Eine heitere Novellette von Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 29.11.1908
Seit sechs Wochen saß er nun schon in dem einsamen, waldumkränzten kleinen Städtchen, er, der in der Weltstadt aufgewachsen war, in Großstädten studiert hatte, in der Metropole jahrelang angestellt gewesen war, er, der lebenslustige junge Dr. Thiemann, Mathematiker und einziger Assistent der Königlichen Sternwarte in Waldhausen. Wie ein Donnerschlag hatte ihn die ministerielle Order getroffen, in der es hieß, er werde zur Unterstützung des Professors Langenbiel nach Waldhausen versetzt, um an den hochbedeutsamen Forschungen dieses Gelehrten, den Fixsternhimmel betreffend, teilzunehmen. Zwar traf das Arbeitsgebiet des Professors mit seinem eigenen nahe zusammen — hatte er doch seinerzeit über die elliptischen Nebel in den „Jagdhunden” mit größtem Lob seine Doktordissertation verfaßt, — aber galt es auch als Auszeichnung, dem großen Astronomen assistieren zu dürfen, so war Thiemann mit seinen 29 Jahren doch zu sehr irdischer Mensch, um ganz in den unermeßlichen Fernen des Weltraumes aufzugehen und nicht Erdenwünsche zu hegen. Waldhausen hatte nichts, was ein junges Menschenkind erfreut, weder Theater noch Museen, weder Bibliotheken noch Konzerte. Auch mit der Gesellschaft war es übel bestellt, da weder Garnison noch Amtsgericht noch Gymnasium am Orte sich befand. Lediglich mit Rücksicht auf seine reine, durchsichtige Atmosphäre war einst das Städtchen zum Sitz einer Filiale der großen Landes-Sternwarte erkoren worden. Pfarrer, Doktor, Bürgermeister, an die Dr. Thiemann zunächst den Anschluß gesucht hatte, waren alte Herren, die nur ihrem Skat huldigten. Langenbiel selbst hatte allerdings Familie, aber keine Söhne. So stand Thiemann ganz allein und sein Chef tat nichts, um ihm die Einsamkeit zu erleichtern. Hatte er ihn bei dem Antrittsbesuche doch nur flüchtig begrüßt und nicht einmal seinen Damen vorzustellen für gut befunden. Langenbiel schien zu glauben, daß sein Assistent, gleich wie er selbst, nur die Differenzialen und Integrale vegetiere.
„Sie werden viel zu tun haben, Herr Kollege,” hatte er gesagt, „namentlich praktisch am Refraktor. Als erste und wichtigste Aufgabe möchte ich Ihnen die Beobachtung und Bahnbestimmung des Doppelsterns Gamma in der „Jungfrau” nahelegen, der ja wegen der großen Exzentrizität seiner Bahn besonders bekannt ist. Doppelsterne — das mag überhaupt den Inhalt Ihres hiesigen Aufenthaltes bilden. Ich persöblich habe dafür eine ganz besondere Neigung. Wie Sie wissen, spielen bei Doppelsternen die Farben eine große Rolle; wie kennen gelbe, blaue, grüne. Auch dieses Phänomen lege ich Ihnen dringend an das Herz. Nun — da werden Sie genug zu tun haben!”
So hatte die Rede des Gelehrten gelautet, und dann war Thiemann seines Weges gegangen, um sich nach einer Wohnung umzusehen. Bei einem Tischlermeister, am Ende des Städtchens, dort, wo es in eine hübsche Promenade ausläuft, war ein geeignetes Quartier zu finden gewesen, und hier hauste er nun seit vielen Wochen. Der größte Teil seiner Zeit gehörte den Rechnungen und Beobachtungen; seine freien Nachmittage aber benutzte er zu Spaziergängen in die hübsche Umgebung seines neuen Wohnortes.
Hier nun machte Dr. Thiemann seine erste Bekanntschaft. Eines Tages kam er von einem weiteren Ausfluge zurück, als ihm zwei junge Mädchen begegneten, die mit dem sichtbaren Ausdruck der Verstimmung und Spannung auf den hübschen Gesichtern etwas suchten. Die ältere, schon eine junge Dame von etwa neunzehn oder zwanzig Jahren, ging rechts der Straße, die jüngere, noch in kurzen Kleidern und wohl noch kaum der Schule entwachsen, schritt am linken Wegerain entlang. Die Blicke beider waren so fest auf den Boden geheftet, daß sie den entgegenkommendenjungen Astronomen nicht eher gewahrten, als bis er dicht an ihnen stand.
Thiemann, dem die schlanken Gestalten schon von weitem aufgefallen waren, zog höflich den Hut, stellte sich vor und fragte, ob er seinerseits irgendwie behilflich sein könne; die Damen hätten offenbar etwas verloren und sechs Augen spähen mehr als vier.
Bei der Anrede schlug die ältere der beiden die Augen auf, zwei tiefblaue, schöne, seelenvolle Augen: „Sehr gütig, Herr Doktor, wir haben in der Tat etwas verloren — oder vielmehr meine Schwester Gertrud —, ein Armband, eine kleine Kette aus Silber mit einigen Münzen daran. Da wir nicht sehr weit diesen Weg verfolgt haben und auch niemand diese Straße gegangen ist, besteht ja wohl einige Wahrscheinlichkeit, daß wir es wiederfinden.”
In der Tat fand sich denn auch der vermißte Gegenstand am nächsten Straßenknie, einige Hunderte von Schritten weiter in einer Radfurche. Dr. Thiemann sah ihn schon aus einiger Entfernung.
„Hurra — wir haben ihn! Gelobt sei die Einsamkeit dieser Stadt, die doch wenigstens zu etwas nütze ist. Bei starkem Verkehr in einem großen Orte wäre das Armband sicherlich entwendet worden.”
„Sie scheinen auf die kleinen Städte nicht gut zu sprechen zu sein,” antwortete die ältere junge Dame, die von ihrer Gefährtin „Hedwig” angesprochen wurde, „was haben Sie gegen unser schönes Waldhausen einzuwenden? Ringsum meilenweite Forsten, herrliche Luft, reizende Spaziergänge, ist das nichts?”
„Es ist sehr viel,” versetzte Thiemann, „aber es ist doch nicht alles. Mag die Natur noch so schön sein, wir Menschen und zumal wir Kinder des 20. Jahrhunderts wollen auch die Kultur nicht entbehren. Es ist möglich, daß ich, für meine Person, etwas verwöhnt bin; ich habe nämlich lange in der Hauptstadt gelebt, die mit ihren Kunstinstituten tausendfache Anregung bietet. Aber Sie werden mir zugeben, mein Fräulein, Waldhausen bietet gar nichts. Selbst Geselligkeit kennt man hier nicht.”
„Die Honoratioren unserer Stadt sind freilich zumeist ältere verheiratete Herrschaften — —”
„Und Sie meinen, das habe für mich wenig Reiz —? Sehr zutreffend! Der Mensch schließt sich doch am liebsten den Altersgenossen an. Sie, mein Fräulein, sind die erste junge Dame, die ich seit fast zwei Monaten hier kennen lerne. Ich wollte wirklich schon des Glaubens werden, Waldhausen besitzt gar keine Jugend.”
Sie lächelte, winkte dann die junge Schwester an ihre Seite und sagte: „Unser Weg führt hier ab — herzlichen Dank für die Hilfe!”
Dann gingen die Mädchen. Thiemann sah ihnen solange nach, bis die Gewänder hinter einer Tannengruppe verschwunden waren..
Seitdem der junge Astronom diese Bekanntschaft gemacht hatte, wurde ihm Waldhausen interessanter; jeden Nachmittag um dieselbe Stunde stellte er sich an der Stelle wieder ein, und es dauerte nicht lange, dann kamen auch die Schwestern des Weges: Hedwig dunkelblond, schlank und zierlich, Trudchen mit langen Zöpfen, munter und vergnügt. Manchmal hatten sie ein Buch bei sich, manchmal eine Handarbeit, Stickerei oder Häkelzeug. Die drei Menschenkinder gingen dann gemeinsam bis zu der hübschen Bank am Waldesrande; von dort aus konnte man das ganze Tal übersehen, das kleine Flüßchen, den Rathausturm, die Kuppel der Sternwarte. Dort las Trudchen ein weniges vor, man plauderte über dieses imd jenes, und dann ging es wieder heim, bis zu der Stelle, wo die jungen Damen sich das erste Mal verabschiedet hatten.
„Adieu, Herr Doktor!”
„Adieu, meine Damen! Morgen auf Wiedersehen!”
„Wer sind Sie?” fragte Thiemann sich oft, „wer sind diese reizenden Geschöpfe? Ich will doch einmal Nachfragen anstellen.”
Aber es vergingen Wochen, bis es dazu kam. Einmal fehlte ihm die Zeit bei seinen sehr umfangreichen Arbeiten, sodann sagte er sich oft: „Vielleicht wird es eine große Enttäuschung! Vielleicht sind die Eltern schreckliche Philister, bei denen ich gar nicht verkehren kann, Obwohl es unbegreiflich wäre! Denn dieses entzückende Mädchen, diese tiefäugige kleine Hedwig, ist von seltener Feinheit der Empfindungen, von einer gediegenen Geistesbildung! Selbst wenn ich von den gewiß nicht leichten astronomischen Dingen spreche, versteht sie mich und macht ganz vernünftige Einwendungen! Aber sei sie, wer sie will, — ich bin jedenfalls auf dem Wege, mich unsterblich zu verlieben! Unsterblich!”
Solchen Gedanken hing Dr. Thiemann auch an dem Vormittag nach, als er allein auf der Sternwarte sich befand, um einen Sonnenflecken zu studieren. Als dieser genug beobachtet war, stellte der Astronom eines der kleinen Fernrohre auf Gegenstände der Umgebung ein, auf den Rathausturm, die Aussichtswarte im Walde, die Villa seins Chefs. Da stand Professor Langenbiel im Schlafrock mit der Pfeife auf dem großen Balkon seines Hauses und machte Handbewegungen, als wenn er auf jemand einrede.
„Mit wem spricht denn der Alte?” dachte Thiemann und drehte das Fernrohr ein wenig nach links. „Ein schrecklicher, alter Nörgler! Ich wollte, ich wäre hundert Meilen von hier, wenn nicht meine angebetete, reizende — ah heiliger Jupiter — was ist das? Ihr Himmel, stürzt auf mein Haupt mitsamt dem Fixsternsystem — gefunden, gefunden! Beim Saturn und seinen Ringen, endlich gefunden!”
Auch wir, liebe Leserin, blicken durch den kleinen Refraktor und gewahren in seiner lichthellen Rundung die schlanke Rehgestalt der blonden Hedwig, Hedwig Langenbiel, der ältesten Tochter des Gelehrten.
Nachdem Dr. Thiemann diese Entdeckung gemacht, sprang er im Sturmschritt die Treppe hinunter, jagte nach seiner Wohnung und warf sich in große Besuchstoilette. Ein halbe Stunde später klingelte er an der Tür seines Chefs, die ihm Fräulein Hedwig selbst öffnete.
Befangen standen die jungen Leute im Halbdunkel des Vorraums einander gegenüber; beide fühlten, daß die Entscheidung gekommen war.
„Ach — Herr Doktor — Sie?”
„Ich selbst — Fräulein Hedwig — —.”
„Sie wollen zu Papa — —.”
„Nein — ich will — zu Ihnen.”
„Zu mir? —” Ihre Stimme begann zu zittern, als er ihre beiden Hände ergriff.
„Zu Ihnen — ich will — ich möchte fragen — nein, ich will nichts fragen — denn Sie wissen — liebste Hedwig, du weißt ja — was ich fragen will —”
Sie sank an seine Brust und er küßte das blonde Gelock. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Professor Langenbiel trat auf den Korridor hinaus, in dem er Stimmen gehört hatte, im ersten Moment aber keine Personen erkennen konnte.
„Wer ist da?”
„Dr. Thiemann — lieber Papa!”
„Ah — Thiemann — willkommen! Nanu, junger Freund, in so festlicher Tracht, in Frack und Zylinder? Aber mir geht ein Licht auf — Thiemann — liebster Assistent — Sie haben eine Entdeckung gemacht —! Einen Kometen?? — Einen Ringnebel?? Reden Sie, reden Sie!”
„Einen Doppelstern, Herr Geheimrat!”
„Famos — famos — und die Farbe?” Ganz nervös sprang der alte Herr umher.
„Tiefblau — Herr Geheimrat —”
„Großartig — alle beide blau! Alle beide Sterne?”
„Alle beide!”
„Und der Standort? Im „großen Löwen”? In der „Andromeda”?”
„Im Hause Langenbiel.”
„Wie? — ich verstehe nicht — in meinem Hause? In meinem —?”
Dann ging ihm plötzlich die Erkenntnis auf, als er die tieferrötende Hedwig gewahrte, und als Trudchen ihn lachend am Schlafrock zupfte:
„Aber Papa — Papa — begreife doch! — —”
Gerührt schloß er den Assistenten an die Brust: „In Gottes Namen, Kinder! Wenn Ihr Euch gern habt! Lieber Himmel, ich habe freilich davon nichts gemerkt, weil ich zu viel auf außerirdische Dinge achten muß, — aber es ist wahrhaftig wahr: Auch auf Erden gibt es seltsame, lichtstrahlende Gebilde, — bald braun, bald blau — die uns zu grenzenloser Bewunderung hinreißen, die uns vielleicht tiefere Schöpfungswunder verkünden, als alle teleskopischen Gestirne —, in die wir uns bis über die Ohren vergaffen: Doppelsterne.”
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