"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 13 - 15
14. bis 28. Dezember 1922


13

Razzia am Zoo - Weihnachtsmarkt - Der Sieg des Dezimalsystems - Arme reiche Kinder - Unsere ehemaligen Exzellenzen - Klante vor Gericht - Die Adventspredigt des Deutschamerikaners

Wer gestern den Wartesaal des Bahnhofs Zoologischer Garten in später Abendstunde betrat, der erlebte ein Wunder. Man sah - wirkliche Original-Fernreisende!

Die waren in den letzten Monaten in der Masse der nichtreisenden Besucher dieser Gaststätte völlig verkrümelt. Erblickte man einmal einen Menschen, neben dem ein Koffer stand, so sagte man sich: aha, das ist ein Taschenklemmer, der stülpt seinen in Wahrheit bodenlosen Koffer im nächsten Augenblick über irgend eine auf der Diele stehende Handtasche, klemmt sie mit seiner Kofferzange und geht unauffällig davon. Solcher Art waren viele Nachtgäste. Daneben viel Valuta und viel Spanner, die einem "scharfe Sachen" versprachen, wenn man sich ihrer Führung anvertraue. Das müssen wirklich schon sehr scharfe Sachen sein, denn in unseren Tagen der republikanischen Sittenstrenge, wo eine Berliner Zeitung öffentlich mitteilt, daß auf dem nächsten Filmball ein Star nur mit Hut und Schleier und Rosenranke um die Hüften bekleidet auftreten werde, ist man doch sehr abgebrüht. Selbstverständlich konnte man auch seinen Tagesbedarf an Kokain in dem Wartesaal decken; und es wurde viel und gut gegessen und getrunken, bis tief in die Nacht hinein. Balkanische Düfte - Centifolien und Knoblauch gemischt - durchzogen den anthropingeschwängerten Raum, in dem alle in Berlin vertretenen Völker sich ein Stelldichein gaben; sogar den sicher nördlichsten Gast habe ich dort getroffen, den jungen isländischen Studenten Haage aus Reykjavik, den Sohn eines Schauspielers, einen genügend mit dänischen Kronen gespickten jungen Mann, der hier dauernd in einer vergnügten Polarnacht lebte, und auch den jungen Chinesen - den Namen habe ich inzwischen vergessen - konnte man da sehen, der seiner eigenen Traurigkeit entrinnen wollte und sich dieser Tage dann doch das Leben nahm, weil ein deutsches Mädchen, das er durchaus zu heiraten wünschte, ihn nicht erhörte. Also es war das reine Völkerkundemuseum. Nur nicht so mumienhaft steif, sondern ganz im Gegenteil quicklebendig, überlebendig, ein Hauptanziehungspunkt für nächtliche Ausgelassenheit, für Gelegenheitsmacher, für Verbrecher, und die letzte Hoffnung für die fahrbereiten, stundenlang fahrbereiten Autokutscher der Gegend am Zoo, die bei den heutigen schlechten Zeiten und der 800fachen Taxe III zunächst gemütlich zu sagen pflegen: "Also 'nen Tausender Trinkgeld un denn noch die Taxe, sonst flick ick erst mein Benzinrohr!"

Das ist nun alles auf einmal zu Ende. Man sieht ein paar gähnende Kellner und wirkliche Original-Fernreisende, der ganze Trubel aber ist zerstoben. Eine plötzliche Polizeistreife mit starker Aushebung in dem Wartesaal - das weiße Kokainpulver stäubte aus allen Schnupfdöschen - hat den "Alex" bevölkert und dem Amüsierpublikum die Lust an diesem Versammlungsort für eine Weile verdorben.

"Also dann prost Fest!", sagen geknickt die zwischen zwei und drei Uhr nachts heimlos Gewordenen und stampfen weiter. Sie mögen das Christfest nicht. Toller als je betreiben sie das "Sichausleben" in der Weihnachtswoche, um die kleinen Nagegeister in der Seele zu übertäuben, die gerade in dieser Zeit die alte Sentimentalität aus Kinderland bloßlegen. Manch einer schreit die innere Sehnsucht so nieder. Da taucht das Bild einer verschneiten Kleinstadt auf, man steht in Gedanken wieder auf dem Weihnachtsmarkt, mit ein paar Pfennigen in der Tasche, und sucht sich seinen Niklas aus, den Reiter aus Zwiebackteig mit Rosinenaugen. Er stammt noch aus halbheidnischer, urchristlicher Zeit, wo man den wilden Jäger auf stürmendem Roß, Wotan, meinte, aber den Bischof St. Nikolaus nannte, den Kinderfreund, nach dem noch heute fast die Hälfte aller russischen Neugeborenen ihren Taufnamen erhält. In Berliner älteren Bäckereien ist der Niklas noch zu haben. Aus dem Straßenhandel in der Weihnachtszeit ist er verschwunden. Auch viele andere Leckereien. Und das Puppenservice für 15 und der Hampelmann für 5 Pfennige und der automatische Blechstelzer für einen Groschen. Die Kinder von heute wissen garnicht mehr, was ein "Sechser" ist oder gar ein "Dreier", Bezeichnungen, die für 5 und 2 Pfennige noch immer gang und gäbe waren, weil das Volk in Gedanken noch nicht im Dezimalsystem, sondern im altdeutschen Dutzendsystem rechnete. Die Geldentwertung nach der Revolution hat mit allem aufgeräumt, ein "Schock" oder eine "Mandel" Eier kauft doch kein Mensch mehr, allenfalls 10 Stück, wenn es hoch kommt; und auch das Viertelpfund weicht immer mehr den rapide aufkommenden 100 Gramm, kurz, das Dezimalsystem siegt. Auf den wenigen Resten von Weihnachtsmarkt in Berlin aber, unter den Schirmen - denn Lattenbuden gibt es auch kaum mehr - finden die Kinder fast nichts mehr für sich. Ja, Gummiabsätze in Massen; und sogenannte gemauerte Schlipse; und Schleifsteine und Porzellankitt und Gummikragen. Davon wird kein Jungenherz warm.

Mit ganz wenigen Ausnahmen muß die junge Welt das große Sichbescheiden schon frühzeitig lernen. Die Holzschnitte aus den Volkskalendern der guten alten Zeit, wo das "arme" Kind verlangend in irgend eine strahlende Herrlichkeit sah, gelten heute doch auch für das "reiche" Kind, - wenigstens, was der Handarbeiter so in seinem Sinne reich nennt: wo der Vater einen vier Meter langen und drei Meter hohen Schragen voll Bücher besitzt. Gewiß, auch nur als Altpapier geschätzt, hat das heute einen großen Wert. Aber wir Besitzer von Büchern, Schreibtischen, Ledermappen und Füllfederhaltern können unseren Kindern doch nicht mehr so wie früher ein Taschengeld geben, das ihnen ermöglicht, sich täglich auf der Eisbahn eine "Schnecke" oder einen "Warschauer" oder gar einen Berliner Pfannkuchen zu leisten. Und eine Tafel Schokolade wird viel gleichmütiger in Berlin N. gekauft als in den Wohnvierteln der Kopfarbeiter. Mancher ehemalige hohe Staatsbeamte ißt heute beschgeidener als ein Landarbeiter. Der greise frühere Handelsminister Frhr. v.Berlepsch, Klostergut Seebach in Thüringen, kann sich mit seiner Familie nur Sonntags Fleisch gönnen, ißt wochentags nur zusammengekochtes Gemüse, also Feldküche ohne Fleisch, Gulaschkanone ohne Gulasch. Ähnliches habe ich bei vielen alten Exzellenzen festgestellt. Einige wenige, so der unverwüstliche alte Innenminister Mathias v.Köller, dessen weißhaarige Frau noch heute den Eindruck eines blonden jungen Mädchens macht, leben noch gut, aber sie gehen sozusagen mit wehender Fahne unter: sie "verkloppen" ein Wertstück nach dem anderen. Mein alter Regimentskommandeur - Gott grüße ihn - haust als General a.D. in einem kleinen Bergstädtchen und steht morgens um 5 Uhr auf, um Reisig aus dem Walde zu holen und den dienstbotenlosen kleinen Haushalt für die kranke Frau nachher in Ordnung zu bringen. Das sind aber noch Leute mit verhältnismäßig hoher Pension. Sonst, im akademisch gebildeten Mittelstand, noch mehr als anderswo gerade in Berlin, ist die Not im Wachsen. Langsam greift sie jetzt auch nach dem gewerblichen und kaufmännischen Mittelstande. In den kleinen Schuhläden der Reichshauptstadt findet man jetzt nur noch Filzpantoffeln, Schnürsenkel, Turnschuhe, Wichse, aber keine Lederstiefel mehr, weil das Betriebskapital dafür nicht zu erschwingen ist. Das Publikum, das noch kaufen kann, hat im Oktober und November gekauft. Jetzt braucht man all sein Geld für Lebensmittel. Das Weihnachtsgeschäft wird diesmal so mäßig wie schon seit Jahren nicht. In der Großstadt merkt man den Rückgang der Konjunktur noch am ehesten. Viele selbständige Existenzen müssen den Kampf aufgeben und Lohnempfänger werden; namentlich in der Holzbranche hat es noch nie so viel Tischlergesellen gegeben, die bisher Meister waren, nun aber froh sind, in einer Fabrikwerkstatt gegen Tagelohn unterzukommen.

Sie alle haben es noch im vorigen Jahre versucht, schnell reich zu werden. Märchenhaft reich. Wenn man bei Klantes Wettkonzern 1000 Mark einlegte und sie 4 Jahre lang da liegen ließ, sollten ja 3,9 Milliarden daraus werden. O, es sind sehr kluge Leute gewesen, die darauf hereinfielen. Richtige Geheimräte. Noch geheimere Räte. Aber in der großen Masse doch "Volk", Handwerker, Arbeiter, Leser der sozialistischen Presse. Denen war immer vorgeredet worden, wie mühelos der Kapitalist sein Geld zusammenspekuliere. Ganz ohne Arbeit. Nichts einfacher als das. Und nun kam ein "Mann aus dem Volke", ein Wackerer, eben dieser Klante, der noch vor Jahr und Tag Zeitungen in Wind und Wetter nachts an den Straßenecken verkauft hatte, und sagte: "Das könnt Ihr auch haben!" Er habe den Trick, er kenne den Rummel. In einem Monat 100 Prozent Dividende nach unfehlbarem System! Jetzt sitzt das schmächtige Kerlchen auf der Arme-Sünder-Bank in Moabit. Kein ganzer Kerl, kein großer Hallunke, sondern ein kleiner Spekulant auf die von der roten Parteipresse großgezogene Dummheit der großen Masse. Mühelos Geld verdienen! Wie die Kapitalisten! Heute ist auch der Arbeiter helle! Mancher Arbeiter glaubt auch heute noch felsenfest an seinen "Maxe", an diesen Max Klante, der vor Gericht mit Sportausdrücken um sich wirft, aber noch nicht einmal das Wort Steepler richtig auszusprechen vermag, der "Schteppler" statt "Stiepler" sagt und mit sichtlicher Anstrengung, hektische Flecken auf den Wangen, seine Verteidigung führt, da er kein urteilsloses Massenpublikum mehr vor sich hat, sondern kühl auf den Grund gehende Richter.

Bei seinem Fischzug unter den Dummen ist ihm natürlich die Begeisterung der Großstädter für den Rennsport zu Hilfe gekommen. Auch das, wird man vielleicht bald sagen können, war einmal. Renntage werden zusammengelegt, Jährlingsställe ausverkauft. Selbst für polnische Mark gehen gute Galoppferde ins Ausland. Kürzlich hat sich der Nestor der Berliner Trainer, Johnson in Hoppegarten, erschossen, ein Greis von 73 Jahren. Er vermochte den furchtbaren Niedergang des Rennsports in unserem verarmenden Volke nicht zu überleben; sein Stall, einst der hervorragendsten einer, war in den letzten Monaten fast leer.

Hie und da regt sich tätige Hilfe bei gerade Versinkenden. Jetzt vor Weihnachten mehr denn je. Alle germanischen Völker und besonders eifrig auch die Finnländer spenden. Ein Deutsch-Amerikaner, der Millionen, viele Millionen hergebracht hat, rüstet sich zur Heimfahrt. Mit behutsamer Sorgfalt schenkt unser freundlicher Wirt aus den beiden Flaschen ein, die er eben auf den Tisch gestellt hat, den letzten ihres Stammes aus Bordeaux, der wahren Milch für alte Knaben. Es ist eine Weile still. Abschied. Da reckt unser Amerika-Landsmann den Kopf vor, sieht an uns vorbei wie in unbekannnte Ferne und spricht. Zuerst langsam, dann in steigender Erregung. Eine Weihnachtspredigt voll starker Eindringlichkeit.

"Als man uns den Krieg auf den Hals hetzte, waren wir Deutsch-Amerikaner in größter Not. Von der Infamie, mit der unsere Anhänglichkeit an Deutschland totgeschlagen werden sollte, habt Ihr ja keine Ahnung. Wir kamen, sobald wir konnten, herüber, um zu helfen. Wir waren überzeugt, es müsse hier so sein wie bei uns, daß jeder den festen Willen habe, sich wieder aufzurichten. Wir kamen mit vielen Millionen und mit riesigen Illusionen. Jetzt sind wir ernüchtert und gleichgültig. Wir wissen zwar, wie schauerlich es um Eure armen Alten steht und um so manchen geistigen Arbeiter, wir predigen auch garnicht Selbstkasteiung, wir lieben Fröhlichkeit und einen guten Becher, wir sind keine angelsächsischen Prohibitionisten, aber das geht uns doch allen über die Hutschnur, was wir hier von vielen Frauen und Mädchen sehen. In allen Großstädten eine Ungeniertheit leichtgekleiderter Damen in den öffentlichen Lokalen, die schon früher unerhört gewesen wäre, und jetzt seid Ihr doch ein zerbrochenes Volk. Wie sie ihre Zigaretten rauchen, wie sie tanzen, wie sie in den Schnapsdielen teuere Liköre herunterschütten, wie alles nur auf Genießen geht! Das sind aber nicht etwa Frauen und Mädchen aus Kapitalisten- und Schieberkreisen, das ist zum größten Teile echtestes Volk, Kinder aus dem Kleinbürger- und Arbeiterstande, die irgendwo eine Bureaustellung haben. Die deutschfeindliche Presse weist mit Fingern darauf hin. Wir meinen garnicht die weiße Schmach in den Rheinlanden, wo einzelne Eurer Töchter sich um ein paar Seidenstrümpfe oder etliche Tafeln Schokolade an fremde Unterdrücker wegwerfen, wir meinen auch nicht notorische Dirnen in Berlin oder Hamburg oder München oder sonstwo. Wir meinen Eure vor der Revolution noch so ehrsamen Frauen und Mädchen bescheidener Herkunft, die heute viel Papiergeld in die Hände kriegen. Ihr seid leichtsinnig. Gut, so ist Euch nicht zu helfen. Daß Ihr so seid, ist vielleicht Unwissenheit. Ihr ahnt ja nicht, was man mit Euch vorhat, - alles, was geschehen ist, ist doch nur erst der Anfang!"

Das ist unsere diesjährige Adventspredigt gewesen. Heimlich betaste ich mein Gewissen. Also ich werde meinen Töchtern zu Weihnachten keine seidenen Jumper schenken.

Ich glaube, sie haben schon welche.
14. Dezember 1922 (Donnerstag).


14

O Tannenbaum, o Tannenbaum! - Mein kleiner Freund Franz - Goldstücke im Lumpenkeller - "Du hast ja noch . . ." - Die Rotkäppchen-Flaschen - Tilla Durieux als Hedda Gabler - Die dummen Männer

Der Zinnsoldat, der Lebkuchen, die Puppe und das Marzipanherz sind deutsche Weltreisende geblieben und begegnen einander jetzt zu Weihnachten in allen Erdteilen. Man hat sie während der Kriegsjahre überall so sehr vermißt. Der Teddybär und der Plumpudding genügen nicht; und die Nachahmungen der deutschen Erzeugnisse waren schlecht, erbärmlich schlecht. Auch unsere Weihnachtssitten gewinnen immer mehr Boden. Selbst in dem angelsächsischen Amerika ist schon seit langen Jahren der Christbaum viel verbreiteter als der Mistelzweig. In Newyork steht alljährlich am Madison Square und noch an fünf anderen Stellen der Riesenstadt eine Tanne von über 20 Metern Höhe, über und über mit Tausenden von (leider bunten, nicht weißen) elektrischen Glühbirnen besteckt. Die ganze Weihnachtswoche hindurch lugen diese mächtigen Christbäume bis in den vierten Stock der Häuser hinein und überstrahlen fast die Lichtreklame. Tagsüber singen davor Männerchöre oder spielen Musikbanden. So dringen Friedensklänge, Heilandsbotschaften, Gottsucherlieder durch die lärmende Jagd nach Geld und Lust hindurch und machen die Herzen auf eine Weile still und gut. In Deutschland selbst sind die Großstadtgemeinden auf derlei sinnige Taten noch nie verfallen, da ihre früher demokratischen und jetzt sozialistischen Vertretungen "die ganze Gemütskiste" zu Weihnachten, besonders die mit christlichem Inhalt, nie mochten, jetzt auch kaum noch das Geld dazu hätten. Schon ein 5-Meter-Baum - die Kirchen und die Vereine seufzen - kostet heute in Berlin 18 000 Mark, die Preise bis zu den kleinsten Tischbäumchen herab sind entsprechend gestaffelt, und ganz Berlin singt heute das Lied:

"O Tannenbaum, o Tannenbaum,
Wie hoch stehst Du im Preise!"

Auch manche Schulen, die sonst am letzten Tage vor diesen Ferien ihre Feier unter den im Tannengrün brennenden Lichtern abzuhalten pflegten, haben diesmal darauf verzichten müssen. Es fehlt ja sogar an Lehrmitteln, man kann das zerbrochene Tellurium, die undichte Luftpumpe, die verwaschene Reliefkarte nicht mehr ersetzen, und so ist für Gemütskisten erst recht nichts da. Hie und da hieß es wohl: "Jungs, setzt Euch auf Eure Räder, seht mal zu, ob es in der Umgegend noch billige Christbäume gibt; für die Lichtchen, wenn auch nicht für sehr viele, wollen einige Elternpaare sorgen." Aber diese Expeditionen sind meist ergebnislos verlaufen. Entweder weiß man zehn Meilen im Umkreise auch schon, wie hoch der Dollar steht und was eine stattliche Fichte heute wert ist, oder man sagt den jungen Aposteln nur maßlos erstaunt: "Christbäume kaufen? Die kauft man doch nicht! Die - holt man sich einfach im Walde." Ein schlechter Rat für Großstadtkinder aus gutem Hause; die haben doch noch allerhand Hemmungen, die leiten die Weihnachtsfeier nicht mit einem Diebstahl ein, auch wenn es schon stimmt, daß seit der Revolution in Berlin "mir" und "mich" nicht einmal so häufig verwechselt wird als "mein" und "dein".

Mein kleiner Freund Franz, ein zerlumpter und dreckiger Berliner Straßenjunge von 9 Jahren, der sich in der Vorklasse für schwach entwickelte Kinder befindet, ist wirklich kein großes Geisteslicht, aber für das Geschäft hat er volles Verständnis. Vater und Mutter handeln. Der Vater steht mit seinem Handwagen an der Ecke Reichenberger und Lausitzer Straße und verkauft zur Zeit Christbäumchen, die Mutter steht an einer anderen Ecke und empfiehlt Lakritzstangen, Abfalläpfel und sonstige Herrlichkeiten. Der Sohn, mein kleiner Freund Franz, handelt mit Altpapier, das er stellenweise kauft, stellenweise erbettelt, stellenweise klaut. Ich habe ihn im Verdacht, daß er es war, der in der letzten Sturmnacht die Anschlagsäule an der Ecke Großbeeren- und Teltower Straße, die schon sehr dick beklebt war, entblättert hat. Das speichert er in dem Keller auf, in dem er mit Vater und Mutter haust, und verkauft es konjunkturgemäß. Neulich begegnet er mir während der Schulzeit. "Ick ha' ma vaschlafn!" Nanu? Ja, er sei bis 5 Uhr morgens mit den Ollen auf einem Ball gewesen. "So dreckig wie Du bist?" frage ich.

"Wat denn, wat denn dreckig," erwidert er, "ick hatte doch Schuh und Strimpe an, da seht man ja nischt!"

Sein Ideal ist ein Säckchen mit Goldstücken, mit richtigen Zwanzigmarkstücken.

"Der Olle hat eens, da schläft a imma druff, Mutta derf nich druff pennen," sagt er.

Also der Vater wisse in ganz Berlin Südost und Südwest Bescheid, wo noch ein Dienstmädchen ein Goldstück habe, und wenn eine mal den Fimmel auf eine seidene Kluft kriege, da geben Vater Bargeld her und kriege das Goldstück als Pfand. Das verfalle dann schließlich.

"Mach ick ooch, wenn ick erst 'n paar Ostjuden ha!"

Was denn das wieder sei, frage ich. Na, doch die neuen Fünftausend-Markscheine! Merkwürdig, höchst merkwürdig, daß mein Freund Franz in der Vorklasse für schwach entwickelte Kinder sitzt; ich finde, er entwickelt sich geradezu tropisch, nach zehn Jahren hat er sicher sein Privatauto und zehn hübsche Stenotypistinnen. Natürlich gibt es in seinem Geschäft auch Rückschläge. Am vorigen Freitag begegnet er mir in sichtlicher Verstörung. Ich frage ihn, was denn los sei.

"Mensch," grollt er, "det wissense nich? Da Dollahr is jefalln! Nu krie'ck zwee Mark wenjer for det Funt Papier!"

Goldstücke wie Franzens Vater habe ich nicht. Was befohlen wird, wird gemacht, sagte meine Frau, als ich ihr aus dem Felde schrieb, sie solle alles, was wir an Gold und Juwelen besäßen, dem Vaterlande geben. Sie hat die Tränen tapfer verschlucken müssen, als da zuerst aus dem Schieberchen ihrer Uhrkette der Brillant und die beiden Rubine herausgebrochen und alles übrige mit dem Hammer zusammengeschlagen wurde. So bei einem Stück nach dem anderen. So auch bei den goldenen Kettenarmbändern unserer Mädels. Heute wissen sie nicht, wie sie auch nur die Möbelaussteuer für zwei Zimmer zusammenbekommen können, wenn sie heiraten. Hätten sie ihre Schmucksachen noch, so wäre das eine Kleinigkeit. Aber niemand von ihnen hat dem Gold und den Juwelen wirklich eine Träne nachgeweint oder bedauert auch nur heute das Opfer. Lediglich die "Roheit" beim Zusammenschlagen der alten Familiensachen zum Klumpen tat so weh. Natürlich: irgend etwas hat man noch. Ich selber habe damals meine Manschettenknöpfe heimzuschicken vergessen, mir kam es garnicht zum Bewußtsein, daß sie ja auch aus Gold seien. Also irgend etwas hat man noch. Vielleicht schämt man sich dessen sogar.

Aber man kriegt doch eine gelinde Wut, wenn eine gewisse unerträgliche Sort von Menschen mit gerecktem Hals und gespitzten Lippen ihr "Du hast ja noch . . ." pfeift. Es sind vielleicht sonst gar nette Menschen. Da ist ein alter Kamerad, eine famose Kriegsgurgel. Er weiß, daß es bei mir noch allemal einen guten Tropfen gibt, auch wenn die Bewohner einer (einer!) Straße in Berlin-Schöneberg - sie war gut ausgesucht, diese Straße - neulich mit überwältigender Mehrheit für die alkoholische "Trockenlegung" ganz Deutschlands in einer Probeabstimmung sich erklärt haben. Die Propaganda ist tüchtig; der Beschluß kam in alle Zeitungen. Mir ist aber ein Probetrunk lieber als eine Probeabstimmung, ich halte von dem Parlamentarismus in jeglicher Form nicht viel, also ich lasse mir von dem alten Kameraden ruhig über die Schulter gucken, während ich den eingebauten Wandschrank im hinteren Korridor bei uns - das ist jetzt unser ganzer "Weinkeller", und ich habe doch schon mal ein ganzes Faß 1893er Dürkheimer Feuerberg gehabt - mit seinem Durcheinander von Wein- und Likörflaschen ordne. Und schon habe ich mein Du-hast-ja-noch an den Kopf bekommen, das verfluchte.

"Mensch, Du hast ja noch Schampus!"

Noch? Quatsch! Nicht noch, sondern wieder. Die paar köstlichen Flaschen Rotkäppchen, die selbst des Teufels Großmutter - die stelle ich mir immer als reizvoll-üppiges junges Mädel vor - das Herz heißmachen könnten, diese paar Rotkäppchen von Kloß u. Förster aus Freyburg an der Unstrut, jawohl. Und schon habe ich ein neues Du-hast-ja-noch am Kopf.

"Mensch, Du hast ja noch scheinbar viel Geld!"

Erstens - erkläre ich etwas spitz - meine mein lieber Kamerad wohl "anscheinend" und nicht "scheinbar"; in Wirklichkeit hätte ich freilich nur scheinbar Geld. Wirklich Geld aber weder noch, noch wieder. Diese Rotkäppchen sind als Geschenk in meinen Schrank gewandert. Einer der Mitbesitzer der Sektkellerei in Freyburg hat den als Buch jüngst erschienenen zweiten Rumpelstilzchen-Band gerade gelesen und sich gesagt: macht der Mensch mir eine Freude, mach' ich ihm auch eine Freude; mit trockener Kehle kann man auf die Dauer kein flüssiges Deutsch schreiben. Famos, ganz famos. Es stimmt zwar nicht ganz. Ich kann schließlich, wenn es nottut, sogar trocken wie ein Kamel arbeiten, nur ohne den "blauen Dunst" ginge es absolut nicht, den meine Zigarre mir vormacht. Der Höhepunkt des diesjährigen Weihnachtsfestes wird es für mich sein, wenn ich nach der Bescherung, bequem in das große Klubsofa versunken, mir eine der beiden großen Havannas anstecke, die aus der Kiste stammen, die der deutsche Doktor "drüben" am Hudson seinem Bruder hier in Berlin, unserem lieben alten Major, geschickt hat. Ich warne im Voraus Neugierige. Wenn bei dieser festlichen Handlung jemand zusehen und mir sagen sollte "Mensch, Du hast ja noch Importen!", dann springe ich ihm an die Kehle. Der Major selbst raucht nicht mehr, Pension und Gehalt reichen nicht. Die letzten 53 Zigaretten, die er besaß, hat er am Bußtage, zum Abgewöhnen von aller Erdenlust, auf einem Sitz nach einander verraucht. Jetzt geht es ihm wie dem König von Thule, dem sterbend seine Buhle ein Päckchen Zigaretten gab: raucht nie einen Stumpen mehr.

So geht es ja vielen von uns. Der eine oder der andere kann sich nur noch etwas leisten, weil er vielleicht gerade den Platinbrennstift aus dem Holzbrandkasten alter Zeiten verkauft hat; oder das Gebiß der toten Großmutter; oder die liebe Browningflinte, da man doch nicht mehr auf die Jagd gehen kann. Herrschaften, ich bitte Euch: verderbt Euren Freunden und Bekannten nicht mit einem Du-hast-ja-noch die vielleicht letzte Weihnachtsfreude! Tut lieber so, als fändet Ihr es ganz natürlich, daß Müllers eine Zwölf-Pfund-Gans auf dem Tisch haben und daß Lieschen Schulze einen Chinchilla-Kragen (Tante Malchens Nachlaß) bekommen hat. Die Welt da draußen ist unhold genug. Da wollen wir lieber aus jedem Strohhalm ein Freudenfeuer entzünden.

Die sonst üblichen Freudenanreger des Winters, die Theater, spielen ja nun wieder, seit der Schauspielerstreik endlich beigelegt ist; finanziell leidlich befriedigend für die Mimen, künstlerisch ohne jeden reformatorischen Erfolg beigelegt. Aber was sie bringen, ist Schrecken, und was sie spielen, Blut, - abgesehen von "Lissi, der Kokotte" und ähnlichen Ausgezogenheiten der Rotterbühnen. Die Premièren und die Neueinstudierungen gerade dieser Weihnachtswoche sind gallebitter. In dem alten Residenztheater in der Blumenstraße weit im Osten, in dem einst Direktor Lautenburg - der Zivilist in Deutschland, der nächst dem Bahnhofsvorsteher von Frankfurt am Main die meisten Orden besaß - den französischen Schwank betreute, geht Ibsens Hedda Gabler über die Bretter. Hedda Gabler: Tilla Durieux. Der Stern im Osten. Sonst pflegen Sterne im Westen unterzugehen. Einerlei, man pilgert hin, denn man erwartet sich ein Fest. Ibsen, von dem selbst Scherr, der doch auch nicht rosenrot sah, erklärt hat, er wolle nur durch die Darstellung pathologischer Fälle den Menschengeist revolutionieren, versage aber stets, wenn man nach einer Antwort auf seine Fragezeichen suche, hat die Teufelin schon schwarz genug gemalt. Tilla Durieux übertrifft ihn noch. Mit Mädchennamen - so steht es im Berliner Handelsregister - heißt sie Ottilie Goddefroy, sie ist also vielleicht mit dem alten Hamburger Patrizierhause verwandt, das einst dem Fürsten Bülow eine königliche Millionenstiftung machte, damit der erste Mann im Staate auch materiell unabhängig sei. Außerdem ist Frau Tilla die Gattin des millionenschweren Herrn Cassierer. Sie hätte also im Grunde keine Veranlassung, das Leben böse anzusehen. Ihre Frauengestalten aber sind ausgekochte Biester. Man könnte eine Wut auf das ganze Weibsvolk kriegen. Dieser Hedda Gabler, die nur Teufelin ist, fehlt sogar gänzlich das Verführerische, das sonst Frau Tilla in jeder Rolle, den sexuell hörigen Mann als Gegenspieler, zum Ausdruck bringt. Ich meine nicht äußerlich Verführerisches. Das hat die Durieux, die auf sehr starken Beinen im Leben steht, schon recht lange steht, auch sonst nicht mehr gehabt und war doch, und wenn es nur durch ein Beben der Nasenflügel gewesen wäre, faszinierend. Als Frau Potiphar in Strauß' Josephslegende hatte sie nicht ihres Gleichen. Aber jetzt schütteln sich selbst ihre begeistertsten Kritiker; trotz aller unzweifelhaft großen Künste der Darstellerin.

Auf einer Gesellschaft nach dieser Vorstellung habe ich als Tischdame eine entzückende Frau von schier ewiger Jugend. Wir plaudern von der Frau und dem Manne auf der Bühne und im Leben. Ich necke. Sie wird ernst. Und schließlich spielt sie ihren Trumpf aus:

"Eine Frau ist in jedem Sattel gerecht, aber wie dumm sich die Männer anstellen, das ist unsagbar. Da ist ja meine achtzehnjährige Tochter in allen häuslichen Verrichtungen viel klüger als mein Mann, nur daß sie ja keine Zeit hat, sie muß doch vormittags auf die Universität. Und ich hatte auch noch viel zu tun, wissen Sie, mit dem Punkt 4 der Tagesordnung für unseren Kreisparteitag. Na, da sag' ich also meinem Mann, er könnte mal den Milchreis eine Zeit lang umrühren. Auf einmal rieche ich was Angebranntes, ich stürze in die Küche, und da sagt dieser Unglücksmensch wahrhaftig: ich wußte nicht, daß man auch unten rühren muß, ich habe immer oben gerührt!"
21.Dezember 1922 (Donnerstag).


15

Neue Nullen - Moderne Berliner Einbruchsversicherung - Alles in den Wintersportquartieren - Junge Leute von heute - Gobineaus Savonarola - Was ist Renaissance?

Wenn das Jahr zur Rüste geht, zieht manch einer die Bilanz. Nicht nur finanziell, sondern auch kulturell. Er möchte wissen, ob es vorwärts oder rückwärts gegangen ist. Was hat sich 1922 in Berlin geändert? Glaub' mir, mein Lieber: so gut wie nichts! Nur daß man an die Zahlen des Vorjahres zwei Nullen mehr anhängt. Im Dezember 1921 waren die Anschlagsäulen genau wie heute mit Verlustanzeigen bedeckt; genau wie damals werden heute Juwelen, Autos, Teppiche, Silberbestecke, Seidenballen, Schreibmaschinen gestohlen. Nur fiel es vor Jahr und Tag auf, wenn 20 000 oder gar 30 000 Mark dem Wiederbeschaffer der Diebsbeute versprochen wurden, während man jetzt gleichmütig 2 oder 3 Millionen ausgelobt sieht. Dieses Nullen erleben wir ja auch sonst in Handel und Wandel. Aber man wird, wie gesagt, gleichmütig. Selbstverständlich erhöhen sich dementsprechend die Versicherungsprämien. Das Beste ist schon, wenn man seine Dienstboten bloß dafür, daß sie da sind, in Gold faßt. Oder, genauer gesagt, dafür, daß sie nicht nur da sind, sondern - allein da sind. Welch' herrliches Gefühl, wenn man dann, von der Ferienreise zurückgekehrt, feststellen kann, daß nur ein paar Teller zerschmissen sind, aber keine silbernen Löffel verschwunden; und daß unter dem Sofa kein fremder Kerl liegt, sondern nur unberührt wie vor der Abreise der alte Kehricht. O, unsere Ottilie ist eine Perle! Sie kann zwar sehr unangenehm werden, wenn wir Sonntags, wo sie doch immer sehr früh wegwill, nicht eine Stunde früher als sonst am Mittagstisch sitzen. Und wenn wir an einem Werktagabend Gäste haben, dann muß meine Frau allein alles in der Küche herrichten, denn dann "muß" Ottilie just an diesem Abend ausgehen, weil ihr Verlobter, der Briefträger, keinen anderen Abend frei hat. Er hat immer dann frei, wenn wir Besuch haben. Das hat die Reichspost offenbar so angeordnet, seit wir, den Zeitverhältnissen entsprechend, unsere Gäste immer selbst zur Haustür geleiten, um ihnen das Trinkgeld für das Dienstmädchen zu ersparen. Also Ottilie ist eine Perle. Zur Zeit ist sie nur mit 5500 Mark bei uns im Vorschuß. Das ist sehr wenig. Wenn ich für die Anschlagsäulen eine Diebstahlmeldung aufzugeben hätte, würde mich die Geschichte erheblich teurer zu stehen kommen. Bitte, fragen Sie sich einmal durch Berlin hindurch, vom Brandenburger Tor bis zur Halenseer Brücke: überall zahlt man aufatmend gern solche Versicherungsprämie. Besonders jetzt in der Weihnachtszeit, wo es noch "schicker" ist, zu verreisen, als im Sommer.

Zwar auf dem Cresta Run sieht man heuer kaum Berliner. Auch für Arosa oder Holmenkollen langt es nicht. Aber irgendwo muß doch die Dame des Hauses ihre neuen Breeches samt zugehörigen Waden zeigen, irgendwo der Familienvater seinen Spitzbauch in einen weißwollenen Sweater wölben. Einige Jahre vor dem Kriege, nach den "Hottentottenwahlen" Anfang 1907 wohl, sahen meine Frau und ich mit innigem Wohlbehagen Herrn Dernburg, den Staatssekretär der Kolonien, in dieser Aufmachung in Oberhof. Heute fällt das aber nicht mehr auf. Heute sind die Spitzbäuche Legion. Und dann die vielen grellbunten Farbentupfen auf dem weißen Schnee, unsere jungen Mädchen in Schreiberhau und Berchtesgaden! Im Oberharz, der im vergangenen Sommer eine rein holländische Kolonie war, hört man jetzt überall berlinern. Einige Straßen im Westen sind reinweg leer; wenigstens die sogenannten Beletagen. Manche Menschen, die zur neuen Berliner Gesellschaft gehören, verreisen vom 23. Dezember bis zum 2. Januar einfach - aus Sparsamkeit. Man findet die Dienstboten mit verblüffendem Papiergeld ab, das nach sehr viel aussieht, während man früher unbedingt "Sachen" für sie kaufte, weil damals die nach mehr aussahen, und man überschlägt sich, daß Reise und Aufenthalt in Oberwiesenthal oder selbst Steinach nicht viel mehr kosten, als die ganze Festzeit in Berlin. Der Grundpreis für das trockene Gedeck am Sylvesterabend beträgt diesmal wie auf Vereinbarung 10 000 Mark in allen guten Berliner Hotels, eine einzige Flasche Schaumwein annähernd eben so viel, und in Berlin müßte man doch außer der gesamten eigenen Familie auch noch Großpapa Isidor und Tante Siglinde und für Frau und Töchter ein paar junge Fante mitnehmen.

Was das ist, ein junger Fant? O, das ist ein Berliner Beruf.

Der junge Fant ist ein Hausfreund in des Wortes wahrster Bedeutung, ohne jeden zwinkernden Nebensinn. Er kleidet sich gut und er tanzt gut. Er ist der unentbehrliche Helfer der Dame des Hauses und ihrer Töchter. Er begleitet sie zu Einkäufen und berät sie dabei und trägt die Päckchen. Er besorgt die Theaterbillets. Er macht glänzende Konversation. Er entwickelt außerordentlichen Farbensinn bei der Auswahl von Kleiderstoffen und für Tafeldekoration. Er hat immer ein paar eingeprägte Schlagworte über Tagore, Einstein, Keyserling, Spengler, Harding und die Germanowa zur Verfügung, bis man sie selber beherrscht. Manchmal weiß er sogar, daß die Tendenz für Ilsegrube fest sein wird oder daß sich jetzt Stinnes für Aschaffenburger Zellstoff interessiert. Der junge Fant ist stets blütefrisch und hat ein glattrasiertes Sportsgesicht. Er erzählt nie Mikoschwitze. Das würde auch garnicht dazu passen, daß er mit Vorliebe befreundete Familien ins Domkonzert begleitet. Er ist so modern, daß er nicht einmal Skat spielt; beim Bridge berät er die gnädige Frau auf Wunsch, immer korrekt bei leiser Tuchfühlung, aber er beteiligt sich selber nicht. Wundervoll weiß er bei Neureichs von Raffkes und bei Raffkes von Neureichs zu erzählen, bis sich alles ausschüttet vor Lachen darüber, wie unkultiviert - die anderen sind, während man selber, aber natürlich, fast schon zur alten Gesellschaft gehöre. Der junge Fant verkehrt jedoch nicht nur in diesen Familien, sondern auch im überlieferten Tiergartenviertel, obwohl man ihn hier weniger braucht, mehr nur gewähren läßt. Er braucht den ganzen Winter über nie darum verlegen zu sein, wo er ein gutes Diner findet, das für den ganzen Tag ausreicht. Er hat es auch nicht nötig, eine Droschke oder gar die Straßenbahn zu benutzen, denn auf Anruf stellt ihm jede befreundete Familie gern das Privatauto, falls es nicht gerade dringend gebraucht wird. Natürlich hat der Fant Telephonanschluß. Das gehört zum Handwerkszeug, wie die beim ersten Schneider gearbeiteten Anzüge. Das Geld dafür braucht er sich nicht schwer zu erarbeiten. Er bekommt im Jahr so viele goldene Manschettenknöpfe, silberne Zigarettenetuis, platingefaßte Krawattenperlen geschenkt - solche "Kleinigkeiten", man weiß halt nichts besseres, werden ihm verschämt, fast unter Entschuldigungen, überreicht -, daß sein Leibauktionator, der diese Sächelchen für ihn versteigert, von der Provision dauernd gute Havannas rauchen kann. Den Schenkenden fällt es auch garnicht auf, wenn er ihre Sachen nicht trägt, wenigstens nach einer Weile nicht trägt. Denn ein Gent hat doch selbstverständlich Dutzende solcher Sächelchen und wechselt sie im Gebrauch; außerdem hat man sich die Perle oder das Etui oder die Knöpfe doch kaum angesehen. Was der junge Fant außerhalb dieses Hauptberufes ist? Man weiß es nicht recht. Irgend was bei einer Bank. Oder, richtig, er studiert. Nein, er ist was bei der Regierung. Oder er lebt gegenwärtig von seinen Renten. Jedenfalls ist er immer willig und hat, das ist die Hauptsache, immer Zeit. Also doch nicht Bank? Einerlei, der junge Fant ist ein Prachtkerl und dabei so rein und brav, daß die Töchter der befreundeten Familien ihm nicht nur stundenlang, sondern tagelang, auf ganze Sportreisen, anvertraut werden können. Es ist geradezu so, als stamme er aus gutem englischen Hause, wo derlei selbstverständlich ist. Die Tochter, die ihn bevorzugt, nennt ihn denn auch "my boy". Sie denkt nicht daran, ihn etwa zu heiraten. Er sie auch nicht. Sie will sich im Februar mit einem Berliner Kommerziensohn verloben. Und er, der junge Fant, hat daheim - oder was dachten Sie denn - natürlich eine Geliebte.

Bloß sagt er es niemand. Er ist darin, wie überhaupt über viele wissenswerte Dinge, von einer eisernen Verschlossenheit. er ist ganz Zielbewußtsein, ganz norddeutsche Energie, ist beileibe keine Anatol-Natur, und eines Tages, wenn er aus den Zwanzigern gut heraus ist, werden wir ihm vielleicht als großem Unternehmer begegnen. Möglich, daß dann bei ihm - junge Fante verkehren. Er wird sie fördern, sicher; wird ihnen nur gelegentlich ganz tief in die Augen sehen, daß es ihnen ist, als ginge ein Senkblei in ihre Seele, deren Bodensatz zu ergründen. Der junge Fant ist ein neuer Typ in Berlin. Er braucht die Spekulation und den Geldwirbel als Erdreich für sein Wachstum. Allenfalls während der Berliner Gründerära 1872 wäre er schon denkbar gewesen. In Wirklichkeit ist er seit dem Herbst 1922 überall zwischen uns emporgeschossen. Er ist das vollkommene Gegenbild zu der Wandervogel-Jugend. Sozusagen das andere Extrem. Aber ist nicht etwa ein gelecktes und geschlecktes Bürschchen, sondern steht auch bei Windstärke 8 am Steuer der Wannsee-Gig seinen Mann.

Von Kunst begreift er so viel, um zu erkennen, wo der Ungeschmack anfängt. Heimlich gesteht er sich also, auch wenn er den Familien dies oder jenes Stück empfiehlt, daß die Berliner Bühnen heute überhaupt kaum besuchenswert sind. Das ist ganz erklärlich. Früher hatte das Theater den gebildeten Schichten des Volkes das Beste der dramatischen Literatur in einer Form zu übermitteln, daß die Dichtung uns lebendig wurde; daneben auch für den Amüsierpöbel das leichte Genre zu pflegen. Heute kommen jene ehedem breiten Schichten als zahlendes Publikum nur noch sehr wenig in Betracht, und die neue Gesellschaft, an sich harmlos und ohne bestimmte Geschmacksrichtung, geht mit Vorliebe in Stücke, "von denen man spricht", über deren sonderbare Auffassung oder Inszenierung man debattiert. So haschen die Direktoren also nach der Sensation des Niedagewesenen. Im Theater in der Königgrätzer Straße haben die "Wunderlichen Geschichten des Kapellmeisters Kreisler", dieser vertheaterte Film, das ganze Jahr über geherrscht. Nun sind Meinhard und Bernauer mit einer neuen Sensation herausgekommen: mit dem "Savonarola" des Grafen Gobineau. Es ist das erste Drama seiner großen Renaissance-Folge, die deutsch in einer prächtigen Ausgabe des Inselverlages erschienen ist. Dieser Normannengraf, der, um mit Albrecht Wirth zu sprechen, "durch Menschen und Völker hindurchsah wie durch Glas", ist einer der größten Denker des 19. Jahrhunderts, ohne dessen berühmten vierbändigen "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen" die vielen Nachtreter, darunter als ihr bekanntester Houston Stewart Chamberlain, nicht möglich gewesen wären. Gobineau ist auf Männer wie Richard Wagner, Wilhelm Rabe, Ernst von Wildenbruch, die ihm persönlich nahegekommen sind, von tiefster Wirkung gewesen. Auch Kaiser Wilhelm II., der doch selber so faszinierte, ist Gobineaus faszinierendem Einfluß unterlegen. Nur ist natürlich vielen Zeitgenossen der sanguinische Chamberlain lieber als der Graf Gobineau mit seinem erschütternden und aufrüttelnden Pessimismus, der geradeswegs zu Spenglers "Untergang des Abendlandes" hinführt. Gobineaus Renaissance-Dramen sind Bilder von grandioser Wucht. Am "Savonarola" kann man zu einer abgründigen Verachtung des Begriffes Masse genesen. Das wäre so recht ein Stück für Reinhardts Riesenschauspielhaus, wenn man sich hier nicht so hütete, irgend etwas der Masse nicht ganz Genehmes auf die Bretter zu bringen. Was dieses Drama in der Königgrätzer Straße soll, wo sonst die Orska die Fresko-Weibchen Strindbergs und Shaws und Wedekinds wiedergab, mochte einem zunächst nicht recht verständlich sein. Nun haben wir es. Die neue Sensation heißt: ein Drama, ein Spiel aus Worten und Gedanken und Schicksalen, in ein Problem von Farbeneffekt und Formverblüffung aufzulösen. Man hat sich dazu den Bildermacher und Kleidermacher des russischen "Blauen Vogels" in der Goltzstraße bestellt. Eine steifgefrorene Farbenorgie in den bizarrsten Formen ist der Erfolg. Kostüme, wie sie nie, selbst in russisch-byzantinischen Märchen nicht, getragen wurden. Der Mensch als Spirale. Der Mensch als Blätterteig. Der Mensch als Zipfel. Eine ganze Szene auf den eindringlichen Gegensatz von silbergrau und flammendrosa gestellt. Die Bewegungen abgezirkt, mechanisiert. Das ganze Drama blutleer, alles nur noch farbige Fläche, leise wogende Fassade; aber keineswegs Renaissance-Fassade. Nie ward einem Dichter, einem Historiker, einem Massenverächter ärgeres angetan. Aber Berlin W. hat wieder seine Sensation. Und wer aus Kyritz a.d. Knatter nach Berlin kommt, der muß natürlich auch den "Savonarola" gesehen haben, um von dem Unerhörten daheim berichten zu können, was die tollen Berliner nun wieder ausgeheckt haben; aber Gobineau selbst oder Savonarola oder dem Zeitalter der Renaissance ist er um keinen Schritt näher gekommen.

Die große Mehrzahl der Besucher bei Gobineau in der Königgrätzer Straße weiß von Renaissance doch nur, daß das "irgend so ein altmodischer Möbelstil" ist. Viel schicker ist doch Biedermeier, nich? Wissen Sie, so gelb Birke mit schwarzen Leisten. Oder, für das Schlafzimmer Louis Quatorze der Fünfzehnte. Das ist auch hochfein. Renaissance mit Muschelaufsatz haben nur noch die Portiersleute und jene Geheimräte, die als Referendar so um 1890 herum geheiratet haben. Was sollen wir heute mit der Renaissance aus dem "Blauen Vogel" in der Goltzstraße von dem alten Grafen Gobineau? So fragt sich insgeheim das Publikum, tut aber öffentlich entzückt, genau so wie in der Schreckenskammer einer modernen Kunstausstellung.
28. Dezember 1922 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts