Todesfurcht.

Eine Skizze von Paul Bliß..
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 04.01.1903,
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 28.04.1904


Es war im Jahre 1870, am Abend des 17. August. Nahezu zehn Stunden waren sie unterwegs gewesen, mit kaum nen­nens­werthen Unterbrechungen; Mann­schaften und Thiere waren gleich hinfällig, und als sie nun ihr Ziel, das Gehöft Pierre Dubachets, das an der Chaussee nach Vionville lag, erreicht hatten, da ging es wie ein Aufathmen durch die ganze Schwadron: Gott sei Dank!

Sie saßen ab und brachten die Thiere, so gut es ging, zur Ruhe. Die Offiziere nahmen Quartier im Gutshause, die Mannschaft blieb unter freiem Himmel.

Es war ein köstlicher Abend. Die Sonne war bereits gesunken, aber der ganze Horizont flammte in purpurfarbener Lohe, und es war so weiß [recte wohl: heiß - D.Hrsgb.], als spüre man noch die segenspendenden Strahlen der Sonne.

Nachdem die Mannschaft abgekocht, und das einfache Mahl — seit zehn Stunden die erste Nahrung — verzehrt war, lagerte sich alles an den Wachtfeuern, um zu schlummern und Stärkung zu suchen für den nächsten Tag, — für den Tag, von dem jeder der hier Schlummernden es dunkel ahnte, daß er heiß und blutig würde, denn man erwartete eine Schlacht.

Bei den meisten dieser jungen Soldaten forderte die Natur ihr Recht, fast alle entschlummerten sie bald.

Einer aber lag da und wartete vergeblich auf den Schlaf. Der Gefreite Franz Schwarz hüllte sich fest in seinen Mantel; lang ausgestreckt lag er da, grub den Kopf in's Stroh, und versuchte es immer wieder und wieder, die Gedanken zu verscheuchen, — die Gedanken, die ihn den Schlaf nicht finden ließen, aber umsonst war alles; trotz seiner großen Müdigkeit fand er keine Ruhe, keine milde Wohlthat des Vergessens, keinen Schlummer, nach dem er so sehnend lechzte.

Die Nacht brach herein, eine wundervolle mondhelle Sommernacht, ringsum, so weit man hören und sehen konnte, eine heilige Stille, ganz leise nur und eintönig zirpten die Grillen, und manchmal auch drang ein röchelndes Schnarchen von den Gäulen herüber.

Alle Kameraden rings um ihn her schliefen bereits. Nur die Postenkette war in Bewegung.

Sonderbare Gefühle tobten ihm durch die Brust. Seit heute früh schon wich diese Unruhe nicht mehr von ihm. Etwas ganz Eigenartiges, etwas nie Gekanntes durchwühlte seine Seele, — die ungewisse Vorahnung, daß er vor einem grauenvollen Ereigniß stände.

Er wußte, daß morgen früh eine Schlacht zu erwarten war, — alle wußten es, — aber wohl keiner von allen dachte jetzt daran, sie alle waren jetzt von der großen wohlthuenden Müdigkeit übermannt, sie Alle waren schlafend hingesunken und verträumten ihre Todesgedanken, — er allein war wach geblieben, ihm allein war die Wonne des Vergessens versagt. Langsam,aber quälend sicher, schlichen die grauenhaften Gedanken zu ihm heran und umnebelten ihm das Hirn, ein Frösteln überlief ihn, sodaß er den Mantel fester an sich zog, er wühlte den Kopf in das Stroh, das ihm als Kopflager diente, aber umsonst, die Angst wurde immer größer.

Endlich ertrug er es nicht mehr. Er stand auf, zog den Mantel an und schlich sich zu der Postenkette. Er hatte dort einen Freund und Landsmann stehen, — zu ihm ging er.

Als der ihn kommen sah, blickte er erstaunt auf und rief: „Nanu, weshalb schläfst Du denn nicht?”

„Ich kann nicht,” erwiderte Franz zitternd, „ich will bei Dir bleiben.”

