen Monte-Carlo-Serenissimus vortrotteln muß. Auch die Verfasser arbeiten, scheint es, halb betäubt. Wo ihnen nichts mehr einfällt, schicken sie ein Dutzend Beine an die Rampe oder enthüllen sonstige weibliche Baulichkeiten. Es reizt aber nichts mehr. Was gilt die Wette, daß die meisten Zuschauer, während zu den Bildern die Musik leicht ins Ohr ihnen plätschert, doch nur rechnen? Ich rechne mit. Ich rechne, was man heute lieber werden möchte, was überhaupt noch lukrativ ist. Wenn ich die jungen Männer in der jetzigen Mode sehe, steht mein Entschluß für etwaigen Berufswechsel schon fest: ich eröffne ein Geschäft, in dem Büstenhalter für Herren verkauft werden.

Vielleicht auch Geradehalter für Staatsmänner und Parlamentarier; nur ist da die Nachfrage noch kaum der Rede wert.

Eines tröstet aber immer noch, das ist die erfreuliche Tatsache, daß die liebe Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint, ohne dafür einen Index aufzustellen oder gar Meistgebot zu verlangen. Ein Herbst, schön wie am Rhein, hat die Mark gesegnet. Wie tausend leuchtende Augen blinken die Seen empor. Und aus der dumpfen Großstadt, die auf Wärme immer mit Gestank reagiert, quellen Hunderttausende zersorgter Menschen ins Freie. Da wir auf sämtlichen Beförderungsmitteln allwöchentlich erhöhte Tarife bekommen, ist es allemal "der letzte billige Sonntag", der noch ausgenutzt werden muß. Die meisten Seen sind ja, wie Perlen auf der Schnur, an irgendein sonst bescheidenes Flüßchen gereiht, an die Spree, an die Havel, an den Rhin, und so kann man von Berlin über Rheinsberg, des jungen Alten Fritz entzückende Idylle, bis tief nach Mecklenburg hinein zu Wasser gelangen. Das ist das Weekend unserer Wanderruderer, viel schöner, als das Weekend im englischen Country bei Rasenspiel. Und wer nur den Sonntag allein hat, der findet weiter ab, schon irgendwo am Schwielowsee, Boote, die man noch für den Tarif von zwei oder drei Straßenbahnfahrten für den ganzen Tag mieten kann. Da rudert man oder läßt sich treiben, geht an Land, kocht ab, legt sich in die Sonne, gleitet dann weiter und hat immer wieder beglückende neue Ausblicke, auf den Wald und das Kirchlein von Geltow, auf die märkischen Minaretts des Doms zu Werder, auf glitzernde Wasserflächen, auf Parks und Schlößchen, auf junge plätschernde Nymphen in irgendeiner stillen Bucht, auf eine unbeschreibliche Sonnenseligkeit rundum. Sportboote flitzen einher mit unserem Jungvolk, vielfach Schülerinnen unserer Lyzeen, frischgetraute Ehepaare wiegen sich tagsüber im Paddelboot, im "selbstgebauten" Segler furcht eine Arbeiterfamilie stolz die Havel, Kreuzeryachten versammeln eine frohe Gesellschaft an Deck, und Motorboote zischen messerscharf daher. Bunter, gedrängter noch, ist das Leben auf der Themse; aber schöner und freier doch auf unseren märkischen Gewässern. Zwei englische Majors von unserer Überwachungskommission, denen es die von Deutschland gezahlten Gehälter gestatten, tagelang in ihren Segelbooten nur auf dem Wasser zu liegen und gelegentlich an irgendeinem vornehmen Restaurant zu landen, photographieren in dieser goldenen Herbstsonne unermüdlich und haben schon mehrere tausend Bilder beisammen; sie erklären, daß ihr Weltreich sie schon in manchen Erdteilen verwendet habe, daß sie aber noch nirgends auf so viel ruhige Schönheit gestoßen seien. Für viele Berliner ist freilich das Wasser nur Fahrstraße, sonst nichts. Sie sehen nicht nach links, nicht nach rechts, sie knattern mit ihrem Motorboot nur wie rasend daher, bis sie einen menschenleeren Fleck irgendwo an einem Ufer gefunden haben, vertauen das Boot an einer Weide und machen es sich dann an Land bequem. Die Tochter bekommt ihre Hängematte ausgespannt und schmökert Prévost oder Arzibaschew, die Mutter streckt sich auf Plaid und aufgeblasenes Gummikissen ins Gras, für den Vater werden Korbsessel und Klapptischchen und Börsenkurier aus dem Boot geholt; der Chauffeur bereitet derweil in der kleinen elektrischen Küche das Mahl. Ganz ist ja auch die Wohlhabenheit bei uns noch nicht verschwunden. Wer heute vom Reichkanzlerplatz aus weiter gen Westen pilgert, dem Stadion zu, der ist erstaunt, wieviel neue prächtige Villen in den letzten Jahren hier entstanden sind. Nur gehören leider - Deutschen die wenigsten.

