"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 19 - 21
26. Januar bis 8. Februar 1923


19

Der "unwiderruflich letzte" Ball - Wohlgeneigte Damen - Nationale Begeisterung bei der Filmindustrie - Man predigt öffentlich Wasser - Von allerlei Prinzen - Der Japaner im Faun - Warum der alte Major Selbstmord beging - Eine Frage an Hindenburg - It is a long way

Nein, das darf man sich doch nicht entgehen lassen: den unwiderruflich letzten, einstweilen letzten großen Ball. Solange das fremde Raubgesindel im Ruhrbecken haust, protestieren wir dagegen auf Wunsch unserer parlamentarischen Regierung durch Nichttanzen, und angeblich wollen die Franzosen und Belgier ja mindestens zwei Jahre dort in dem fetten Industriegebiet bleiben. Auf der Bühne darf getanzt werden, da tummeln sich die unterschiedlichen Venus-, Natura- und sonstigen der Aphrodite Kallipygos Sansculotte geweihten Ballets, auf der Bühne in der Reichshauptstadt werden nach wie vor französische Luderstücke aufgeführt, - aber das Publikum darf nicht tanzen. Am vorigen Sonnabend: zum unwiderruflich letzten Mal. "Ich grüße Dich, du einz'ges Camisole, das ich mit Andacht nun herunterhole," schlüpfe in den Frack mit seinen glitzernden, klappernden Kriegserinnerungen der Orden, die beim Tanz als kaltes Metall allzu blühendes Leben vom Anschmiegen an das beginnende Alter abhalten, und steuere - zum Ball der Filmindustrie.

Es wimmelt von Generaldirektoren. Sie sehen nicht nach Schwerindustrie aus; man hat den Eindruck, daß sie gestern vielleicht mit Waggons Seife gehandelt haben, heute zufällig mit "Kunst" handeln, morgen am Ende mit Perserbrücken handeln werden. Aber es wimmelt auch von bescheideneren Deutschen. "Und dann die kleinen Mädchen!", wie Detlev v. Liliencron schmettert. Auch manche Grande-Dame darunter, so Erna Morena, die vor zwei Jahren auf dem unabhängig-kommunistischen Parteitag in Halle durch ihre fabelhaften Toiletten so auffiel. Diesmal sieht man wenig lichte Farben, viel dunkles Russisch-Grün, gehoben nur durch Brokat oder Gold- und Silberspitze, und die Kleider sind oben und unten länger geworden. War Dir früher eine Dame wohlgeneigt, so neigte sie sich Dir mit 45 Grad beim Sektnippen in der Tanzpause entgegen, und Deine Augen senkten sich wie ein Lot in schimmernde Meerestiefe. Heute lautet die Parole: geschlossen bis über das Schlüsselbein. Nur seitwärts, zu den Schultern zu, ist der Ausschnitt weiter geschlitzt, und die Damen haben alle den Veitsttanz, zucken mit der Schulter so lange, bis das Kleid hinunterrutscht, und zucken dann erst recht, um auf die eine entblößte Schulter aufmerksam zu machen. Und die ganz Wohlgeneigten drehen Dir gar den Rücken zu, den verhüllt die Mode, im Gegensatz zu vorne, ganz und garnicht. Alles das bleibt sich in allen Zonen und in allen Zeiten gleich, auch wenn natürlich die weibliche Taktik je nach der Topographie der Mode wechselt. Und doch gibt es auf diesem unwiderruflich letzten, einstweilen letzten öffentlichen Ball Berlins etwas ganz Neues, gänzlich Unerhörtes: gegen 10 Uhr spielt die Musik zufällig einen preußischen Militärmarsch, nach dem sich gut foxtrotten läßt, aber die Paare halten inne, hier summt einer mit, dort summt einer mit, auf einmal wird der preußische Militärmarsch zum brausenden Choral, zum Aufschrei einer gepeinigten Nation. Das Deutschlandlied. Das Preußenlied. Das Flaggenlied. Einer spricht. Ein anderer zückt Zehntausendmarkscheine. Für die Ruhrdeutschen. Geschlagene anderthalb Stunden wird überhaupt nicht getanzt, sondern geredet, gesungen, geschluchzt, gesammelt: Deutsche und Galizier, Amerikaner und Holländer, Japaner und Chinesen spenden, es regnet Gaben von tausend bis fünfundsiebzigtausend - dies vom Verlag Scherl - Mark, und die national-deutsche Stimmung ist so gehoben, wie noch nie auf einem Ball.

Wäre es also besser oder würdiger gewesen, wenn er überhaupt nicht stattgefunden hätte?

Ich glaube nicht. Als berufsmäßiger Ketzer, dem keine Behördenweisheit heilig ist, darf ich es wohl aussprechen, daß mir alle diese Verordnungen töricht erscheinen. Im Kriege hat man es zuerst auch versucht, alle Lust daheim einzuzwängen. Wenn wir aus dem Felde abgekämpft auf Urlaub kamen, mußten wir, auch wenn der gute Santos noch kiloweise in der Bundeslade der Hausfrau lag, heroisch Gersten-Plurksch als Kaffee trinken, und man glaubte unser "Heldentum" am besten zu ehren, indem man das Piano und die Grammophonplatten verschloß und mit Leichenbittermiene um uns herumsaß. Und wir hungerten doch so nach Freude, nach Lebensgenuß! Jetzt geht diese verfehlte Geschichte wieder los, und wieder gibt es, obwohl Deutschland nicht blockiert ist und alles haben kann, behördliche Spar- und Speisegesetze für die Gasthäuser. Ich gehe jede Wette ein: nicht ein einziger Hummer wird deshalb weniger gegessen, nicht eine einzige Flasche Schaumwein weniger getrunken! Auch hochmögende regierende Parlamentarier gehören zu den Leuten, von denen es heißt, sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein. Vor wenigen Tagen machte einer der Mitverfasser der Reichstagserklärung gegen Schlemmerei eine Gesellschaft in Berlin mit und fraß wie Lukullus das gängereiche Diner herunter. Den Namen dieses Parteiführers will ich nicht nennen, es könnte seiner Gesundheit schaden. Als nun seine Tischdame ihn lachend auf den Unterschied zwischen Lehre und Leben aufmerksam machte, rauschte seine Gattin, eine orientalisch gepflegte Schönheit, entrüstet auf und sagte: "Wenn wir das bißchen Essen und das bißchen Toilette nicht hätten, dann lohnte sich das Leben doch überhaupt nicht mehr!"

So denken sie alle. Wir wollen doch, wenigsten an dieser Stelle, nicht heucheln. So denken sie alle, ganz gleich, ob eine gefüllte Mastpute und Pommery oder eine Bockwurst und ein Monopolschnaps vor ihnen steht. Es kommt nur darauf an, daß jedermann das nötige Taktgefühl aufbringt und in dieser Zeit vor allem das Prassen bei und mit Fremden vermeidet. Es ist nicht schön, wenn am nun einmal befohlenen nationalen Trauertage der Prinz und die Prinzessin v. Thurn und Taxis und ein Prinz Reuß den Empfang auf der englischen Botschaft in Berlin mitmachten. Sogar der Militärattaché einer feindlichen Macht, der auch dort war, hat sein Erstaunen über diese - Unbekümmertheit geäußert. Man freut sich, daß im Gegensatz zu diesen Familien des Hochadels die Zollernprinzen fats durchweg sehr zurückhaltend sind. Prinz August Wilhelm zum Beispiel lebt außerordentlich still und bescheiden und ist glücklich darüber, daß er sich "rechtzeitig" eine ganze Menge Gummisohlen und Gummiabsätze gekauft hat, so daß er seine Stiefel jetzt länger tragen kann. Und als Prinz Sigismund von Preußen dieser Tage nach dem Theater ins Edenhotel hinüberging, ließ er sich nicht etwas ein Souper auftischen, sondern verlangte - ein belegtes Brot. Das gäbe es nicht, meinte der Kellner, der Herr könne aber ein Sandwich haben. "Mein Lieber," erwiderte der Prinz, "halten Sie es für denkbar, daß mir in London ein Kellner, wenn ich dort ein Sandwich verlange, sagt, ich könne nur - auf deutsch - ein belegtes Brot haben?" Unter dem Eindruck der augenblicklichen Lage, in dem Strohfeuer - mehr ist es vielfach nicht - der Entrüstung gegen die Franzosen wird freilich gegen die Ausländerei hie und da Front gemacht. Ganz wie 1914, wo das Café Picadilly in Berlin sich in Kaffeehaus Vaterland und der Russische Hof in Weimar in Fürstenhof umtaufte. Die französischen Weine sind auf den Karten unserer vornehmen Restaurants einstweilen gestrichen. Die wenigen welschen Herren, die Berlin noch beherbergt, fühlen sich ungemütlich und haben erschreckliche Angst, sprechen auf der Straße krampfhaft ein unmögliches Deutsch und werden totenblaß, wenn irgendwo ein Gummireifen platzt. Aber was sie nicht in einer öffentlichen Gaststätte kriegen, das kriegen sie privatim. Wie alle Fremden. "Geld stinkt nicht". Jedermann angelt nach Valuta-Mietern. Mögen es ruhig "ehemalige" Feinde sein. Und nur wenige Deutsche haben ein Gefühl für die doppelte Schmach, die etwa in der nachstehenden kleinen Anzeige liegt, die man in einem der gelesensten Berliner Blätter findet:

Japaner sucht 1 bis 2 elegante Zimmer für
Dame. Offerten unter usw.

Da sitzt gerade eine dieser "Damen" mit einem aus der zähnefletschenden Nation an dem Tische neben uns im Faun in der Friedrichstraße, wo man abends für etwa 15 000 Mark schon ein ganz anständiges Essen mit einer guten Flasche Wein bekommen kann. Es ist sichtlich keine Dirne. Eher eine vom früheren Typ Haustochter. Nur ganz unmöglich angezogen, offenbar von dem Japaner neu ausstaffiert, in einer für Ort und Zeit unpassenden großen Toilette. Sie bringt ihm Deutsch bei, er ihr das Lumpen. Er wird nachher zu Hause Professor oder Oberingenieur oder Importeur oder Stabsoffizier. Sie endet auf dem Kehrichthaufen. Aber vorläufig ißt sie Hummer. Er kostet 30 000 Mark. Jeden Abend werden im Faun, den ich meist nur zum Nachmittagskaffee wegen der wundervollen Steiner-Konzerte aufsuche, etwelche dieser Hummer verzehrt. Spaß. Das Krustentier kostet dem Japaner ja nur 3 Yen, wenn er die einwechselt, also gerade 6 Mark von früher. Aus ihrem Geld umgerechnet macht es auch für die Holländer hinter uns und die Amerikaner uns gegenüber nicht mehr aus.

Rundum Fremde. Man trifft an diesen Stätten keinen guten Bekannten aus alter Zeit mehr. Nicht auf behördlichen Befehl, sondern weil sie das Geld dazu nicht haben, müssen 999 von 1000 Deutschen auch das bescheidenste "Schlampampen", wie Leberecht Hühnchen es nennt, sich versagen, Verordnungen gegen Schlemmerei treffen also meist nur den Gastwirt, der Fremde neppt, mithin ein vaterländisches Werk tut. Für Deutschland wird dadurch nichts erspart. Im Gegenteil. Unter den guten Bekannten aus alter Zeit aber räumt der Hunger auf. In der vorigen Woche hat sich ein ehemaliger Major, der für Kaiser und Reich gekämpft und gelitten hat, erschossen. Er hatte keine Stellung mehr gefunden und bezog nur 9000 Mark monatlich Pension. Seine Gattin arbeitete in "besseren" Häusern als Waschfrau, da mit Klavier- und Sprachstunden nichts mehr zu machen ist. Im Abschiedsbrief des Majors an seine Frau steht der erschütternde Satz:

". . . damit Du fortan nur noch einen Menschen, Dich selbst, zu ernähren hast."

Diese vielen still Verendeten fallen in der Großstadt nicht auf. Das brausende Leben geht weiter. Augenblicklich scheint es ja so, als sei das große Besinnen gekommen, als fingen wir an, uns wieder als eine Nation zu fühlen, als trüge jeder des anderen Leid und als wollten es alle unseren fremden Würgern heimzahlen. Mit demselben Leichtsinn, mit dem 1918 die Waffen niedergelegt und für über fünf Milliarden Goldmark Heeresgüter von den zuchtlosen Horden, verworfen, verschoben, verschenkt, verklopft, verludert wurden, mit derselben großen Naivität sagt einem heute jeder Arbeiter sein: "Ja, wenn es mal gegen Frankreich geht..." Natürlich. Nichts einfacher als das. Mein ältester Junge, der Offizier geblieben ist, spricht mit einem Zivilisten, wie dies ja heute sich so häufig ergibt; die Uniform bedeutet plötzlich wieder etwas, und die Reichswehr, die bisher gut zehntausend Fehlstellen hatte, mußte am vorigen Montag die Listen für Neuaufnahmen schließen, da so viele Rekruten sich meldeten. Also der Zivilist geht zutraulich an den jungen Offizier heran und sagt: "Nichwa, jetz eenfach imma Marsch Marsch un fix ran, un denn den Franzosen die Kanonen wegnehmen un so bis zum Rhein, un denn hamwa schon 'ne janze Menge Artillerie!" Welch kindliches Gestammel. Es geht bei Nichtmilitärs bis in hohe politische Kreise hinein. Einer unserer Reichstags-Würdenträger kommt gerade von einem Besuch Hindenburgs aus Hannover zurück. Er hat den Feldmarschall - dringend, ganz dringend - gefragt, wie lange die Herstellung eines schweren Geschützes dauere. Er hat es garnicht fassen können, als Hindenburg ihm antwortete: "Fünfviertel Jahre!" und vor jeder Phantasterei warnte. Was Du von der Minute ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück. Wir sind durch die Revolution auf Menschenalter zerschlagen. Auch hilft uns niemand mit Geld oder Waffen aus, so lange wir - noch keine Nation mit Nationalgefühl sind. "Wenn wir Euch als unseren Degen benutzen wollten," sagte mir kürzlich ein englischer General, "wer bürgt uns denn dafür, daß Ihr Euch nicht wieder wie 1918 wegwerft?" Gewiß, es fängt hie und da schon an. Die Bayern sind in der Genesung am weitesten. Aber auch eine Erhebung dort - so sagen einsichtige Deutsche - käme heute viel zu früh und würde daher verpuffen, denn das übrige Deutschland hat sich noch nicht gewandelt, ist noch in dem Novembertum bis an den Hals verstrickt.

Wir müssen noch ganz anders gehämmert werden. Ich will mal ein Schulerlebnis aus einer norddeutschen Kleinstadt erzählen. Es ist zum Blaßwerden. In dieser Fabrikstadt mit ihrer fast durchweg roten Bevölkerung hält in der Grundschule am nationalen Trauertag der Lehrer eine flammende Rede. Spricht vom Einbruch der Franzosen und Belgier. Sagt, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei. Daß diese ganze Einbrecherbande einmal wieder das Laufen kriegen werde. "Und wenn es dann Krieg gibt, Jungens, wer von Euch möchte dann mit?" Von den 35 Kindern springen zwei auf, zwei Bürgersöhne; die 33 kleinen Proletarier bleiben verlegen sitzen. Nie wieder Krieg... Die Menschen sind alle Brüder... der Kapitalismus und der Militarismus müssen niedergerungen werden...

Es ist ein weiter Weg nicht nur bis Tipperary Noch viel weiter ist der Weg aus revolutionärer Wahnsinnsnacht bis zu gesunder Klarheit. Aber wir werden ihn eines Tages bis zum Ende gehen.
26. Januar 1923 (Freitag).


20

Roulette auf der Straße - Schlesische Lotterie - Tertianer kaufen Sachwerte - Ein Besuch auf der Fondsbörse - Nord-Südbahn - Ein alter Stammtischheros

Wo alles spielt, kanns Karl allein nicht lassen. Und wirklich, alles spielt. Es ist zwar nicht mehr so, wie in der Maienblüte der Revolution, vor jetzt genau vier Jahren, wo auf dem Potsdamer Platz lauter Tischchen, mit Leuten in Soldatenmantel und Wollschal als Bankhalter, die Bürgersteige entlang standen, auf denen man "Lustige Sieben" spielte oder knobelte oder im Roulette auf Nummern setzte. Zur selben Zeit wurde in der Wilhelmstraße noch geschossen. Nein, die Straße gehört wieder dem Verkehr. Aber in allen kleinen Kneipen wird gejeut. Der Händler-Karl hat um 7 Uhr abends seinen Kasten zusammengeklappt und wartet in dem Anhalter Keller auf seine Portion Kohlrüben mit Schweinebauch. Inzwischen deklamiert er mit größtem Pathos Freiligrath: auch der Arbeit am Schreibtisch sei nicht zu vergessen. Und dann:

"Reißt die Kreuze aus der Erden!
Alle sollen Schwerter werden!"

Gelangweilt blicken die paar Gäste drein; sie wissen nicht recht, ob Karl am Ende aktuell werden und auf die Einbrecher im Ruhrgebiet hinweisen will. Aber mit einem Mal steht ein "besser" gekleideter Herr auf, verlangt zwei Spiele Karten und eröffnet eine "Schlesische Lotterie": sofort ist das Interesse wach, das ganze Lokal sammelt sich um ihn, vereinzelte neue Gäste kommen und nehmen wie selbstverständlich am Spieltisch Platz. Eine große starke Frau aus dem Volke, die Markttasche am Arm, setzt gleichmütig wie ein alter Stammgast von Monte. Ein noch "besserer" Herr als der Bankhalter erscheint, setzt 100 Mark auf die Karte, 200 auf eine Karte quer, steigt allmählich bis zu Sätzen von 1000 Mark und sprengt endlich die Bank. Der Bankhalter schimpft, obwohl ich sehen kann, daß heimliche Genugtuung in seinen Augen aufglimmt; allzu fern wird ihm der noch bessere Herr sicher nicht stehen. Der Straßenhändler hat alles verloren. Aber Karl! Ja, nun flucht Karl. In der "verdammten Bude" habe er heute und gestern über 30 000 Mark gelassen, und so gehe es nun schon alle Tage.

Die Zahl solcher Verlierer ist Legion. Allabendlich an zehntausend Stellen in Berlin.

Man spielt, man spekuliert. Kein Stand, kein Lebensalter ist davon frei. Manch einer lacht, manch einer ist erschüttert, wenn er hört, wie das Übel sich schon in die Kinderstuben einfrißt. In einem westlichen Villenvorort eine gute alte Familie, akademisch gebildeter Mittelstand. Schmalhans ist Küchenmeister. Aber es geht gerade noch. Man kann den Buben, den drei Blondköpfen, die im Tertianeralter stehen, nicht mehr solche Dinge zum Christfest schenken, wie es früher wohl üblich war. Man unterrichtet sie darüber und gibt ihnen - gedankenlos, poesielos, fast möchte ich sagen, liebelos - Geld. Und was haben die Drei nun getan? Sie haben sich in aller Stille Mehl und Reis und Nudeln gekauft. Das setzen sie jetzt zu den gestiegenen Preisen an die Mutter wieder ab. "Man kann sich doch heute keine Papiermark mehr hinlegen!", haben sie oft genug gehört und daraus die Folgerung gezogen. Bekannte des Hauses lachen. Aber ein leiser Wehlaut schrillt hindurch.

Gewiß, die Großen legen sich auch keine Papiermark mehr hin, sondern kaufen sich, wenn sie gerade keine Sachanschaffungen machen, "einstweilen" Wertpapiere. Die Beamten, jene Festangestellten, die ihr Gehalt vierteljährlich bekommen, tragen es sofort zur Bank, um es in Aktien umzuwandeln, die dann je nach Bedarf wieder verkauft werden; für die laufenden regelmäßigen Ausgaben muß der allmonatliche Teuerungszuschuß herhalten. Sieh' da, sieh' da: sogar unser guter Pfarrer hat, wie er uns eben bekennt, bei sonstigen Entbehrungen so gehandelt. Der große Wunsch seines Lebens geht in Erfüllung. Er kauft sich für 650 000 Mark ein Harmonium. Woher er auf einmal das Geld habe? Je nun, - er habe zuerst einen alten Teppich, eine Perserbrücke, losgeschlagen, das Geld angelegt, "und nun sind Daimler Motor auf einmal so doll gestiegen!" Wo man auch hinhört, überall hört man ähnliches. Der große Segenspender ist heute die Börse. Ein preußischer Minister, Maybach, nannte sie einst einen Giftbaum, nur ist von den Vergifteten, Verdorbenen, Gestorbenen so selten die Rede. Die ihr alles verloren haben, die schweigen fein still. Nur, was der eine oder andere "gemacht" hat, das wird erzählt. Das ist nun freilich manchmal ganz putzig. Da besucht uns neulich eine Lehrerin, eine alte Jugendfreundin mit grauem Haarschopf, aber kindlich fröhlichem Gemüt, und berichtet, wie vor Jahr und Tag der alte Bankier, der Mann ihrer besten Schulkameradin, ihr "spaßeshalber ein Konto eröffnet habe", 200 000 Mark, und das nun für sie verwalte. Sie habe keinen Pfennig eingezahlt. Die 200 000 Mark sei sie immer noch schuldig. Aber alle Monate kriege sie eine Abrechnung über gekaufte und verkaufte Papiere, und allemal gebe es einen prächtigen Überschuß, der das letzte Mal sogar zu einer schönen Winterreise über die ganzen Weihnachtsferien gelangt habe. Solch' einen Bankier muß man allerdings haben! Den kriegen nur Sonntagskinder alle hundert Jahre. Wer keinen hat und auch kein Geld hat, der spekuliert heute wenigstens in Gedanken. Da sind ihm dann bald verschiedene Papiere ganz vertraut. Manchmal gibt er eines - theoretisch, immer nur theoretisch - auf und wendet sich einem anderen zu. Nach Monaten sieht er dann wieder im Kurszettel nach und feiert Wiedersehen mit alten Bekannten. Du liebe kleine "Ilse-Grube", was bist Du doch für ein stattliches Frauenzimmer geworden! Ich liebte Dich, rein platonisch, als Du 1700 galtst, und nun stehst Du 98 000!

Also, Herrschaften, solcher Art sind heute alle Gespräche in Berlin, in allen Städten und Städtchen des Reiches wohl nicht minder, und da muß ich mich wirklich mal aufmachen und persönlich in das Allerheiligste des Baalstempels gehen, zur Berliner Börse. Vor Jahren habe ich einmal in Amsterdam den gleichen Besuch gemacht. Da erstarrte ich in Ehrfurcht vor den feierlichen Mynheeren im Zylinder, die morgens erst ihren Genever nahmen und dann zur Börse schritten, um nach dem Befinden ihres Java-Kaffees zu sehen. In Berlin ist die Sache nicht so gemessen, sondern hastiger, erregter, unartikulierter. In diesem Baalstempel schreien nicht nur die Opfer wie wild, sondern vor allem alle die Priester und Ofenschürer und Tempelknaben. Kaum stehe ich in der Garderobe, wo 5000, 6000 Mäntel und Pelze dampfen, so dringt schon das verworrene Geräusch aus den Börsensälen herein, das noch ferne Gebrüll, und kaum habe ich den ersten Schritt hineingetan, so muß ich selber meinem Begleiter ins Ohr schreien, als säßen wir noch bei Motorengedonner im Fleugzeug, er mein "Emil", ich sein "Franz", und schon bin ich angerempelt, fast umgestoßen, denn überall hasten Leute, rufen, stieren irgendwohin, stürzen vor und beachten kein Hindernis. Man ist zunächst völlig benommen. Ist eine Horde Teufel los? Ist ein Viehzug entgleist? Bin ich unter den Verworfenen des jüngsten Gerichts? Da klammert sich mein Blick, wie der eines Ertrinkenden an eine Boje, an eine hoheitsvolle ruhige Gestalt. Unbekümmert wie ein Fels in der Brandung steht ein Bankdirektor da, wie ich höre, einer der Chefs des Hauses Delbrück, Schickler u. Co., ein wahrhaft königlicher Kaufmann, Durchzieher auf der Backe, im übrigen ein Typ, wie man ihn früher als Charaktermajor der Landwehr kannte. Die Dinge gewinnen Gestalt. Noch weiter, hie und da, sehe ich Leute, die Nerven von Stahldraht haben müssen, vollkommen ruhig sind, nur dabei in gleichmütig-maschineller Schnelligkeit ihre Arbeit erledigen. Rundum an den Wänden des Riesensaales sind die Kojen und Nischen der Bankhäuser. Da steht mitunter solch eine imponierende Erscheinung. Da sitzen Angestellte bis zu dem Jüngelchen von Lehrling herunter und sichten ihre Ordres. Kolossale Bündel von Telegrammen. Alle mit dem roten Klebezettel, alle "dringend". Spesen spielen ja bei so etwas keine Rolle. Wenn man hier im Gewoge der Milliarden gewesen ist, wundert man sich auch garnicht mehr, daß draußen in der Neuen Friedrichstraße eine so unabsehbare Reihe von Privatautos hält, wie man sie sonst in Berlin nicht einmal bei Caruso-Abenden vor dem Opernhause aufmarschiert sah. In der Mitte des Börsensaales stehen hinter den Schranken, rundum frei zu sehen, die Makler, an sie drängt sich die Menge der beichtenden Börsianer heran, die Aufträge werden entgegengenommen, die Kurse nach dem Ausgleich von Angebot und Nachfrage festgestellt: hier auf der niedrigen Estrade inmitten der Brandung des Geldhandels entscheiden sich unzählige Schicksale. Zwischen den Banken außen und den Kursmaklern innen aber fluten die Tausende der "zur Börse zugelassenen" Personen, die für fremde oder für eigene Rechnung Papiere kaufen oder verkaufen und dafür einen Kontrahenten suchen, - und man sucht, indem man seine Wünsche ausschreit.

"Acht drei Viertel Geld! Acht drei Viertel Geld!"

Es geht durch Mark und Bein, wie der Kerl neben mir - ich stehe jetzt im zweiten, dem Devisensaale - mit Stentorstimme das hinausbrüllt. Unaufhörlich. Gellend. Er schwitzt schon, er ist schon heiser, aber immer wieder stößt er den rechten Arm senkrecht in die Luft und brüllt wie am Spieße:

"Acht drei Viertel Geld! Acht drei Viertel Geld!"

Das bedeutet, daß er Dollars zu 48 750 Mark kaufen will. Aber nicht etwa einen oder zwei oder bestenfalls fünf Dollars, wie unsereins sie mal hat, wenn der Schandfleck der Familie, den man bis 1918 völlig vergessen hatte, aus Amerika, wo er inzwischen es zu etwas gebracht hat, uns sowas schickt. Nein, unter 1000 Dollars oder einem Vielfachen davon wird nicht gehandelt. Der Mann da hat also den Auftrag, für mindestens rund 48 Millionen Mark zu kaufen. Vielleicht schreit nun ein anderer:

"Neun ein Viertel Brief! Neun ein Viertel Brief!"

Und schwitzt auch und ist auch schon heiser und stößt auch den rechten Arm zum Zenith; dann finden sich die beiden und einigen sich entweder auf die Mitte oder nach oben oder unten; und wenn mehr Leute "Brief" rufen, so übersteigt das Angebot die Nachfrage und die Kurse geben nach, und wenn das "Geld"-Gebrüll allein die Oberhand hat, so ist die Börse fest, sehr fest, lebhaft, stürmisch, haussierend. Vielfach bedürfen die Partner keines Maklers. Ganz und garnicht im Saal der "unnotierten Werte", dem früheren Gartenhof der Börse, der jetzt überdacht ist, mit einem Tonnengewölbe aus Glas, in dem es ganz erschrecklich schallt. Ich denke, mir platzt das Trommelfell, als unmittelbar neben mir ein Mensch loslegt:

"Grade-Auto, wer handelt? Grade-Auto, wer handelt?"

Ein anderer brüllt "Nationalfilm", ein Dritter "Kabel Rheydt", ein vierter "Textilmeyer", immer mit der Frage: "Wer handelt?" Es ist ein tosender Höllenbreughel, ein stürzender Niagara von exaltiertem Geschrei. Eilferig, mit schnellen Stößen, gleitet hier einer und dort einer durch den Gischt und findet seinen Partner. Ein kurzes Verhandeln. Ein kurzes Notieren. "Gemacht!" Das geht auf Treu und Glauben, und kaum je werden Treu und Glauben getäuscht. Aber daß alle diese Leute nicht etwa "mühelos" sich ihr Geld erwerben, das ist einem schon nach ersten Minuten klar. Ich jedenfalls bedürfte, wenn ich - auch bloß als Zuhörer und Zuschauer - zu einer Woche Börsenpraxis verdammt wäre, hinterdrein sofort zweier Monate Erholungsurlaub. Merkwürdig, daß man immer noch keine andere Technik für den Geldhandel erfunden hat, als die des Schaubuden-Ausrufers auf dem Rummelplatz. Es ginge doch so schön lautlos mit elektrischen Schalttafeln, auf denen die Zahlen springen, und man könnte dabei ruhig im Sessel sitzen und brauchte nur auf die entsprechenden Knöpfe zu drücken. Aber der ganze ungeheure Lärm ist vielleicht für die Stimmung nötig. Sie wird durch den Lärm erzeugt, zum Mindesten beeinflußt; die Luft muß zittern, wo das Börsenspiel geht.

Aufatmend, im Kopf noch das Dröhnen, im Ohr noch den Fluch, den ein Erregter soeben über die "Sch....-Rombacherhütte" ausgestoßen hat, die wohl ein wenig gesunken ist, gewinne ich das Freie. Über die Friedrichsbrücke, dann die Linden entlang. Nun stehe ich vor der neuen Nordsüdbahn, die tags zuvor eröfnnet ist, steige in den Bauch der Erde und sause einmal die Strecke ab, die vorerst Hallesches Tor und Stettiner Bahnhof verbindet. Es ist ein technisches Wunderwerk, diese Untergrundlinie. Sie unterfährt nicht nur die bisherige Untergrundbahn, nicht nur - in Tuben - den Landwehrkanal und die Panke und die Spree, sondern geht auch durch das Wandermoor unter der Friedrichstadt. Dessen drängender Gewalt könnten keine Stahlwände widerstehen. So hat man denn die Tube in das schwimmende Moor mitten hinein gelagert: es wandert "drüber weg" und "drunter durch" von Ewigkeit zu Ewigkeit, und in der Tube, dem Schlauch aus Eisenbeton, donnern derweil ungefährdet die Züge. Die Bahnhöfe sind zeitgemäß, also einfach ausgestattet. Nichts mehr von den Kadiner Kacheln aus der kaiserlichen Bauzeit. Alles ist einfach weiß getüncht, nur die Kartenhäuschen und das übrige Drum und Dran farbig markiert, je nach dem Bahnhof, den man daran auch ohne Inschrift erkennt, blau oder gelb oder schwarz oder grün usw. Die neue Bahn, die die ganze lange, bisher durch Verkehrsmittel nicht verwöhnte Friedrichstraße unterfährt, war eine Notwendigkeit und rentiert sozusagen schon vom ersten Tage ab. Sie erschließt dem nach dem Westen abgewanderten Berliner wieder die Stätten seiner feuchtfröhlichen Jugend. Die Friedrichstraße, die in 251 Häusern einst 256 Gaststätten beherbergte, birgt doch für jeden, der einmal in Berlin "stand" oder "konditionierte" oder "studierte", eine Fülle von Erinnerungen. Nur wimmeln da heute natürlich ganz andere Leute herum. Viel Nachtschwärmer, kaum mehr Stammtischler. Ja, wenn im Klausner das Glas Pilsener heute schon 700 Mark kostet, muß man doch schon etliche Tausender zücken, um in den Zustand zu kommen, in dem man die schale Gegenwart vergißt. Und im Siechen, wo früher die Politiker der Rechten hausten, weiß man heute nichts mehr von ihnen. Waren das noch Zeiten! Von einem der unverwüstlichen Originale erzählte mir noch heute leuchtenden Auges ein alter Geheimrat. Dieses Original saß allabendlich da und ließ den dunklen Stoff in sich versinken.