Der Andere schüttelte erstaunt den Kopf, sagte aber nichts. Sie zündeten sich die Pfeifen an, setzten sich gegenüber und brüteten dumpf vor sich hin, Keiner sprach ein Wort.

Nach einer Weile fragte der Posten: „Hast Du Nachricht von Hause?”

Stumm verneinte Franz.

Wieder minutenlanges Schweigen.

Endlich fragte er wieder: „Was ist Dir, Franz, hast Du etwas, was Dich drückt? Dann vertraue Dich mir an.”

In diesem Augenblick hörte Franz, wie einer der nächststehenden Posten das Liedchen summte: „Morgenroth, Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod ” u.s.w.

Und da stürzte er hinüber zu dem Freund, griff nach seiner Hand und rief mit zitternder Stimme: „Karl, wenn ich morgen falle, dann — —” Weiter kam er nicht, denn die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

„Unsinn!” rief der Freund, „weshalb solltest denn Du fallen? Red Dir doch nichts ein, Mensch! Die dämlichen Rothosen können ja alle nicht schießen.

„Ich fühl's, daß ich fallen werde,” entgegnete er mit bleichem Gesicht.

„Verrückt bist Du, Mensch! Hast wohl gar schon Furcht, was?”

Stumm nickte Franz nur.

Da lachte Karl laut und herzhaft auf: „Und Du willst ein Deutscher sein. Schwächling, Du! — Da, hier hast Du einen herzhaften Schnaps, reines Nordlicht, danach wird Dir besser werden!”

Er nahm die Flasche und that einen tiefen Zug daraus, und ihm wurde besser, — er fühlte ordentlich, wie ihm die Wärme durch den Körper rieselte.

Dann ging er zurück in's Lager und legte sich wiederum nieder,, um vielleicht jetzt den ersehnten Schlaf zu finden.

Und wirklich, nach fünf Minuten schlief er ein. Aber entsetzliche Träume quälten ihn. Er sah, wie der Feind sie überfiel, wie die wüthenden Franzosen ein grauenvolles Blutbad anrichteten, er sah sich verstümmelt als Krüppel daliegen und sah die Seinen aus der Heimath, die händeringend an seinem Krankenlager standen — grauenvolle, entsetzliche Bilder sah er.

Als er erwachte, war die Sonne schon aufgegangen.

„Ach!” athmete er befreit auf, lief nach einem nahe liegenden Teich und kühlte sich Stirn und Schläfen. Nun ward ihm wohler.

Noch schlief Alles rings umher. Mit wehmüthigem Lächeln sah er auf die lieben Kameraden — vielleicht sah er sie zum letzten Mal —, ein heißer Seufzer entrang sich seiner bedrückten Seele und im gleichen Augenblicke faltete er seine Hände zu einem stillen Gebet.

Plötzlich gedachte er wieder der Seinen daheim. Ach, die liebe Heimath! Jetzt steht gewiß der Weizen schon in Stiegen, voll und schwer neigen sich die goldgelben Aehren auf den Halmen — und wenn daheim heut' auch so ein schöner Tag anbricht, dann fahren sie die vollen Garben in die Scheune und dann regt sich Alles, was zu Hause ist, Alles muß mit heran, Alles schafft bis in die sinkende Nacht, um die goldene Frucht unter Dach und Fach zu bringen — und zum ersten Mal, so lange er lebt, kann er heute nicht mit dabei sein — und wer weiß, vielleicht wird er es nie mehr können, vielleicht werden sie ihn hier einscharren, hier, fern von der geliebten Heimath, hier in Feindesland — — — ein paar dicke Thränen fielen ihm auf seine Backen herab, und zum Sterben weh ward's ihm um's Herz.

Plötzlich ertönte ein Signal. Die Hilfstruppen, die man erwartete, rückten an.

Nun kam Leben in's Lager. Im Nu war Alles auf den Beinen.

Und von dem Augenblick an war er wie umgewandelt: er sah, wie Jeder der Anderen auf dem Platz war, und nun wollte er nicht hintenan stehen, die Macht des großen Augenblickes riß ihn mit fort.

Nichts mehr von Angst und Furcht war da. Es schien, als habe der neue Tag mit seinem neuen Sonnenschein einen neuen Menschen aus ihm gemacht. Mit einer wahren Hast betrieb er seine Vorbereitungen: es war, als könne er kaum die Zeit erwarten, bis sie vor den Feind kämen. Aus der Angst von gestern war nun ein todestoller Muth geworden, — Alles, was Kraft und Jugend und Wollen in ihm war, bäumte sich auf, — er schämte sich des kleinlichen Gefühls von gestern und lechzte nur danach, seine Kraft zu erproben.

Endlich dann begann die Schlacht.

Seine Aufregung war so gewaltig, daß er kaum die Zeit erwarten konnte, bis er in's Feuer kam.

Und als dann das Signal zum Angriff ertönte, stürzte er sich todesmuthig in's Gefecht hinein.

Todesfurcht.

Kriegskizze von Paul Bliß..
in: „Gablonzer Tagblatt” vom 19.08.1916


Nahezu zehn Stunden waren sie unterwegs gewesen, mit kaum nennens­werten Unterbrechungen. Mannschaften und Tiere waren gleich hinfällig, und als sie nun ihr Ziel, das Gehöft Pierre Dubachets, erreicht hatten, da ging es wie ein Aufatmen durch die ganze Schwadron: Gott sei Dank!

Es war ein köstlicher Abend. Die Sonne war bereits gesunken, aber der ganze Horizont flammte in purpurfarbener Lohe, und es war so heiß, als spüre man noch die segenspendenden Strahlen der Sonne.

Nachdem die Mannschaft abgekocht, und das einfache Mahl — seit zehn Stunden die erste Nahrung — verzehrt hatten lagerte sich alles, um zu schlummern und Stärkung zu suchen für den nächsten Tag, von dem jeder der hier Schlummernden es dunkel ahnte, daß er heiß und blutig würde, denn man erwartete eine Schlacht.

Bei den meisten dieser jungen Soldaten forderte die Natur ihr Recht, fast alle entschlummerten sie bald.

Einer aber lag da und wartete vergeblich auf den Schlaf. Der Gefreite Franz Schwarz hüllte sich fest in seinen Mantel; lang ausgestreckt lag er da, grub den Kopf ins Stroh, und versuchte es immer wieder und wieder, die Gedanken zu verscheuchen — die Gedanken, die ihn den Schlaf nicht finden ließen. Aber umsonst war alles; trotz seiner großen Müdigkeit fand er keine Ruhe, keine milde Wohltat des Vergessens, keinen Schlummer, nach dem er so sehnend lechzte.

Die Nacht brach herein, eine wundervolle, mondhelle Sommernacht, ringsum, so weit man hören und sehen konnte, eine heilige Stille, ganz leise nur und eintönig zirpten die Grillen, und manchmal auch drang ein röchelndes Schnarchen von den Gäulen herüber.

Alle Kameraden rings um ihn her schliefen bereits. Nur die Postenkette war in Bewegung.

Sonderbare Gefühle tobten ihm durch die Brust. Seit heute früh schon wich diese Unruhe nicht von ihm. Etwas ganz Eigenartiges, etwas nie Gekanntes durchwühlte seine Seele — die ungewisse Vorahnung, daß er vor einem grauenvollen Ereignis stände.

Er wußte, daß morgen eine Schlacht zu erwarten war — alle wußten es — aber wohl keiner von allen dachte jetzt daran, sie alle waren jetzt von der großen wohltuenden Müdigkeit übermannt, sie alle waren schlafend hingesunken und verträumten ihre Todesgedanken — er allein war wach geblieben, ihm allein war die Wonne des Vergessens versagt. Langsam schlichen die grauenhaften Gedanken zu ihm heran und umnebelten ihm das Hirn, ein Frösteln überlief ihn, sodaß er den Mantel fester an sich zog, er wühlte den Kopf in das Stroh, aber umsonst, die Angst wurde immer größer.

Endlich ertrug er es nicht mehr. Er stand auf, zog den Mantel an und ging zu einem Freund.

Als der ihn kommen sah, blickte er erstaunt auf und rief: „Nanu, weshalb schläfst Du denn nicht?”

„Ich kann nicht,” erwiderte Franz zitternd, „ich will bei Dir bleiben.”

Der andere schüttelte erstaunt den Kopf, sagte aber nichts. Sie setzten sich gegenüber und brüteten dumpf vor sich hin, keiner sprach ein Wort.

Nach einer Weile fragte der Freund: „Hast du Nachricht von Hause?”

Stumm verneinte Franz. Wieder minutenlanges Schweigen.

Endlich fragte er wieder: „Was ist dir, Franz, du hast etwas, was dich drückt? Dann vertraue dich mir an.”

In diesem Augenblick hörte Franz, wie einer der nächststehenden Posten das Liedchen summte: „Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod!”

Und da griff er des Freundes Hand und rief mit zitternder Stimme: „Karl, wenn ich morgen falle, dann — —” Weiter kam er nicht, denn die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

„Unsinn!” rief der Freund, „weshalb solltest denn du gerade fallen? Red dir doch nichts ein, Mensch!”

„Ich fühls, daß ich fallen werde,” entgegnete er mit bleichem Gesicht.

„Verrückt bist Du, Mensch! Hast wohl gar Furcht, was?”

Stumm nickte Franz nur.

Da lachte der andere laut und herzhaft auf: „Und Du willst ein Deutscher sein. Schwächling, Du! — Da, hier hast Du einen herzhaften Schnaps, reines Nordlicht, danach wird Dir besser werden!”

Er nahm die Flasche und that einen tiefen Zug daraus, und ihm wurde wirklich besser — er fühlte ordentlich, wie ihm die Wärme durch den Körper rieselte.

Dann ging er zurück und legte sich nieder, um vielleicht noch den ersehnten Schlaf zu finden.

Und wirklich, nach fünf Minuten schlief er ein. Aber entsetzliche Träume quälten ihn. Er sah, wie der Feind sie überfiel, wie die wütenden Franzosen ein grauenvolles Blutbad anrichteten, er sah sich verstümmelt daliegen und sah die Seinen aus der Heimath, die händeringend an seinem Krankenlager standen.

Als er erwachte, war die Sonne eben aufgegangen.

„Ach!” befreit athmete er auf. Das helle, warme Licht tat ihm wohl.

Erleichtert stand er auf, kühlte sich Stirn und Schläfen. Nun ward ihm wohler.

Plötzlich gedachte er wieder der Seinen. Ach, die liebe Heimat! Jetzt steht gewiß der Weizen schon in Stiegen, voll und schwer neigen sich die goldgelben Aehren auf den Halmen — und wenn daheim heute auch so ein schöner Tag anbricht, dann fahren sie die vollen Garben in die Scheune, und dann regt sich alles, was zu Hause ist, alles muß mit heran, Alles schafft bis in die sinkende Nacht, um die goldene Frucht unter Dach und Fach zu bringen — und zum ersten Male, so lange er lebt, kann er heute nicht mit dabei sein — und wer weiß, vielleicht wird er es nie mehr können, vielleicht werden sie ihn hier einscharren, hier, fern von der geliebten Heimat, hier in Feindesland — — — ein paar dicke Tränen fielen ihm auf seine Backen herab, und zum Sterben weh wards ihm ums Herz.

Plötzlich ertönte ein Signal. Die Hilfstruppen, die man erwartete, rückten an.

Nun kam Leben ins Lager. Im Nu war alles auf den Beinen.

Und von dem Augenblick an war er wie umgewandelt: er sah, wie jeder der anderen auf dem Platz war, und nun wollte er nicht hintenan stehen, die Macht des großen Augenblicks riß ihn mit fort.

Nichts mehr von Angst und Furcht war da. Es schien, als habe der neue Tag mit seinem neuen Sonnenschein einen neuen Menschen aus ihm gemacht. Aus der Angst von gestern war nun ein stolzer Mut geworden. Alles, was Kraft und Jugend in ihm war, lohte auf in heller Liebe zum Vaterland. Dann ein letzter Gedanke nach Hause. Und nun — hilf Gott! — vorwärts ging es zum Sturm!

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