Manche Berliner Prachthäuser gehören Sowjetkommunisten. Der Besitz wechselt die Besitzer. Im ehemaligen Hofzug des deutschen Kaisers fährt der Wiener Finanzier Bosel in Europa umher. Die alte preußische Hochzeitskutsche, in der schon Königin Luise bei uns eingezogen ist, wird soeben unter der Hand ausgeboten; wie sie zu dem jetzigen Besitzer gekommen ist, mögen Gott und gewisse Novemberhelden allein wissen.

Aber unsere Berliner kommunistische Jugend schwärmt für dieses Heldentum und beschimpft alles, was "früher" war. Mitunter in einer Aufdringlichkeit, die nachgerade schon den rotesten Berlinern auf die Nerven fällt. Und in welchem Aufzug! Gehe ich da gerade am Potsdamer Ringbahnhof vorbei, wo eine große Menschenansammlung sich knäult. Alles gafft auf eine Gruppe kommunistischer Wandervögel, Marke Rote Riege, ein halb Dutzend Lausbuben, zwei vielleicht sechzehnjährige und ein etwa zehnjähriges Mädchen. Die ganz kleine, sauber und adrett, mit blonden Schnecken, steckt einem der Burschen gerade den ungebärdigen Hemdkragen weg und bekommt zum Dank eine wiehernde Gemeinheit an den Kopf. Die beiden großen Mädchen, bleiche Nachtpflanzen, verstehen das schon. Die eine von ihnen, die aller Blicke auf sich zieht, ist vollkommen als Mann gekleidet, hat ein offenes Sporthemd, kurze Ruderhosen, den gepackten "Affen" auf dem Buckel, zieht aus dem einen Wadenstrumpf eine ausgewachsene Försterpfeife und fängt an zu paffen; im anderen Strumpf steckt ein griffestes Messer. Verekelt wendet ein Teil des Publikums sich ab. "Deutschlands Zukunft!" sagt erschüttert ein alter Mann und macht eine Geste, als hole er zur Backpfeife aus. Er ist kein Junker, kein Agrarier, kein Kapitalist, sondern offensichtlich ein Proletarier,der vermutlich sein Leben lang sozialistisch gewählt hat. Aber auch unseren kleinen Leuten in Berlin gehen allmählich ja die Augen auf.

Nur die oben wollen es immer noch zwingen, wollen den Bolschewismus womöglich übertrumpfen. Die Moskauer Gewalthaber schmolzen die Denkmäler aus der Zarenzeit ein und gossen aus ihnen als erstes eine Statue von Judas Ischarioth. Die Berliner Regierenden wollen ihnen an Witz über sein und haben jetzt angeordnet, daß die überflüssigen preußischen Adlerflaggen aus der Königszeit eine praktische Verwendung finden: als Jackenfutter, als Wischlappen, als Taschentücher in Strafanstalten. Wenn erst unsere Zuchthäusler sich in den preußischen Adler schneuzen, dann, so glaubt man, ist man seiner endgültig Herr, Es ist immer so in der Weltgeschichte gewesen: unmittelbar vor dem Zusammenbruch wird noch einmal gelästert.
20. September 1923 (Donnerstag)



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Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts