Der Kasinoball.

Novellette von R. v. Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 28.01.1906


Das war ein Laufen und Hasten, ein Gehen und Kommen, ein Türzuschlagen und Treppensteigen auf Gut Hästebeck! Stimmen schrillten durcheinander, der alte Dackel heulte und mauzte, eine Nähmaschine ließ ihr surrendes Geräusch vernehmen und zuweilen wurden einige Walzertakte vernehmbar, die leichte Hände auf dem Pianino probierten. Was war denn los auf dem friedlichen Gutshof weit hinten an der Waldecke, den sonst nur der Landbriefträger, ein Besuch aus der Nachbarschaft oder ein Händler aus der gewohnten Ruhe störte?

Ball! Dieses Zauberwort hatte das ländliche Idyll von Hästebeck verscheucht und eine Tätigkeit hervorgerufen, die vier Frauenherzen höher schlagen machte, einen Mann aber mit Grauen erfüllte. Die Glücklichen waren Mama Hästebeck und ihre drei allerliebsten Töchter Else, Lisle, Grete, der Empörte und aus aller seiner Ruhe Aufgescheuchte war der Papa, Lasen Hästebeck. Vor acht Tagen war die Bombe eingeschlagen: „Am Mittwoch der kommenden Woche findet im Kasino der erste diesjährige Ball statt, zu dem das unterzeichnete Offizierkorps ergebenst einladet. ( Herren in Waffenrock bezw. Frack. Anfang 8 Uhr. ) Helmhausen, den soundsovielten. Ulanenregiment Prinz Eugen.”

Seit dieser Stunde datierte das Laufen und Gehen. Zunächst war Minchen Bergmann, die alte taube Schneiderin bestellt worden, dann hatte eine Berliner Firma ganze Berge von farbigem Tüll und duftiger Gaze geschickt, und nun wurde zugeschnitten, genäht, angeprobt, daß dem Baron die Haare zu Berge standen. „Hol dieser und jener die verwünschten Bälle,” sagte er oftmals, und wenn es ihm gar zu toll wurde, dann pfiff er dem guten Männe, ergriff einen Knotenstock und ging waldein in die Tannenheide, wo sie am dicksten war. Da war es wenigstens still, nichts von Straußschen und Millöckerschen Walzern zu hören und nur die Krähen vernehmbar, die hoch oben in der klaren Winterluft über den Baumwipfeln einherzogen und scharfäugig nach einem Raub herniederspähten.

Elsa, die Aelteste, tanzte schon den dritten Winter; es sollte ihre letzte hiesige Saison sein, denn sie war verlobt und freute sich schon auf das nächste Jahr, da sie als junge Frau auf dem Parkett der Residenz schweben konnte. Sie hatte für den bevorstehenden Kasinoball ein weißes Spitzenkleid gewählt, durch das leichtgrün ein seidener Fond hindurchschimmerte, eine Anspielug in Farben auf den Brautstand und die holde Myrte.

Lisa, die Mittelste, eine schlanke brünette Schönheit, wollte in rosa Tüll erscheinen, der ihr besonders gut zu Gesicht stand. Ueberdies war rosa die Lieblingsfarbe des jungen Landrats, der natürlich auch auf dem Ball war und ihr, sowohl im vorigen Winter, wie während des Sommers, so stark die Cour gemacht hatte, daß eine ernste Aussprache nur noch die Frage der nächsten Zeit sein konnte. War er doch sogar einige Tage in demselben Seebade gewesen, das Hästebecks alhährlich aufsuchten.

Gretchen, die Jüngste, sollte in diesem Winter zum erstenmal ausgehen. Vor zwei Jahren, als sie bei Madame Lenoir in Lausanne in Pension war, hatte sie noch kurze Kleider und lange Zöpfe getragen. Auch jetzt noch war sie, nach Pappas Ansicht, „ein grünes Kücken, das noch nicht flügge ist,” aber Mama pochte darauf, da das Kind im Frühjahr 18 werde, und daß es an der Zeit sei zu zeigen, das Lehrgeld für die Pension sei nicht weggeworfen worden. Ein weißes Kostüm sei für sie ausgewählt worden, zu dem La France-Rosen ausgezeichnet aussehen mußten.

Am Tage vor dem Ball, als alles (auch die grauseidene Robe der Baronin) fertig war, fand große Probe statt. Die jungen Damen warfen sich in ihre Toiletten, wirbelten einige Male durch den großen Salon, um zu probieren, ob auch alles fest und elastisch saß, machten vor dem großen Spiegel einige Knixe und lachten und schwatzten durcheinander.

„Gott — Lisa — wie Du den großen Hof-Zeremonial-Knix machst!” sagte die Aelteste. „Sieh mal so: Man läßt die Schleppe lang ausfallen, macht dann im leichten Halbkreise links um, so daß die Schleppe wie in einer Kurve liegt, und versinkt dann in der Spitzenwolke! So! — Aber freilich, Du wirst das ja niemals brauchen!”

„Du natürlich!”

„Gewiß, ich werde es auch, denn Paul ist doch Gardeoffizier und wird mich bei Hofe vorstellen lassen. Aber Du mit Deinem Landrat wirst ja nie aus der Provinz herauskommen. Vorausgesetzt, daß er Dich überhaupt nimmt!”

„Gebt Frieden, Kinder!” fiel Grete ein. „Zeigt mir lieber, wie Ihr die Schleppe faßt. Als ich bei der Lenoir war, trugen wir ja kurz, und außerdem waren Tanzschleppen noch nicht Mode.”

Die Schwestern unterwiesen die Jüngste und schulmeisterten so lange an ihr herum, bis Mama in der Tür erschien und der Probe ein Ende machte.

„Kommt, Kinder, kommt! Der Saal ist nicht geheizt und Ihr seid ganz erhitzt. Im Tüll kann man sich so leicht erkälten. Ueberdies wartet der Papa mit dem Essen. — Geht, zieht Euch aus. Ich bin mit Euch zufrieden, Ihr seid nette Bälgerl.”

*           *           *

Zu derselben Zeit, da diese Generalprobe stattfand, saß das Offizierkorps des Ulanen-Regiments-Prinz Eugen zu Tisch im Kasino; d. h. natürlich nur die unverheirateten Herren, die verfügungsgemäß dort zu speisen haben, während die Beweibten sich am häuslichen Herd erlaben.

Es waren etwa zehn Leutnants und ein Rittmeister. Dieser, der einzige Junggeselle unter den Eskadronchefs, führte den Vorsitz, und ihm gegenüber hatte der Regimentsadjutant Herr von Ziegelehr seinen Platz. Zu Ehren des heutigen überaus kalten Wintertages hatte man eine „Pelzbowle” gebraut, d. h. ein Gemisch aus englischem Porter und französischem Sekt, das dunkelbraun in hohen und breiten Gläsern verabreicht wurde und mit dem gelblichen Schaum überaus appetitlich aussah. Eine lebhafte Konversation, die sich natürlich um den bevorstehenden Ball drehte, ging hinüber und herüber, während die Ordonnanzen Fisch und Braten servierten. Außerdem trank man sich tapfer zu, dem Tischvater, den Eskadrons-Kameraden, dem Fähnrich usw. — Endlich erschien das Dessert, Lichter und Aschenbecher wurden auf die Tafel gesetzt, der Rittmeister hob die Tafel auf und alles wünscht sich „Mahlzeit”. Dies ist der Zeitpunkt, wo die Unterhaltung freier werden darf, wo ein loses Scherzchen, eine pikante Anekdote oder auch eine allgemein-interessierende Dienstfrage (sonst als Kommißsimpelei bei Tisch streng verpönt!) aufs Tapet kommen kann.

Das letzte geschah auch heute. Herr von Ziegelehr, der Adjutant, klopfte ans Glas: „Bitte, einen Augenblick Gehör!”

„Kinder — ruhig da unten — Ziegelehr hat was!”

„Hört mal zu, Ulanen, ich hab 'ne Neuigkeit, leider keine angenehme!”

„Nanu! Schießen Sie mal los! Was ist's denn?”

„Sie wissen doch, meine Herren, daß eine Verfügung des Generalkommandos für den Winter sechs Erkundigungs- und Uebungsritte vorsieht.”

„Na ja! Und?”

„Und unser Brigadekommandeur hat den ersten Ritt für  m o r g e n   a b e n d  angesetzt! Wege-Erkundigung im Hästebecker Forst!”

„Pfui Deibel, das ist infam!”

„Ja, fatal ist es, Ulanen, aber der Brigadier hat gewiß keine Ahnung, daß wir morgen tanzen wollen. Wie sollte er auch, zehn Meilen weit ab vom Schuß!”

„Der Ritt muß verschoben werden!”

„Das können Sie doch wohl nicht im Ernst vorschlagen. Das wäre etwas ganz Neues in der Armee, daß um eines Vergnügens willen der Dienst geändert wird! Nö, das ist nicht. Aber die Sache ist ja auch nicht so schlimm. Es trifft ja doch  n u r  e i n e n.   E i n e r  ist es doch bloß, der morgen zu reiten hat.”

„Gewiß, nur einer! Aber wer? Das Damokles-Schwert hängt über allen unseren Häuptern.  W e n  hat der bloß bestimmt?”

„Gar keinen, Kinder! Der Kommandeur ist so liebenwürdig, keinem das Opfer zu  d i k t i e r e n.  Er meinte, vielleicht meldete sich einer  f r e i w i l l i g,  dem am Tanzen nicht viel liegt. Na — wer will morgen?”

„Nicht um 'ne Million!! Keine Idee!! Wo denken Sie hin?!” Alle die blonden und schwarzen Köpfe wurden energisch geschüttelt, keiner wollte freiwillig morgen statt eines amüsanten Festes hinaustraben in Eis und Schnee.

„Ja — Ulanen — da einer aber doch muß, so bleibt nichts übrig, als ausknobeln!”

„Selbstredend ausknobeln! Wollen mal sehen, wem die Metze Fortuna das Los wirft.”

Der Würfelbecher rollierte, und verschiedene Zahlen fielen: Vier — Sechs — Drei — Fünf. Herr von Ziegelehr, der Adjutant selbst, warf nur zwei Augen. Er war der Vorletzte.

„Verdammt, wird wohl auf mir sitzen bleiben, wenn Letzingen nicht noch mehr Pech hat!”

Der hatte noch mehr Pech, er warf nur Eins. Darauf allgemeines Hallo und Zutrinken.

„Prost, Letzingen, prost, lieber Kerl! Unglück im Würfelspiel, Glück in der Liebe! Wir kommen Ihnen einen tüchtigen Schluck!”

Leutnant von Letzingen, eine schlanke, jugendliche Gestalt, verneigte sich nach allen Seiten:

„Ich tue es ja so gern für Euch, Ulanen! Wenn  I h r  nur habt, will ich gern schmachten!”

Nachher aber, als er im Billardzimmer mit seinem Intimus Bernburg allein war, schimpfte er Mord und Brand.

„Es ist einfach niederträchtig! Am Tanzen liegt mir ja nicht soviel, Otto, aber das Ganze, das Ensemble! das entzückt mich immer: Musik und Lichterglanz, Seidenrauschen und Juwelen und vor allem schöne Mädchenaugen — —”

„Besonders gewisse Augen aus der Nähe nvon Hästebeck — —”

„Ja — gewiß, die auch! Obwohl sie nicht mehr zu haben sind, denn die Aelteste ist Braut, und die andere steht mit dem Landrat auf dem Sprung. Höchstens das niedliche Jöhr, die Jüngste —”

„Ein scharmanter kleiner Käfer —”

„Na ja, siehst Du! Wir haben uns beide schon toll angefreundet im Sommer bei den Tennispartien, und sie hat mir für ihren ersten Ausflug den ersten Walzer versprochen. Und nun ist alles nischt, und ich pendle auf meiner „Thekla” zwischen den Fichten und Kiefern, während Ihr walzt — — — hol's der — manchmal ist man's recht satt, Soldat zu sein. Und, wenn ich noch einmal anfinge, ich würde es mir wahrhaftig sehr überlegen!”

„Na, na!”

„Ich versichere Dich — überlegen!”

*           *           *

In sehr ärgerlicher Stimmung ging Hans von Letzingen zu Bett und ebenso ergrimmt erhob er sich am nächsten Morgen aus den Federn. Aber noch an einer anderen Stelle herrschte in der Frühe dieses Tages größter Jammer: In Hästebeck. Ganz vergnügt und rosiger Hoffnungen voll hatte Gretchen gestern ihr Lager aufgesucht und heute, als sie aufstand, strahlte ihr eine prächtige dicke Backe aus dem Spiegel entgegen.

Darauf ein Tränenstrom, der das Herz der guten Mama so rührte, daß ihr selbst etwas Feuchtes in die Augen kam. — Der ganze Vor- und Nachmittag verging mit Medizinieren. Die Baronin empfahl Oel, die Haushälterin Kamillen-Kompressen und die alte Botenfrau, die hundertjährige Rezepte besaß, war für „Utstricke” ( Ausstreichen - Massieren ). Nichts half; die linke Wange präsentierte sich in lieblichem Rund, wie ein kleiner Kürbis, und als die Kaffeestunde vorüber war, rollte die Gutsequipage mit den Eltern und den beiden älteren Schwestern von dannen, während Grete in bittere Tränen auf das Sofa sank. Die Haushälterin versuchte zu trösten, aber das junge Mädchen wollte nichts hören.

„Nein — nein — ich bin so unglücklich — ich will nichts hören, Christine! Lass' mich — ich will allein sein — ganz allein — ach, ich bin so furchtbar unglücklich!” —

Die Alte verschwand in den Wirtschaftsgebäuden und benützte dann die Abwesenheit der Herrschaft, um bei des Windmüllers Frau vorzusprechen und einen längeren Schwatz zu machen. Gretchen aber, ermüdet von ihren Tränen und dem ganzen Jammer, sank in Schlaf, denn nichts regte sich um sie her in der Weltferne des einsamen Gutshofes. Sie erwachte erst, als Männe draußen im Flur einige Male anschlug. Zuerst dachte sie, es sei der Briefträger, und Christine werde ihm öffnen. Da aber kein Tritt im Hause vernehmbar wurde und der Dackel immer heftiger bellte, zündete sie selbst eine Lampe an, denn es war mittlerweile dunkel geworden. Im Vorübergehen sah sie in den Spiegel, die Schwellung der Wange hatte sehr nachgelassen.

„Ruhig, Männe, ruhig — sei still, Köter! Es ist ja der Lehmann — kennst du den Briefträ — —”

Weiter kam sie nicht: auf der breiten Steintreppe stand, dick verschneit, aber mit lachenden Augen unter der schiefen Czapka mit den kecken Fangschnüren — Hans von Letzingen.

„Sie nicht auf dem Ball?”

„Sie nicht auf dem Ball?”

„Ich war etwas erkältet — —”

„Und mich führt ein Dienstritt hierher —”

„Welch ein Zufall —”

„Ein Zufall — sollte es  n u r   e i n   Z u f a l l  sein, Margarete?”

Da legte sie ihre Hand in die seine, und vergessen war Ballnacht und Festmusik mit dem ersten Wort der Liebe.

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