"Und einmal, ein einziges Mal, war er ganz nüchtern, und da erschrak er so und dachte, er sei besoffen!"
1. Februar 1923 (Donnerstag).


21

Polizeistunde - Gegen den Alkohol - Die vier Lebensalter - Unsere "Uböter" - Graf Luckners Vorträge - Das Kätchen von Heilbronn - Haddock und Kippers - Königliches oder Staatliches Schauspielhaus?

Die Reiselust schwillt scheinbar ins Ungeheure. Sämtliche Wartesäle der Berliner Bahnhöfe sind nämlich allabendlich nach 11 Uhr von einer gewaltigen Menschenmenge erfüllt. Man ist sogar bereit, sich eine wirkliche Fahrkarte zu kaufen, wenn davon die Berechtigung abhängig gemacht wird, daß man sich ein Glas Bier geben lassen darf. Einträchtig und verschmitzt sitzt und steht man in den knüppelvollen Räumen beieinander und trinkt immer noch eins. Die Bahnhofsrestaurateure machen blendende Geschäfte, derweil für alle anderen Berliner Gastwirte um 11 Uhr - die Polizeistunde gilt.

Auch für die Inhaber von Privatpensionen ist goldene Entezeit angebrochen. Man kann es doch seinen Mietern nicht verwehren, daß sie so lange aufbleiben, wie es ihnen paßt, und wenn sie nicht trocken dasitzen wollen, ist es auch ihre Sache. Also mietest Du Dich für den Tag "mit voller Pension" ein, was heute in den besseren Stadtgegenden rund 10 000 Mark kostet, und läßt Dich von Kind und Kegel und sonstigen Zechkumpanen begleiten, um vorerst mit ihnen in dem gemeinsamen Gastraum "Abschied zu feiern". Wenn man nachher, so um 1 Uhr herum, eingetretener anderer Dispositionen halber auf sein Zimmer verzichtet, nimmt der Herbergsvater es einem nicht übel. Diese Konkurrenz macht natürlich auch die Wirte der gewöhnlichen kleinen Kneipen wild. I, da soll doch! Also um 11 Uhr rasseln die Rolljalousien herunter, aber im Honoratiorenstübchen bleibt alles sitzen. Selbst wenn sie, wie ich in zwei Fällen vergnüglich feststellen konnte, Landgerichtsdirektoren und Mitglieder des hohen Reichstages sind, pfeifen die Herren auf die Verordnung des Ministers Severing, daß um 11 Uhr allgemeiner Gurgelschluß sei. In den Arbeitervierteln macht man es nicht anders. Die behördlich anbefohlene Trübsal, die unsere sozialdemokratischen Staatsregenten ausgeheckt haben, wird als heuchlerisch und nicht zeitgemäß abgelehnt, und keine Polizei der Welt ist zahlreich genug, um dem Gesetze Achtung zu verschaffen. Im Gegenteil: das Verbot reizt. In der Nacht zum vorigen Sonntag habe ich Berlin N. durchstreift, bis 2 Uhr, wo es sonst schon totenstill in dieser Gegend zu sein pflegt; aber noch nie sah ich so viele Angeheiterte. Die Verordnung hat also das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht.

Man will aber noch weiter gehen. Der Entwurf des neuen Schankstättengesetzes schreibt vor, in den Gemeinden, wo die Mehrheit der Einwohner sich dafür erklärt, ein vollkommenes Alkoholverbot einzuführen. Das kann ja lustig werden. In den Vereinigten Staaten ist das Verbot allgemein, aber getrunken wird dort mehr denn je, und in der letzten Neujahrsnacht war es so arg, daß in der fünften Avenue in Newyork aus den hell erleuchteten geöffneten Fenstern die leeren Brandyflaschen den Polizisten auf der Straße an die Köpfe geworfen wurden. Trunkenheit und Kriminalität von Trunkenen haben drüben erschreckend zugenommen. Das ist aber doch nicht der Zweck der Übung. Das blöde Reglementieren nützt nichts. Mit demselben Mißerfolg könnte man behördlich auch etwa anordnen, daß die Fortpflanzunmg des Menschengeschlechts fortan nur noch auf dem Wege künstlicher Befruchtung erfolgen dürfe, da das bisher übliche Verfahren schon unsägliches Leid über die Menschheit gebracht habe. Nein, so kommt man dem Würger Alkohol nicht bei. Kein mäßiger Genuß verdirbt; ruinieren kann man sich aber auch durch Kaffee. Und wenn ich hundert empörte Briefe von Alkoholgegnern, die es natürlich schon seit Vater Noahs Zeiten gibt, bekäme, so würde ich mich in meiner persönlichen Ansicht nicht beirren lassen, daß der Deutsche immer noch, wie Bismarck gesagt hat, "eine halbe Flasche Sekt zu wenig im Leibe" habe. In den Lebenserinnerungen des Pfarrers Karl Jentsch, des bekannten Kämpfers aus dem katholischen Lager gegen Roms Unfehlbarkeit, finde ich zu diesem Thema eine hübsche Stelle. Der Mann war gewiß kein "Alkoholiker", sondern bei allem sprühenden Geist ein mäßiger Trinker, und doch erzählt er mit behaglicher Zustimmung:

"Jedes Alter," sagte ein alter frommer Gymnasiallehrer, wenn er sein Schöppli trank, "soll das trinken, was ihm zukommt: Das Kind Milch, der Jüngling Bier, der Mann Wein, der Greis Schnaps; mit der abnehmenden natürlichen Wärme muß natürlicherweise die künstliche Wärmezufuhr steigen."

Dann habe ich - zu meiner Schande muß ich's gestehen - schon oft, auch noch in letzter Zeit, binnen wenigen Stunden alle Stadien hindurch mich rückwärts entwickelt. Als Greis fing ich an; zu der schwedischen Schüssel als Vorspeise bei festlichem Gastmahl nahm ich einen kleinen Allasch, der ein unzweifelhafter Schnaps ist. Zum Mann gedieh ich dann bei einem 1921er guten Pfälzer Wein, der mir kluge Männergespräche eingab, die schließlich durch einen perlenden Kelch Schaumwein sich ins Dionysische erhoben. War es meine Tischdame, die mich nun in einen Jüngling verwandelte, oder war es etwas anderes, ich genehmigte wahrhaftig nach Tisch noch ein Gläschen hellen Bieres. Und goß mir dann, ganz zum Kinde geworden, reichlich Sahne in die Mokkatasse. Solche Verjüngungen kann man sich nun leider nicht mehr allzu häufig leisten. Es ist wahr, wir vergreisen in der Not der Zeit. In der Zunahme der Likördielen sehen wir es deutlich. Die jungen Leute, die dort allabendlich verkehren, tragen hippokratische Züge im fahlen Angesicht.

Aber, Schockschwerebrett, wer wollte deshalb das Weinwunder von der Hochzeit zu Kana aus der Bibel ausmerzen? "Der Wein erfreut des Menschen Herz." Gewiß, manchmal macht er ihm den Kopf auch toll. Während des Krieges war ich einmal auf kurze Zeit, zwischen Frontkämpfen im Osten und Westen, nach Helgoland zu den Marinefliegern kommandiert. Unser Kasino stand im Hafen. Wenn dann die "Uböter" von langer Fahrt zurückkehrten, mit neuer Versenkungsziffer und mit netten kleinen Beutestücken, die damals schon eine Kostbarkeit waren, etwa englischer Rasierseife, so gingen sie nicht erst ins allgemeine Oberland-Kasino, sondern fielen bei uns ein. Sie hatten wochenlang knapp gelebt, tagelang vielleicht nur vom "U-Boot-Diner", vulgo Schmalzstulle, und nun, heidi, wurde mal aufgetaut. So ein Prachtkerl von jungem Kapitänleutnant begoß sich dann wohl auch mit uns die Nase, und morgens um 3 Uhr wurde dann ein Diskuswerfen mit Grammophonplatten nach der Wanduhr veranstaltet. Immerhin: die Leute waren gerade tausend Toden entronnen. Und wir, die Gastgeber, wurden deswegen nicht nachlässig im Dienst, saßen um 5 Uhr morgens wieder in der "Kiste" und streiften hoch in der Luft im Aufklärungsfluge unsere Strecke ab. Von den Vieren, die damals hinkommandiert waren, lebe nur noch ich. Der eine zerschellte nach einem sogenannten Kavaliersstart. Der zweite wurde in der Flandernschlacht abgeschossen. Der Dritte stürzte brennend über London ab. Wer wollte ihnen das bißchen Lebenslust mißgönnen, das sie damals, 1917, noch mitgenommen haben?

Mir kommt diese Erinnerung heute, wo ich gerade einen Menschen von strotzendstem, saftigstem Leben gehört habe, den Grafen Luckner, den "Seeteufel", dessen begeisterndes Buch einst noch eine neue Jugend bei uns zu Taten entflammen wird. Der war auch kein Kostverächter. Aber nicht einmal die 350 Kisten Champagner, die er von seiner ersten Prise übernahm, haben ihm etwas geschadet. Da steht dieser Kerl, Halsweite 43, Handgelenkweite nicht viel weniger, Stiernacken, Oberarm des alten Meisterschaftsringers von St.Pauli, vor uns und zwinkert mit den Augen und erzählt, nicht immer ganz hochdeutsch, in dem schönsten Grogbaß vom großen deutschen Wunder, das auch seine Segelfahrt während des Krieges war. Er hat schon überall im Reiche, auch in Norwegen und anderswo im Auslande, diese Vorträge gehalten und aller Welt klar gemacht, wie der rechte Deutsche nicht totzukriegen sei, und nun füllen sich auch in Berlin allwöchentlich zwei- bis dreimal die größten Säle, und hingerissen, zwischen Lachen und Weinen, lauscht man diesem hohen Liede deutscher Männlichkeit. Luckner ist die erklärte Schwärmerei unserer Berliner Buben und Mädel aus den Kreisen, in denen man die Freude am Heldentum noch nicht in Acht und Bann getan hat. Nur eine Enttäuschung erlebt diese Jugend: ihr Held ist Privatmann, gehört nicht mehr der Marine an, in der er zuletzt das kleine Schulschiff kommandierte, das, wie einst die alte "Niobe", wieder mit dem Segelhandwerk den Nachwuchs beginnen ließ. Ach, Kinder, seid doch zufrieden! Der Mann hat, so jung er auch noch ist, sein eigentliches Lebenswerk doch hinter sich, ist nun mal auch eine Extra-Nummer, die nicht überallhin paßt; und wenn er den Rest seines Daseins nur damit ausfüllt, von der Fahrt seines "Seeadlers" zu erzählen, so tut er damit das Beste, was er für Deutschland überhaupt tun kann.

Denn vielleicht ist die Zeit, die wieder todbereite Männer verlangt, näher, als wir ahnen. Trotz aller Versuche unserer Behörden, nur die Männer berühmt zu machen, die im Klassenkampfe Führer waren. Allen großberliner Bezirken voran marschiert hier Berlin-Treptow, das nicht nur den sozialdemokratischen Ruderklub "Vorwärts" beherbergt, sondern auch die frühere Residenz unseres jetzigen Landesvaters Ebert war. Berlin-Treptow tauft seine Straßen um. Berlin-Treptow benennt sie nach Marx, Singer, Frank und anderen politischen Größen unzweifelhaft nichtdeutscher Herkunft. Die Bismarckstraße wird sogar zu einer Stadthagenstraße, obgleich nachgerade auch die Arbeiterschaft es weiß, daß der Abgeordnete Stadthagen seiner Zeit aus dem Anwaltsstande ausgestoßen wurde, weil er Honorarwucher trieb, über die verordneten Gebührensätze hinausging, und zwar unter allerlei erschwerenden Umständen gegenüber proletarischer Kundschaft. Auch Goethe, Schiller, Arndt, Körner, Fontane haben keine Gnade vor den Augen der Wiedertäufer gefunden. Und der deutsche Physiker Helmholtz muß auf dem Straßenschildchen dem Italiener Marconi weichen. Das ist geradezu eine Seuche, die jetzt durch ganz Deutschland geht; Berlin natürlich in Deutschland voran, Berlin-Treptow in Berlin voran. Dazu knallt die Hundepeitsche am Rhein und an der Ruhr. Dazu spielen unsere Theater französische Schmarren.

Aber hie und da beginnt doch die Ermannung. Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, daß endlich - endlich - das Staatliche, früher Königliche Schauspielhaus in Berlin eine "Tell"- Aufführung vorbereitet, die doch sogar das Wiesbadener Staatstheater - unter feindlichen Bajonetten - in das Publikum hinein gejubelt und geschluchzt hat. Und auch sonst wird alt-gutdeutsches ausgegraben, weichen diesen Schätzen hie und da die modernen Problemstücke und die undeutschen Sexualaffären. Unser Schauspielhaus läßt jetzt Kleists "Kätchen von Heilbronn" wie ein holdseliges Wunder vor uns erblühen. Da sitzen unsere mit allen Wassern gewaschenen, mit allen Salben geriebenen, mit allen Hunden gehetzten jungen Mädchen von 1923 im Parkett und in den Rängen - und schämen sich, nicht so zu sein, wie die märchenhafte Unschuld da vorn auf der Bühne, und schämen sich nicht ihrer Tränen und ihres Jubels, ihres ganzen Miterlebens mit diesem Kätchen, der schönsten Blume der deutschen Romantik. Lucie Mannheim spielt, das kleine schwarzhaarige Ding. Als Pfarrer Bangs Tochter in Björnsons "Über unsere Kraft" sah ich sie auf Kayßlers Volksbühne, als die junge Kranke in "Hanneles Himmelfahrt" von Gerhart Hauptmann habe ich sie wohl nur geträumt. Nichts äußeres an ihr ist typisch deutsch; garnichts. Auf keinen kitschigen Öldruck würde sie passen. Diese Heilbronner Schwertfegerstochter hat ja nicht einmal einen blonden Lockenkopf, sondern schlicht gescheiteltes dunkles Haar über der niedrigen Stirn, einen unschönen Mund, eine dürftige kleine Gestalt. Ein Dingelchen. Wirklich, ein Dingelchen. Aber wie glaubt man diesem Mädchen! Ihr erdentrücktes Traumwandeln, ihre völlige Hingabe in dienender Demut, ihr kindlich unschuldvolles Stammeln ist von einer hinreißenden stillen Gewalt, von einem betörenden Liebreiz. Auch "Er, der Herrlichste von Allen", Friedrich Wetter Graf vom Strahl, von Karl Ebert in reiner und edler Männlichkeit verkörpert, paßt wundervoll in das große Bild aus herbsüßer deutscher Vergangenheit. So etwas zauberhaft Schönes wie diese Aufführung haben wir seit der ersten Reinhardt-Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" im Deutschen Theater nicht mehr erlebt. Den zweiten Auftritt des letzten Aktes, den platt erklärenden Monolog des Kaisers, der das Märchenhafte etwas zu derb zerreißt, sollte man noch fortlassen, - dann ist es ein Festtag für das ganze deutsche Haus, dann hat man endlich - endlich - eine Aufführung, in die man frohbewegt auch seine jungen Töchter mitnehmen kann. Hier ist kein Textbuch, keine Erklärung nötig; ja nicht einmal - ein literarischer Standpunkt. Wie leiser Orgelton schweben in der andächtigen Stille Lucie Mannheims Worte durch den Raum. Die lieben und die wehen Worte. Auch das Hauchzarte hat Umriß und Gestalt. Und nun gar die Szene unter dem Hollunderbusch, das ist so leibhaftige Poesie, wie sie wirklich nur einem deutschen Dichter offenbar werden konnte. Die Amüsierfremden in Berlin verstehen das nicht. Den Duft dieser Reinheit atmen sie nicht ein. Sie drängen sich nicht zu dieser Vorstellung. Man ist endlich einmal - man denke, in Berlin - unter sich. Deutsche sitzen neben Deutschen. Ein großer starker Mann hinter mir lacht. Lacht ganz unnatürlich. Er will - nur sein Schluchzen verbergen.

Ein holländischer Bekannter, dem Deutschland so vertraut ist wie die eigene Heimat, ist allerdings auch da und stellt mich nachher im Foyer. Er sei, sagt er, hergekommen, hier in das Schauspielhaus zu Kleists romantischem Ritterstück, um ganz unter Deutschen zu sein. Sonst sehe er sie nicht mehr. Was er früher unter guten Deutschen verstanden, das verberge sich jetzt daheim. Und nun gar erst die "Deutschen" im Auslande! Die seien hypermodern und überluxuriös, sodaß auch der Holländer daran Anstoß nehme. Wenn in Amsterdam der Vertreter der Dresdener Bank, Herr Guttmann, sich täglich zu seinem ersten Frühstück aus London mit dem Flugzeug - jawohl, mit dem Flugzeug - noch warme frischgeräucherte Fische kommen lasse, Haddock und Kippers, um wie eben ein Londoner Gentleman frühstücken zu können, so könnte es mit der deutschen Not doch noch nicht so schlimm sein, sage man in Amsterdam. Und in Berlin selbst, da gehe ja Deutsches und Undeutsches drunter und drüber. Man tanze Shimmy auf dem Vulkan. Man miete Taxameterdroschken als nächtliche Stundenhotels. Man verjubele Millionen in fremder Gesellschaft. Aber der bescheidene Kleinbürger werde abends um 11 Uhr aus der einfachsten Schenke verjagt. Augenverblendung, nichts als Augenverblendung. Vor dem Auseinandergehen erzählt mir der Amsterdamer Doktor noch schnell, wie er ins Theater gekommen ist. An der Haltestelle der Straßenbahn habe er den Schaffner gefragt:

"Fahren Sie zum Königlichen Schauspielhaus?"

"Nee, Sie meinen wohl das Staatliche Schauspielhaus?"

"Königliches Schauspielhaus?"

"Nee, Staatliches!"

Der Holländer, der endlich begreift, steigt auf, und hört, wie nun ein einfacher Arbeiter dem Schaffner, den er offenbar kennt, mißbilligend bemerkt:

"Laß doch den Herrn det Königliche. Du heeßt doch Lehmann. So biste von Dein Vater geboren. Und wenn de Regierung ooch befiehlt, nennen wir Dir doch ooch nich uff eenmal Warschauer oder so."
8. Februar 1923 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts