Der Hofball.

Novellette von Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 04.01.1903


Die Trompeter auf dem Orchester-Empore bliesen drei schmetternde Akkorde und der Schluß-Galopp war beendet. Herr Peterbaum, der Dirigent und Stabstrompeter, zog sich in den Hintergrund zurück, goß ein Glas Echtes hinter die Binde und sagte zu seinen Untergebenen: „Jottlob, Kinder, daß der Zimmt alle is! Lieber drei Stunden Regiments-Exerzieren, als das Tanzjedudele! Macht blos, daß Ihr fortkommt, sonsten verlangen sie 'ne Extratour!”

Aber er irrte sich. Die Damen und Herren des märkischen Ulanenregiments, die ihr erstes Winterfest feierten, hatten genug von Terpsichorens munteren Weisen genossen und zogen sich in die Räume neben dem großen Saal zurück, um dort bei einem Täßchen Kaffee oder einem Glase Punsch noch ein Weniges zu plaudern, bevor Wagen, Schlitten oder Schusters Rappen sie zum heimischen Herde zurückführten. An einem runden Tisch in der Nähe des Kamins, gerade unter dem Bilde, das die berühmte Attacke der Ulanen von anno 70 darstellte, hatten mehrere junge Damen und Leutnants Platz genommen und eine lebhafte Konversation war sehr bald in Gang gekommen.

„Ist doch 'ne famose Idee, unser erstes Winterfest, was?” sagte Herr von Zehlenberg, „wenn es auch nicht gerade in die Weihnachtstage fällt! Aber was thun? Vom 24. bis zum 1. Januar ist ja doch Alles ausgeflogen, und da müssen wir vorher den Tannenbaum anstecken!”

„Ja, ” erwiderte eine junge Dame mit schwarzem Scheitel und kecker Nase, „und der erste Winterball ist mir der liebste von Allen! Und wissen Sie auch warum? Weil man da die ganze Saison noch vor sich hat und so hübsch Pläne entwerfen kann, wie man sich bis zum März amüsiren wird.”

Herr von Zehlenberg nickte zustimmend: „Sehr wahr, Gnädigste, und dieses Jahr haben wir, wie ich Ihnen verrathen kann, einen ganzen Sack von Lustbarkeiten. Lassen Sie sich 'mal von Rübenack vorlesen, der hat das Programm aufgestellt!”

„Den Konsens der Damen natürlich vorausgesetzt!” entgegnete der Adjutant des Ulanen-Regimentes. „Also meine Damen, wir haben Folgendes projektirt: Am 6. Januar: Große Schlittenpartie nach Forsthaus Schilde zu Ehren der heiligen drei Könige. Am 17.: großer Ball. Am 27.: Festdiner zur Feier des Allerhöchsten Geburtstages, Abends Mannschaftsfest. Am 17. Februar: Liebhabertheater, bei dem wir stark auf das mimische Talent unserer Damen rechnen. Am 24.: Fastnacht — ein Dilettantenkonzert: Zehlenberg spielt Cello, Rittmeister von Marzahn singt Baß, Fräulein von Hasselholm,” er verbeugte sich vor der schwarzgescheitelten jungen Dame, „wird gebeten, ihre phänomenale Technik an einem Liszt oder Chopin zu demonstriren!”

„Das thut mir unendlich leid, bester Baron,%rdquo; entgegnete die Angeredete, „ich kann weder bei Theater noch Concert mitwirken. Papa hat Grete und mir versprochen, uns dieses Mal nach Berlin zum Hofball mitzunehmen. Wir werden zwischen dem Fest und Neujahr unsere Karten im Hofmarschallsamt abgeben! Ich freue mich so sehr darauf — es wird hoffentlich charmant werden!”

Diese Entgegnung des schönen Fräulein von Hasselholm leitete das Gespräch in andere Bahnen: die jungen Damen waren plötzlich ganz Ohr für Berliner Feste, Berliner Toiletten und Großstadtleben und erörterten eifrig die Möglichkeit, ob einer der Prinzen ihnen die Ehre eines Tanzes zu Theil werden lassen könnte. Rübenack und Zehlenberg aber zogen sich in das Rauchzimmer zurück, um dem lang entbehrten Genuß einer Importe „mit Bauchbinde” zu huldigen.

„Höre mal, alter Kerl,” sagte Zehlenberg, nachdem er einige blaue Wolken gegen den Plafond geblasen, „Du bist maßlos zu beneiden. Maßlos — sage ich Dir! Um Deine Freundschaft mit Hasselholms. Das sind die reizendsten Mädchen, die ich kenne. Und Du gehst da jeden Tag ein und aus! Welche ist es denn nun eigentlich?”

Rübenack rückte seinen Sessel, sodaß der Schein des Kronleuchters nicht in sein Gesicht fiel: „Wie? Wie meinst Du?”

„Nun, es ist doch klar, daß Du für unsere Nachbarn vom Lande mehr als bloße Sympathie empfindest. Du fährst oder reitest doch jeden Nachmittag, wenn die alte Uhr auf S. Lorenz fünfe schlägt, nach dem Gut hinaus. Denkst Du, so etwas merkt man nicht? Unsere ganze Garnison spricht davon! Ja, ja — Jungchen! Und ich würde mich garnicht wundern, wenn eines Tages Papa Hasselholm Dir deutlich sagte: „Herr Baron! Der Worte sind genug gewechselt, — laßt uns nun endlich Thaten sehen!”

Rübenack lachte; aber es kam ihm nicht frei von der Brust und dann zog er hastig an der Cigarre, ohne etwas zu entgegnen.

„Na also, welche ist es?” wiederholte der Andere, „Deinem ältesten Intimus aus dem Kadettenkorps könntest Du eigentlich das Herz erschließen. — Weißt Du noch 89, als wir in Potsdam waren? Als Du die kleine Blonde mit den langen Zöpfen per Distance anbetetest, und immer am Sonntag nach der Konditorei am Wilhelmsplatz gingst, um ihr zu begegnen und nebenbei Apfelkuchen mit Schlagsahne in Massen zu verzehren? Na also! Damals war ich auch Dein getreuer Pylades, und ich sehe nicht ein, warum es heute anders sein soll, obwohl wir mittlerweile aus lustigen Kadetten alte Oberleutnants geworden sind. Also schieß los, Bodo, die schwarze oder die Blonde?”

Rübenack warf die Cigarre, die ihm erloschen war, in eine Ecke und zündete eine neue an; dann rückte er seinen Fauteuil näher an Zehlenberg heran und sagte:

„Du hast Recht, Jürgen — schließlich muß die Sache ja zum Klappen kommen — und besser, man hört Freundes Rath, als man greift fehl. — Also frei heraus: ich bin mir selbst nicht klar! Daß es eine von Beiden ist, steht bombenfest. Aber welche? Welche? Jürgen — welche?”

Zehlenberg machte ein ganz verdutztes Gesicht und schlug mit der flachen Hand auf sein Knie: „Donnerschlag!”

„Ja, alter Sohn — welche! Ich komme nicht ins Klare. An einem Tag ist es die Hethe und am andern die Grethe! Beide charmant, beide liebenswürdig, beide schön —! Aber das sind nur Aeußerlichkeiten — hinter die Hauptsache kann ich nicht kommen!”

„Und die wäre?”

„Der Charakter!”

„Ja — Caramba! Schließlich kaufen wir Alle die Katze im Sack. Wie willst Du denn da zu einer Entscheidung gelangen?”

„Ich hatte mir eigentlich das Liebhabertheater und die andere Mimik deshalb ausgedacht — bei solchen Scherzen tritt man sich näher; nun fällt das weg, denn sie fahren ja im Februar zu den Hofbällen.”

„Dann würde ich an Deiner Stelle auch hinfahren, Bodo. Weißt Du, Du siehst die Hasselholms dort in anderer Beleuchtung, in anderer Umgebung — das thut viel!”

„Auch nach Berlin? Vielleicht hast Du nicht Unrecht. Thut den Nerven ganz wohl, 'mal Weißen Saal zu durchqueren, nachdem man monatelang nur durch die ganze Bahn changirt hat. Abgemacht: Zum Hofball nach Berlin!”

*           *           *

Das ist etwas Anderes, als die Garnisonbälle der Provinzialkavallerie! Ein Meer von Licht funkelt aus den Kronleuchtern hernieder und schimmert wieder in weißen Säulen, Spiegeln, Juwelen, Orden, Uniformen und Ballroben. Ganz Deutschland ist mit seinen glänzendsten Namen vertreten: hier die landsässigen Fürsten, da die Mitglieder des Staatsministeriums, dort die Generalität, auf jener Seite die obersten Hofchargen, Koryphäen der Kunst und Wissenschaft, drüben die Botschafter und Gesandten. Vor Allem aber das Heer der Gardeoffiziere; Garde du Corps und Gardekürassiere im Scharlachrock, die Husaren in goldstrahlenden Attilas, die Ulanen in der herrlichen Ulanka, Dragoner — Infanterie — Artillerie. Und das Alles fluthet und wirbelt in heiterem Gespräch durcheinander, bis an der Pforte des Saales dreimal der Stab des Oberzeremonienmeisters ertönt und vom Balkon herab Fanfaren erklingen: der Hof erscheint und schreitet durch die Schaar der Gäste in pompösem Zug zum Thron. Alsdann beginnt der Tanz. Zuerst nach hergebrachter Weise: „Die blaue Donau” von Strauß.

Bodo Rübenack hat sich etwas verspätet; er tritt in den Saal, als der Walzer bereits begonnen hat und begiebt sich zunächst auf die Kapellen-Estrade, um einen Blick auf das Gesammtbild zu werfen und in diesem Wald von Häuptern nach den beiden lieben Köpfchen zu spähen, um derentwillen er eigentlich hergekommen ist. Geraume Zeit blickt er hinunter, aber erst in einer Pause zwischen zwei Tänzen gelingt es ihm, die schlanke Gestalt des Herrn von Hasselholm und die beiden jungen Damen zu entdecken; dort drüben am Eingang zur Bildergallerie plaudern sie mit einigen Offizieren. Rübenack verläßt seinen Posten und bewegt sich in Schlangenlinien durch die dichte Menge nach seinem Ziel. Bald muß er hier, bald dort warten, ausweichen, zurücktreten, und als er in die Nähe von Hasselholms glücklich gelangt ist, spricht ihn ein alter General an: „Guten Abend, mein lieber Rübenack — Sie auch hier?”Und nun muß er der grauen Exzellenz, seinem ehemaligen Regimentskommandeur, Rede stehen. Endlich giebt der Vorgesetzte ihn frei, aber nun sind die Damen verschwunden; Hedwig schwebt am Arm eines Gardeoffiziers zu den rauschenden Klängen des Orchesters durch den Saal, und von Margarethe ist keine Spur zu entdecken.

„Schrecklich dieses Treiben,” seufzt Rübenack, „ich lobe mir unser Garnisönchen. Das ist ja Alles sehr prachtvoll und glänzend, aber Behaglichkeit — Gemüthlichkeit? Nein!”

Endlich gelingt es ihm Hedwig zu erreichen. Wie großartig das Mädchen heute wieder aussieht in der tief ausgeschnittenen Robe aus rosa Seide und Tüll! Ihre Augen strahlen, das Vergnügen des Festes und die Aufregung des Tanzes hat ihre sonst ein wenig bleichen Wangen geröthet. Lebhaft konversirt sie mit einem Offizier vom Garde-Husaren-Regiment, einer schlanken Gestalt, gelichtetes Haupthaar, Monocle, großer Halsorden. Als Rübenack naht:

„Ah, guten Tag, Herr Baron — —”

„Guten Abend, meine Gnädige.”

„Baron Rübenack.”

„Prinz Arenstein-Backefurt.”

„Pardon, wenn ich die Unterhaltung störe — haben gnädiges Fräulein noch einen Tanz frei?”

„Ach, lieber Baron, Sie kommen zu spät — Alles vergeben — Alles. — Wie sagten Durchlaucht?”

Und die beiden setzen ihr Gespräch fort. Rübenack ist das Blut ins Gesicht geschossen; er macht schroff Kehrt und schreitet langsam dem Ausgang des Saales zu. Fort von hier, er weiß genug.

Langsam wandelt er durch die Bildergallerie und sucht die Gedanken, die den Kopf bestürmen, energisch zu bannen, indem er die Oelgemälde eingehend betrachtet. So gelangte er auch vor „Die Gestade der Vergessenheit”. Steile Felsen senken sich in fahler Abendbeleuchtung zu einem Strande, auf dem Hunderttausende von Schädeln bleichen — eine versunkene Welt, eine abgeschiedene Kultur, — ein Epilog zur Geschichte der Menschheit. Das Bild fesselt ihn mächtig:

„Was ist unsere Lebensspanne? Was will das Alles sagen, dieses Wünschen und Hoffen, Entsagen und Verzweifeln im Rahmen von sechzig, achtzig Jahren? Wahrhaftig, es verlohnt sich nicht, diesen irdischen Prozeß ernst zu nehmen! Und das Beste, das Beste ist in Wirklichkeit — Vergessen!”

„Was möchten Sie denn so gern vergessen, Herrr Baron?”

Eine Kinderstimme fragt halb muthwillig, halb ernst, und als Rübenack sich umdreht, steht er Grete Hasselholm gegenüber.

„Sie haben meinen Monolog belauscht, gnädiges Fräulein! Uebrigens guten Abend und Willkommen in Berlin! Wir haben uns hier ja noch gar nicht gesehen!”

„Das ist aber Ihre Schuld, Herr von Rübenack; Sie hätten uns doch besuchen können. Sie wußten doch, daß wir bei meinem Onkel Biesen in der Wilhelmstraße wohnen!.”

„Ich bin erst vorgestern Abend hier angekommen, gnädiges Fräulein! Der Dienst! Sie wissen ja! Sie wissen ja! Ueberdies — was soll ich Sie ennuyiren, Sie haben sicherlich sehr viel Bekannte hier — Fräulein Schwester sprach ich soeben — oder vielmehr — ich sprach sie beinahe — hatte eine Durchlaucht im Gefolge!”

„Ja, Herr von Rübenack, wir haben hier in Berlin viele Bekannte, aber doch keinen — Freund!”

Sie sagte das mit rührender Stimme, es klang beinahe, als wollte sie für irgend etwas um Entschuldigung bitten. Bewegt blickte der Ulan das blonde Mädchen an, die in ihrer Hofrobe nicht sehr glücklich aussah. Gretchen Hasselholm bemerkte seinen Blick und erröthete.

„Nicht wahr, das Kleid ist recht häßlich? Ich komme mir so fremd darin vor — und überhaupt, ganz ehrlich gesagt: Ich finde nicht viel am Hofball. Wissen Sie, bei uns zu Hause im Kasino ist es eigentlich viel netter! Und wissen Sie, was noch hübscher ist? Wenn Sie Nachmittags zu uns aufs Gut hinauskommen zum Plauderstündchen. Papa raucht die lange Pfeife, Hethe klimpert auf dem Bechstein, und wir erzählen uns!”

Sie schwatzte das Alles ganz unbefangen und bemerkte garnicht den Eindruck ihrer Worte. Rübenack hätte das Zwiegespräch gern weitergeführt, aber jetzt erschien plötzlich Zehlenberg auf der Bildfläche, um, wie er sagte, der Gnädigsten seinen Knix zu machen:

„n' Abend, Gnädigste! haben Sie noch ein Tänzchen frei? Oder hat Rübenack und die Garde mir schon das Praevenire gespielt?”

„Wo denken Sie hin, Herr von Zehlenberg? Ich wußte doch, daß Sie herkommen und habe natürlich den heimischen Ulanen das Beste vorbehalten — trotz der Garde. Herr von Rübenack freilich legt wohl keinen Werth darauf?” setzte sie neckend hinzu.

„Also hole schleunigst das Versäumte nach, Bodo! ich will mich damit bescheiden, was gnädiges Fräulein mir noch übrig lassen,” sagte Zehlenberg und dabei kniff er gegen den Freund das linke Auge zu. Rübenack aber fragte:

Welche Tänze darf ich haben?” und schrieb auf die ihm dargereichte, gänzlich leere Tanzkarte, hinter sämmtliche Tänze seinen Namen in Lapidar-Zügen.

*           *           *

Mitternacht war lange vorüber, als Hedwig und Margarethe im Fremdenzimmer bei Geheimrath von Biesen die Balltoiletten ablegten und sich zur Nachtruhe anschickten.

„Es war großartg,” sagte Hedwig, „ich habe mich superbe amüsirt. Du sollst nur meine Tanzkarte sehen — ein Muster von ersten Namen. Da: der erste Walzer! Graf Brix von den Garde du Corps, die erste Polka: Prinz Arenstein, der Lancier: Excellenz Dönhofstett, der erste Galopp: Marchese Monseverde von der italienischen Botschaft, der zweite Walzer: der regierende Fürst von Sachsen-Inselberg-Ruhla und so weiter und so weiter! Nun und Du, Grethe? Zeig' mal Deine her!”

Die Schwester reichte das Kärtchen mit der Königskrone und dem feinen Crayon herüber.

„Was? Aber Grethe! Bist Du nicht recht gescheidt? Nur Rübenack, unser langweiliger Ulan — mit dem Du zu Hause zwanzig Mal tanzen kannst? Kindskopf! Nur ein Einziger!”

„Ja, Hethe! Gewiß nur Einer, aber Du mußt es anders betonen:  D e r Einzige!”

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