Strychnin.

Humoreske aus dem Soldatenleben von Otto Dörflas
in: „Rahdener Wochenblatt” vom 12., 15.8.1896


Tiefer Sonntagsfriede lag über Fort Manteuffel. Auf den Korridoren, in den Mannschaftstuben herrschte lautlose Stille, denn das Rascheln einiger fetter Ratten auf ersteren und das Schnarchen der Rekruten in letzteren kann man wohl als nebensächlich stillschweigend übergehen. Wer Zeit und Geld und Lust dazu besaß, war ja heute an dem dienstfreien Nachmittag hinunter nach Metz gepilgert, um seinen speciellen Vergnügungen nachzugehen, und was oben auf dem Fort zurückblieb, bestand aus dem diensthabenden Offizler — meiner geschätzten Personlichkeit —, den Wachmannschaften und den Rekruten, denen die vierte Garnitur noch nicht verpaßt war und die demgemäß auch nicht à la Mädchenpensionat spazieren geführt werden konnten. Alle diese ehrenwerihen Glieder der menschlichen Gesellschaft leisteten sich — den Wachtposten ausgenommen — gerade ein Mittagsschläfchen, und es nickte sich wirklich herrlich an jenem Dezembernachmiittag — 's war doch zu wunderbar still heute in dem sonst so lauten Kasernement.

Da plötzlich ein Poltern auf der Treppe, ein hastiges Oeffnen und Zuschlagen mehrerer Thüren, lautes Stimmengewirr, in dem ich deutlich die Frage: „Haben Sie den Herrn Lientenant nicht gesehen?” vernehme, und da pocht es auch schon an meiner Pforte.

„Herein — was ist denn in Teufels Namen wieder mal los!?” — Ich war nur zu indignirt über die Störung meiner Mittagsruhe.

„Herr Lieutenant — Rekrut N. ist desertirt!”

„, da soll doch...!”— Mit einem Satz war ich aufgesprungen, hatte im Nu Mütze, Handschuhe, Säbel ergriffen, doch —

„Und Unteroffizier O. hat sich vergiftet!” — vollendete der Feldwebel seine Meldung.

„Hat sich...?”

„Vergiftet — vergiftet mit dem Hering, den der Herr Lientenant für den Fuchs in den Graben gelegt hatten!”

Das war zu viel, betäubt ließ ich mich wieder auf die Chaiselongue zurückfallen, starrte den Unglücksboten fassungslos an, und es verging eine volle Minute, ehe ich mich zu einem:

„Aber, um Himmelswillen, wie hat sich denn das alles so schnell zugetragen?” — aufraffen konnte.

„Der Herr Lieutenant wissen”, begann der Feldwebel, „wir hatten den N. bei seinem Eintritt im Verdacht, er würde uns eines schönen Tages über die Grenze verduften. Deshalb that ihn auch der Herr Hauptmann in die Korporalschaft des Unteroffiziers O.; dort war er aller Meinung nach am sichersten aufgehoben. Der Herr Lieutenant kennen ja den O., eh' der sich etwas zu schulden kommen läßt...”

„Ja, sa” — unterbrach ich aufgeregt den gemüthlich Erzählenden —„aber kommen Sie zur Sache — wie hat sich das alles zugetragen?”

„Weiß ich nicht. N. wollte auf die Latrine gehen und ist nicht wieder gekommen.”

„Nun, aus dem Fort kann er unmöglich sein, die Wache läßt ihn nicht durch, und über den Graben fliegt er nicht!”

„Das sagten wir uns auch — aber der Herr Lieutenant haben, als Sie sich gestern Abend auf den Fuchs austellten, gewiß den Waffenplatz im Glacis abzuschließen vergessen, wir fanden das Thor offen.”

!Auch das noch! Hatte sich denn heute die ganze Hölle gegen mich verschworen?!

„Und Unteroffizier O!?” forschte ich.

„Der sprach, als er sah, daß sein Rekrut entwischt, kein Wort, fünf Minuten später fand ich ihn in Krämpfen liegend auf dem Bett, daneben ein Theil von dem vergifteten Hering.”

„Herr!” — schrie ich erleichtert auf — „sch denke, er ist todt?”

„Dis jetzt noch nicht!” — meinte trocken die Kompagniemutter, als handele es sich um ein Paar auszurangirende Stiefel.

Im Nu war ich bei dem Patienten, sein Anblick, sowie der des rathlos dreinglotzenden Lazareth-Gehülfen waren durchaus nicht ermuthigend, doch dort lag Gott sei Dank noch der Heringskopf, dieser hatte die größere Dosis Strychnin erhalten. Das bischen, was O. genossen haben konnte, ließ noch immer Raum zur Hoffnung übrig.

Zwei Telegramme wurden zur Stadt gesandt, eins um den Stabsarzt, eins an den Hauptmann, um jedem der Herren das Nöthigste zu expliciren.

Währenddessen verwerthete ich so gut wie möglich die aus der Schulzeit herüber geretteten Kenntnisse über erste Hülfe bei Vergiftungsfällen, und eben sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht mit Schaudern, nein mit innigstem Vergnügen einen Menschen sich ganz gehörig ausgerben, da erscheint unser Doktor schweißbedeckt auf der Bildfläche. Er war ein sehr kurz angebundener, energischer Herr, dieser kleine M. Als er den Grund der Erkrankung erfahren und die Ueberführung des Patienten ins Lazareth, wo er dem Aermsten den Magen auspumpen wollte, rasch angeordnet, resumirte er in seiner resoluten Weise:

„So so, Köder für Füchse legen wollen, den Menschen gefressen — nette Geschichten das! — Werden schön ankommen, Herr Lieutenant! — Wer hat denn das Strychnin geliefer!? — Apotheker!? — Natürlich ohne Giftscheln? — Thut mir leid, aufrichtig leid, der Mann - steht Gefängniß drauf — na, werden bald sehen! — Guten Morgen, Herr Lieutenant!” Hinaus war er, zurück blieb ich, dumpfe Verzweiflung im Herzen. — Und wenn Du hundert Jahre alt wirst, Giftbrocken legst Du Dein Lebtag nicht wieder! — schwur ich mir mit feierlichem Eide.

Aber so etwas konnte eigentlich auch nur einem Pechvogel wie mir passiren. Vor drei Wochen hatte ich Monsieur Reineke im Fort gespürt. Dieser bewohnte als Palais augenscheinlich einen der vielen Luftschächte, welche behufs Trockenerhaltung der Mauerbekleidungen angelegt waren. Von diesem absolut sicheren Schlupfwinkel aus war der rothe Räuber auch verschiedene Male im Graben gelustwandelt, und seitdem unsere allwinterlichen Rebhühner, zwölf Köpfe stark, wieder in Bastion 3 eingerückt, schien das Innere des Werkes für Schlaumeier bedeutend an Anziehungskraft gewonnen zu haben. Am hellen lichten Tage konnte man ihn manchmal auf den steilen Wallböschungen den saftigen Braten nachsteigen sehen. Aus etwa auftauchenden Kanonieren machte sich Urian nur wenig, schien er doch so einen Schimmer von Ahnung davon zu haben, daß laut Wachtinstruktion außer dem Gouverneur Niemand innerhalb des Festungsrayons jagen dürfe.

Warte, Kunde, diesmal dürftest Du Deine Rechnung ohne die Herren Lieutenants gemacht haben, die sich um veraltete Bestimmungen den Teufel was scheren, ich sprach's und postirte mich mit meiner Lancaster Abend für Abend im Blockhause des Waffenplatzes, von dessen Schießscharten aus ich sowohl Glacis als auch die Wälle selbst bestreichen konnte. Aber siehe da, Reinecke hatte Lunte gewittert, wie er zu dem feinen Unterschied zwischen einem Soldaten mit Jägerbüchse M. 71 und einem Offizier mit Lancaster gekommen, wer kann es sagen. Genug, wenn ich in meinem Blockhaus saß, konnte ich hübsch aufpassen, von dem Rothrock war nirgends elwas zu sehen. Und doch hauste er noch im Fort, das bewiesen die erst vor drei Tagen gefundenen Federn des zweiten Rebhuhns,—!, da sollte doch gleich! —

Hatte ich mir deshalb das Völkchen zwei Jahre hindurch kirre gemacht und es unter Kosten und Mühe glücklich durch zwei schwere Winter gebracht, damit sie Reinekens Leckermaul zum Opfer fielen? Was nützten da alle Schwindeleien von„Keine Feder!” etc., mit der ich die zweibeinigen Jäger vom Fort Manteuffel abhielt, wenn jetzt plötzlich so ein vierläufiger Geselle auftauchte. Kurz entschlossen sandte ich also tags darauf meinen Burschen mit einer schönen Empfehlung an einen bekannten Apotheker: „Er möchte doch so gut sein und mir etwas Strychnin ablassen, es gälte einen Fuchs zu vergiften!”

Nun muß ich allerdings zu meiner Schande gestehen, daß ich Strychnin und seine diesbezügliche Anwendung nur aus den Spalten unserer Jägerzeitung kannte. Mein Alter, welcher mich in's edle Waldwerk einführte, duldete derartige Manspulationen nie, und so war denn das einzige, was ich über den Gebrauch des Giftes wußie, eine gewisse dunkle Erinnerung: die ganze Geschichte steckt man am schlauesten in einen Heringskopf. Dicta Ides sequitur — würde der Lateiner sagen — kaum war Johann mit einem schönen Gruß und noch schöneren Tütchen voll weißlichen Pulvers in's Fort wieder eingewechselt, so erwarben wir für drei Reichspfennig obengedachten katerfeindlichen Salzfisch, und da ich mir sagte:„doppelt genäht hält besser”, und das ganze vorhandene Gift so wie so nicht in dem Kopf allein Platz hatte, so balsamirte ich auch den übrigen Hering fein säuberlich ein. Liebt Reinecke den Kopf, so wird er auch nicht böse darüber sein, wenn noch so ein fetter corpus dran hängt. — Johann war auch meiner Meinung und unter strengster Beobachtung der nöthigen Verwitterungsmaßregeln placirten wir den appetitlichen Fisch auf einem der täglichen Pässe.

Nun stand aber gerade Ende der Dekade im Kalender, und als weltkundiger Mann unterließ ich deßhalb nicht, beim nächsten Appell vor versammeltem Kriegsvolke bekannt zu geben, daß sich nicht Jemand einfallen ließe, die Oede des trockenen Kommisbrodes mit einem gewissen Harung zu versüßen. Himmel! — wer hätte aber auch ahnen können, daß dieser sonst so vernüuftige O. sich das Durchbrennen eines Tagediebes derart zu Herzen nimmtt, daß er schnurstracks hinläuft und diesen ominösen Happen anschneidet.

„Nette Geschichten!” — hatte der verfl... Pflasterkasten gesagt, in der That, das waren schöne Aussichten für mich, und — — — — Himmeldonnerwetter! — Hier sitze ich ruhig und grübele über etwas nach, was doch nicht mehr zu ändern geht, während man unten in der Stadt womöglich schon das Unglückswurm von Apotheker einbuchtet.

„Feldwebel! — Uebernehmen Sie die Fort du Jour!” — Wie von Furien gehetzt, stürme ich hinunter, vielleicht gab es noch ein Mittel, mein Gewissen von der schweren Schuld, einen Menschen unglücklich gemacht zu haben, zu entlasten. —

Dort liegt die Apotheke, still und friedlich wie immer, dort lehnt auch A. hinter der Kasse, gemächlich wie imer, und studiert die Abendpost. „Gott sei Dank, sie haben ihn noch nicht,” denke ich und reiße die Thür auf.

„Nanu — so aufgeregt!?” — meint der Pharmaceut lächelnd — „brauchen Sie vielleicht wieder Strychnin für Füchse?”

„Mensch — spotten Sie nicht — ein Menschenleben steht auf dem Spiel!”

„So — doch nicht etwa von wegen meines Strychnins?”

„Weßwegen denn sonst? wir beide sind verloren!”

„Nun, wenn es sich um nichts anderes als das handelt — dann, mein lieber Lieutenant, so herzlich gern ich Ihnen jeden Gefallen erweise, werden Sie mich doch nicht für leichtfertig genug halten, daß ich einem unwissenden Burschen — und noch dazu ohne Giftschein auf eine bloße mündliche Bestellung hin — ein derartig akutes Gift aushändige.”

„Aber” — stotterte ich — „was — waas war es denn sonst?”

„Nichts als ein kräftiges Brechmittel — die Geschichte mit dem Fuchs im Fort kam mir ohnehin nicht geheuer vor!”

Ueberwältigt vom Uebermaaß der Freude und unter der Nachwirkung der soeben durchgemachten Aufregung, ließ ich mir derartig viel Selterwasser, Tokayer, Cognak — alles bunt durcheinander einfiltriren, daß ich nur schwer mich wieder erhob.

Kaum jedoch auf der Straße angelangt, verflog auch wieder der plötzliche Rausch, die „fahrlässige Tödtung” war ja Gott sei Dank zu Essig geworden, aber nun wälzte sich wieder die Schuld, eine Desertion durch Leichtfertigkeit ermöglicht zu haben, auf mein armes, kaum wieder etwas erleichtertes Herz.

„Hin zum Chef!” — „Gewiß läßt selbiger unter dem Drucke einer derartigen Freudenbotschaft in einem gewissen Thatbestande die fatale offene Gallerie-Thür aus” — war mein Gedanke.

Bald stand ich im Zimmer des Hauptmanns. Nach der ersten Begrüßung platzte ich gleich los:

„Herr Hauptmann, mit der Vergiftung ist nichts!”

„Golt sei Dank, dieser O. ist mein bester Unteroffizier — na sie hoffen ja, wie mir der Stabsarzt telephonirt, den Mann sicher zu retten!”

„Ach, der ist ja gar nicht vergiftet!”

„Ist nicht vergiftel? — Ja, da habe ich aber eben aus dem Lazareth die Meldung Strychuin-Vergiftung erhalten?!”

„Trotzdem — auf mein Wort, O. hat nichts als ein starkes Brechmittel im Leibe und unser hochweiser Doktor blamirte sich endlich einmal — aber gründlich!”

„Aber gründlich! ” echote der Chef im Tone tiefster Befriedigung. Er stand, wie wir alle, mit dem immer Recht haben wollenden Jünger Aeskulaps auf etwas gespanntem Fuße „nein, lieber Dr.— die Chose ist zu famos — Emil, ne Burgunder und zwei Gläser! — Darauf müssen wir schon eine gute Boddel leeren!”

„Ich hoffe”, — präliminirte ich, nachdem die Gläser wieder gefüllt waren — „der Herr Hauptmann werden wegen dem N. . .”

„Ach was — über den lassen Sie sich keine graue Haare wachsen. Das Bürschchen sitzt bereits hinter Schloß und Riegel!”

„Aber — ist er denn nicht desertirt?”

„Die Absicht hatte er wohl — nur war er zu schlapp, den Thorhebel des Waffenplatzes, den Sie so freundlich waren, offen zu lassen, allein zu öffnen. Er hatte sich deßhalb hinter den Geschoßkästen verkrochen, und als es Abend war, bekam Urian Appetit und stellle sich wieder zum Abfüttern — dort liegt die diesbezügliche Depesche des Feldwebels.”

„O. nicht vergiftet — N. nicht desertirt!” — Nein, so was wird nicht wieder jung! — stieß ich aus tiefster Beust hervor und leerte mit einem Zuge meinen vollen Römer.

Der Chef ließ manche Flasche anfahren an jenem Abend, und als ich spät nach Mitternacht auf Fort Manteuffel einwechselte, war's mir wohl um's Herz so leicht, doch im Kopf — so schwer, o so schwer.

Ende.

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