Junggesellenfreuden.

Humoreske / Eine lustige Weihnachtsgeschichten Paul Bliß.
in: „Braunauer Kalender 1899”,
in: „Preßburger Zeitung” vom 05.07.1923,
in: „Niederösterreichischer Grenzbote” vom 16.04.1922,
in: „Wiener Hausfrau” vom 06.12.1908
in: „Freudenthaler Zeitung”, Sonntagsbeilage, 1921, Nr. 52

Es handelt sich hier um fünf Erzählungen, die den gleichen Titel tragen. Im „Braunauer Kalender” von 1899 und in der „Preßburger Zeitung” einerseits und in dem „Niederösterreichischer Grenzboten”, in der „Wiener Hausfrau” und in der „Freudenthaler Zeitung” andererseits findet sich im wesentlichen der gleiche Text.


Junggesellenfreuden.

Humoreske von Paul Bliß.
in: „Braunauer Kalender 1899”,
in: „Preßburger Zeitung” vom 05.07.1923

Eduard Franke war wüthend. Alles ging heute verkehrt, nichts gelang. Es war eben ein Unglückstag, einer von denjenigen Tagen, an denen sich alles verschworen zu haben scheint, unsere Pläne zu durchkreuzen, indem sich ein Mißgeschick an das andere reiht.

Es war ein Donnerstag, trüb und regendrohend mit kalren Nordwestwinden.

Und fleich am frühesten Morgen hatte das Pech für Eduard begonnen.

Als er sich um acht Uhr vom Lager erhob, stieß er gegen den Nachttisch, so daß die Wasserflasche umfiel, in Scherben dalag und das kalte Wasser über seine nackten Füße sich ergoß.

Fluchend rettete Eduard sich ins Trockene, kleidete sich schnell an und rief dann seine Wirthin, die mit einem Scheuertuch der Ueberschwemmung Einhalt gebot.

Das zweite Mißgeschick ereilte ihn, als er das Frühstück nehmen wollte. Die Theekanne war so heiß, daß er sich die Finger verbrannte, vor Schreck ließ er die Kanne sinken und zerschlug so das feine japanische Service.

Wüthend ging er in seinem Zimmer auf und ab. Nun kam die Morgenpost. Natürlich nur schlechte Nachrichten, unverhoffte Aergernisse und Enttäuschungen — anders konnte es auch heute ja nicht sein, denn es war eben ein Unglückstag.

Um zehn Uhr gieng er aus. Der Erste, der ihm entgegenkam, war ein Freund, der ihm zwanzig Mark abborgte. Resigniert lächelte Eduard. Der Zweite, der ihn ansprach, war sein Schneider, — er wollte gerade eine Wechsel präsentieren, — geduldig lächelnd ging Eduard mit dem Bekleidungskünstler zurück in seine Wohnung und zahlte den fälligen Betrag. Da gewahrte er zu seinem Erstaunen ein Briefchen auf dem Schreibtisch: seine Wirthin steigerte ihn um zehn Mark, aber auch dazu lächelte er nur noch, er war eben haute auf alles gefaßt.

Um elf Uhr gieng er zum zweiten Mal aus.

Durch die anderen Unfälle vorsichtig geworden, schritt er nun behutsam aus, um nicht gar mit Jemand zusammenzurennen oder zu fallen.

An der ersten Ecke aber rempelte er bereits eine alte Dame an. Jetzt kochte er vor Wuth, aber er mußte sich zusammennehmen und höflichst um Entschuldigung bitten.

„O, das macht gar nichts, Herr Franke,” versicherte die alte Dame lächelnd.

Eduard war starr — sprachlos blickte er die Alte an, — er besann sich absolut nicht, sie einmal gesehen zu haben.

„Vor vier Wochen, Herr Franke, beim Geheimrath Schwarz, — Sie entsinnen sich wohl nicht mehr, — Sie waren der Tischnachbar meiner Johanna” — und mit süßem Lächeln sah sie ihn an.

Da wußte er mit einmal alles. Gnade mir Gott! dachte er, das war die verliebte alte Jungfer, die so lang und so trocken wie eine Hopfenstange war, — und dann entgegnete er mit verbindlichen Worten: „Tausendmal Verzeihung, meine Gnädigste! ich habe so ein außerordentlich schlechtes Personengedächtnis!”

„O, bitte, bitte, Herr Franke, das kann ja vorkommen; aber vielleicht geben Sie uns auch einmal die Ehre, — meine Johanna würde sich sehr freuen.”

„Aber gern, gnädige Frau! wird mir eine Ehre sein!”

„Alle Donnerstag empfangen wir, — auf Wiedersehen, Herr Franke!” Lächelnd ging sie weiter.

Und Eduard versprach noch einmal, daß er kommen werde, als er aber wieder allein war, dachte er lächelnd: laßt Euch nur nicht die Zeit lang werden!

Nun wurde er aber mißtrauisch, und um noch anderen unangenehmen Begegnungen zu entgehen, beschloß er, nach Hause zurückzukehren. —

Daheim angekommen, wollte er lesen, kaum aber hatte er die ersten zehn Seiten hinter sich, als in der Etage über ihm die Clavierstunde begann. Mit der Ruhe war es aus. Das Buch flog in die Ecke.

Was nun? Nachdenkend stand er am Fenster und sah auf das Treiben der Straße. Plötzlich drang die Sonne durch die Wolken und warf ihr leuchtendes Frühlingslicht auf die noch eben so düstere Welt.

Da kam ihm eine Idee: schnell dinieren und dann einen Ausflug ins Freie machen, in den stillen Wald, der im Vorfrühling doppelt schön und reizvoll ist; da wird er einsam sein und sich über die lieben Nächsten nicht zu ärgern brauchen.

Sofort wurde die Idee ausgeführt. Er ging in sein Stammlocal. Aber o weh! es war ja Donnerstag und an diesem Tag der Woche steht Berlin im Zeichen der Erbsen-, Sauerkohl- und Pökelfleisch-Gerichte, und dies sonst so schmack- und nahrhafte Essen war Herrn Eduard Franke vom Arzt verboten worden, weil er einen schwachen Magen hatte; so wollte der vielgeplagte Mann sich eben ein anderes Menu zusammenstellen, als er von einem guten Freund angesprochen wurde.

„Was für ein jämmerliches Gesicht machst Du denn, Mensch!”

Eduard begrüßte den Freund und klagte ihm sein Leid.

„Ja,” entgegnete dieser lächelnd, „das sind die Junggesellen­freuden. Hättest Du eine Frau und einen genütlichen Hausstand, dann wären Dir solche Sorgen erspart geblieben, so aber, als eingefleischter Junggeselle, mußt Du Dich über das Kneipen-Essen ärgern.”

Eduard seufzte nur und musterte noch immer die Speisenkarten.

„Nun, obschon Du es zwar nicht verdienst,” sprach der Freund lachend weiter, „will ich Dir heute doch eine Freude bereiten: sei heute mein Gast. Ich habe gestern auf der Jagd meines Schwiegervaters einen kapitalen Hirsch geschossen und den verzehren wir heute bhei meinem Schwiegervater. Du bist feierlichst dazu geladen. Um drei geht's los. Widerspruch gilt nicht.” Fort war er.

Und Eduard ging nach Hause und kleidete sich um. Natürlich ging auch das nicht glatt von statten. Am Oberhemd riß er ein Knopfloch aus und auf die helle Kravatte verschüttete er das rosenrote Zahnwasser, aber um zwei Uhr war er doch fertig zum Fortgehen.

Er machte noch einen kleinen Spaziergang, denn das Wetter war jetzt herrlich geworden, und um drei Uhr trat er in das Haus, in dem der bewußte Herr Rentier Schmidt die erste Etage bewohnte. Als er aber die eine Treppe erstiegen hatte, las er am Thürschild einen anderen Namen. Also wieder herunter. Doch der Portier war fortgegangen und die alte Frau wußte nur zu sagen, daß Herr Schmidt verzogen sei, genaueres wußte sie nicht.

Eduard stöhnte, denn er hatte bereits ganz guten Hunger. Dann ging er in die nächstgelegene Konditorei, trank einen Kognak und schlug das Adreßbuch auf. Natürlich ohne das erwünschte Resultat, denn bekanntlich findet man den Namen Schmidt an die sechstausend Mal im Adreßbuch verzeichnet.

Eben wollte er wieder fortgehen, als ein junger Herr mit blondem, lockenumwallten Haupt an ihn herantrat: „Ach, verehrter Herr Doctor,” bat der Jüngling, „das trifft sich gut! Ich habe soeben hier ein neues Frühlingsgedicht beendet. Darf ich es Ihnen schnell mal vorlesen?”

Eduard sah ihn entsetzt an, dann aber antwortete er schnell: „Erstens bin ich nicht Doktor ud zweitens habe ich so großen Hunger, daß ich von Ihrem Frühlingsgedicht wohl kaum satt werden könnte.” Damit empfahl er sich.

Nun n ahm er einen Wagen und fuhr nach der Wohnung seines Freundes. Aber natürlich war dieser bereits fortgegangen. Dafür aber er fuhr er nun wenigstens die neue Wohnungs­adresse des alten Papa Schmidt. Mit knurrendem Magen machte er sich auf den Weg.

Doch kaum trat er aus dem Hause heraus, als ein Kutschwagen im schnellsten Galopp vorübersauste und dadurch das in großen Pfützen stehende Regenwasser hoch aufspritzen machte, so daß es Anzug, Hemd und Gesicht des Herrn Eduard recht unangenehm beschmutzte.

Der geplagte Mann lächelte jetzt nur noch. Er war jetzt schon so mürbe gemacht und in sein Mißgeschick dieses Unglückstages so ergeben, daß er sich mit philosophischem Gleichmuth abfand. Also ging er in das nächstgelegene Hotel, gab dem Portier ein gutes Trinkgeld und ließ sich reinigen.

Um halb vier Uhr endlich war er ohne Unfall bei Herrn Rentier Schmidt.

„Tausendmal Entschuldigung!” bat er.

Doch der alte Herr rief lachend: „Aber nein, mein lieber Herr Franke, wir müssen um Entschuldigung bitten! nämlich unsere Köchin hat den Hirschbraten total verbrennen lassen — sie ist nämlich verliebt, die gute Marie — und da muß ich Sie nun schon bitten, mit unserem bescheidenen Donnerstag-Gericht vorlieb nehmen zu wollen.”

Eduard, dem ärmsten, begann es zu schwindeln, — „Erbsen, Sauerkohl und Pöckelfleisch?” fragte er mit stockender Stimme.

„Ja wohl, ganz delikat sogar!” entgegnete der alte Herr.

Nun, Eduard ertrug auch das noch, — er aß, weil er Hunger hatte; dann aber that er einen heimlichen Schwur, sein elendes Junggesellentum aufzugeben.

Hoffentlich hat er Wort gehalten!

Junggesellenfreuden.

Eine lustige Weihnachtsgeschichte von Paul Bliß.
in: „Niederösterreichischer Grenzbote” vom 16.04.1922,
in: „Wiener Hausfrau” vom 06.12.1908,
in: „Freudenthaler Zeitung”, Sonntagsbeilage, 1921, Nr. 52

Herr Doktor Lastmann haßte die Feste im allgemeinen, das Weihnachtsfest aber im besonderen, weil es ein Fest für die Familie, nicht aber für Junggesellen ist.

Und Herr Doktor Lastmann war Junggeselle.

Es war heiliger Abend, und er hatte noch eine Unmenge von Besorgungen zu machen.

Ach, er war wütemd!

Nun stand er da und starrte den langen Zettel an, denn er wußte nicht, wo er mit den Einkäufen beginnen sollte; zwar lag diese Aufzeichnung schon seit acht Tagen auf seinem Schreibtisch, aber wie gewöhnlich hatte er es bis zur letzten Minute aufgeschoben, und deshalb war ihm jetzt die ganze Geschichte um so unbehaglicher.

Wütend durchlas er die Reihen. Da standen in bunter Folge: ein Kaufladen, ein paar Stiefel, eine Torte, ein Schaukelpferd, eine Kiste Zigarren, ein Sonnenschirm, Schlittschuhe, Tuschkasten, Zinnsoldaten, Rotwein, drei Stollen, Strümpfe, Bilderbuch und zuletzt gar noch eine Puppenstube.

Verärgert lachte er auf. Das waren nun Junggesellen­freuden: die ganze Verwandtschaft mußte er beschenken, denn allen war er so halb und halb verpflichtet, bei allen war er zu Gast gewesen und hatte Gefälligkeiten von ihnen genossen; und nun mußte er sich dafür revanchieren.

„Na!” Er tat einen tiefen Seufzer, raffte sich auf und machte sich endlich auf den Weg. Natürlich ging er in eins der modernen Warenhäuser, in denen man sich ja vom Kopf bis zur Zehe equipieren und mit allem versehen kann, was das Herz sich wünscht und der Sinn begehrt.

Aber ehe er dieses Warenhaus erreichte, mußte er einen weiten Weg machen, denn er wohnte in einem stillen, vornehmen Viertel, und da mußte sich der geplagte, verärgerte Mann durch endlose Straßen hindurchdrängen, um Weihnachtseinkäufe zu machen. So stieß und rannte er alle Augenblicke gegen einen mit Paketen beladenen Passanten an, wodurch natürlich seine Laune nicht besser wurde.

Endlich aber erreichte er sein Ziel. Doch, o weh! Als er nun das Warenhaus betrat, drängte sich ihm eine solche Flut von Menschen entgegen, daß er gleich wieder umkehren wollte; allein er besann sich sofort eines Besseren, indem er sich sagte, daß es am heiligen Abend sicher in anderen Geschäften ebenso voll wäre, und weil er doch nun einmal kaufen mußte, drängte er sich also wütend, aber tapfer durch.

Als er nun so hilflos dastand, bald seinen langen Zettel und bald die aufgestellten Waren ansah, bemerkte er, wie eine Dame, die ihm bekannt vorkam, ihn beobachtete und sich über seine Hilflosigkeit zu amüsieren schien.

Natürlich ärgerte ihn das von neuem, und so kehrte er sich wütend um und ging zu einer anderen Verkaufsabteilung weiter.

Als er sich so eine Stunde hatte schieben, drängen und stoßen lassen, waren endlich seine Käufe erledigt, und nun steuerte er, beladen mit Paketen und gefolgt von zwei ebenso beladenen Dienern, dem Ausgang zu, um eine Droschke zu ergattern.Da er aber die Augen immer auf die Tür gerichtet hatte, sah er nicht, was vor ihm geschah; und so rannte er plötzlich so heftig gegen jemand an, daß einige seiner Pakete fielen und deren Inhalt total zerbrach.

Und siehe da, — wieder war es jene Dame, die ihn vorher schon geärgert hatte! Auch diesmal lächelte sie ihn wieder an, — und da er nicht um Entschuldigung bat, so tat sie dies.

Er war so aufgebracht, daß er in der Tat nichts sagen konnte. Und als er wieder zu sich kam, war sie längst fort.

Nun flcuhte er ntürlich wieder, mußte aber dennoch die zerbrochenen Gegenstände noch einmal kaufen, sich noch einmal schieben, drängen und stoßen lassen; und als er dann endlich glücklich, fast zugedeckt von Paketen, in seinem Wagen saß, da war er wirklich halb krank vor Aufregung und Aerger. Und natürlich entlud sich sein groll nun wieder auf das Weihnachtsfest.

*           *           *

Um sieben Uhr am heiligen Abend hatte er glücklich alle seine Geschenke an die richtigen Adressen gebracht, war ein halbes dutzendmal dafür umhalst und ebenso oft abgeküßt worden, doch den Feierlichkeiten hatte er sich, wie gewöhnlich, schnell entzogen. Nein, er wollte keinen ausgeschmückten brennenden Weihnachtsbaum sehen und den Kinderjubel nicht hören! Das war etwas für Familienväter, aber nicht für Junggesellen! Und deshalb hatte er bei allen Verwandten nur seine Geschenke pflichtschuldigst abgegeben; sowie aber die Feier der Bescherung begann, machte er sich aus dem Staube, um sich nicht rühren zu lassen.

Und nun war er alle seine Gaben los und wieder frei und ledig, — ach, er atmete ordentlich glücklich auf!

Es war ein Viertel nach Sieben, und er lief schnell drauf los, um nach Hause in sein Zimmer zu kommen. Denn es war bitterkalt draußen, und ein scharfer Wind wehte den Schnee von den Dächern.

Aber als er endlich daheim sein Zimmer betrat, wurde er wiederum wütend. Es war kalt da drinnen, bitterkalt! Sofort ließ er das Mädchen kommen.

„Warum ist hier nicht nachgelegt worden? Es ist ja kalt wie im Hundestall!” fuhr er das Mädchen wütend an.

Und zitternd antwortete die Kleine: „Wir dachten eben, der Herr Doktor würden doch heute am Heiligabend nicht zu Hause bleiben.”

„Dachten, dachten! Wenn Sie schon denken, gibt's allemal eine Dummheit! — Wo ist Frau Müller?”

Die Madame ist fortgegangen, zur Bescherung natürlich! Wer bleibt denn heute auch allein zu Hause?”

Wütend blickte er sie an, dann schrie er: „Es ist gut, Sie können gehen!”

Achselzuckend ging das Mädchenhinaus.

Er aber lief grollend umher. Seine Stimmung war verdorben. Was sollte er jetzt allein hier? Wenn er noch heizen ließ, würde eine Stunde vergehen, ehe es warm wäre, und inzwischen hätte er sich stark geärgert. Nein, lieber hinaus, ganz gleich wohin. Und so nahm er denn Hut und Mantel und lief wieder davon.

Als er auf die Straße trat, leuchtete ihm von drüben her ein helles weißes Licht entgegen, — die Laterne einer kleinen Konditorei, der einzigen dieses stillen Stadtviertels.

„Na,” sagte er zu sich, „retten wir uns da hinein; wenigstens werde ich da drinnen heute abend ungestört sein und ruhig lesen können!”

Und so ging er in das kleine Kaffeehaus.

Er war auch wirklich ganz ungestört, denn er war der einzige Gast in dem Lokal; nur ein Verkaufsfräulein stand gähnend und schläfrig hinter dem Ladentisch, und eine einzige kleine Gasflamme erleuchtete den hinteren Leseraum nur sehr spärlich.

Aber daran kehrte sich Doktor Lastmann nicht. Er zündete, ohne erst lange zu fragen, die anderen zwei Flammen auch noch an, bestellte sich einen starken Grog, brannte sich eine gute Zigarre an und machte es sich dann so bequem, als es unter den obwaltenden Umständen eben möglich war.

Doch kaum saß er, da bemerkte er, daß er doch nicht der einzige Gast war; denn nebenan im „Damenzimmer”, das nur durch eine halbhohe Holzwand von dem Leseraum getrennt war, räusperte sich eben jemand.

„Schau, schau,” lächelte er. „Da bin ich doch wirklich gespannt, was da drinnen für 'ne alte Tante sitzen wird!” So behutsam wie möglich ging er an die Holzwand, stieg auf einen Stuhl und sah ein ganz klein wenig hinüber in das „Damenzimmer”. Und siehe da, wieder war es die Dame, die ihn heute früh ausgelacht hatte!

Jetzt wurde er aber doch stutzig und begann nachzudenken. Denn das Gesicht kam ihm doch gar zu bekannt vor; und während er nun so eifrig seine Gedanken zusammenzubringen suchte, kam er nach und nach zu der Einsicht, daß er die Dame ja kannte; sie war ein nicht mehr ganz junges Fräulein, eine Klavierlehrerin, mit der er füher mal in einer bekannten Familie zusammen eingeladen war. Gewiß, so war es! Jetzt sah er alles sonnenklar. Diese Blamage! Nicht mal entschuldigt hatte er sich heute früh. Also gutmachen, nachholen!

Kurz entschlossen ging er nebenan zu dem Fräulein hinein, postierte sich vor ihrem Tisch und begann: „Mein gnädiges Fräulein, der Zufall will, daß ich meine heute früh versäumte Entschuldigung nachholen kann. Ich bitte hiermit feierlichst um Verzeihung für den Schreck, den ich Ihnen heute vormittag eingejagt habe!”

Lächelnd dankte sie, lud zum Sitzen ein und erwiderte: „Ich sah wohl, Herr Doktor, daß Sie mich nicht erkannten. Aber ich muß mich übrigens auch entschuldigen; ich habe Sie ausgelacht, nicht wahr?” Mit heiteren Augen sah sie ihn an.

Und er, ebenso heiter: „Gewiß haben Sie das! Und ich war wütend darüber!”

„Mein Gott, Sie sahen auch zu komisch aus in all Ihrer Empörung.”

„Das glaube ich! — Ein wütender Junggeselle mit einem ellenlangen Besorgungszettel —, übrigens Stoff für ein Witzblatt!” Auch er wurde heiter, angesteckt durch ihre Lachlust.

„Na, und nun haben Sie es ja auch geschafft.”

„Gott sei Dank! Jetzt kann ich in Ruhe meine Heiligabendfeier abhalten! Aber wie kommt es, mein gnädiges Fräulein, daß auch Sie hier am heutigen Abend allein sind?!”

„Ja, es geht mir wie Ihnen, Herr Doktor. Ich habe auch keine Angehörigen; und bei fremden Menschen komme ich mir an einem Abend, wie dem heutigen, erst recht verlassen vor. Weihnachten kann man eben wirklich nur in der eigenen Familie feiern.”

Er nickte und schwieg ein Weilchen. Dann: „Wohnen Sie denn jetzt auch hier in unserem Viertel, gnädiges Fräulein?”

„Bereits seit dem ersten Oktober. Sie haben mich auch schon oft genug getroffen, aber eben nicht wiedererkannt.”

„Ja, entschuldigen Sie das, bitte! Sie wissen ja, die Vergeßlichkeit ist uns Gelehrten ja so oft angedichtet, daß wirklich Wahres daraus geworden ist.”

Sie lächelte wieder und nickte.

Dann er: „Also sind wir zwei arme Menschen, die nun hier in diesem ebenso reizenden wie kalten Kaffeehaus den Heiligabend feiern sollen.”

„Ja, kalt ist es hier,” meinte sie, „das ist wahr!”

„Besonders hier drinnen! Kommen Sie nur mit nach nebenan, da habe ich alle drei Gasflammen angezündet, das heizt schon. Und dann trinken Sie mit mir einen rechtschaffenen Grog oder einen guten Tee. Ja, das lasse ich mir nicht nehmen! Sie sind mein Gast! ich will abbitten für heute früh. Und dann sollen Sie mal sehen, wie schön warm Ihnen werden wird.!”

Sie kam also mit ihm ins Lesezimmer, wo sie es sich in einer Ecke am Ofen recht nett und gemütlich machten. Und während sie nun so lustig zusammen plauderten und das dampfende Getränk schlürften, machte er mit einem Male die Entdeckung, daß so'n Weihnachtsfest eigentlich doch 'ne recht nette Erfindung sei, wenn man es in so angenehmer und lustiger Gesellschaft verlebte.

Und während sie sich köstlich unterhielten, drang plötzlich Kindergesang zu ihnen her: Stille Nacht, jeilige Nacht — —

Da stand sie auf, schob die Gardine an der Glastür zurück, und da sahen sie den brennenden Weihnachtsbaum des Konditors, der im hinteren Zimmer seiner Familie bescherte.

„na, was wollen wir noch mehr!” meinte sie lächelnd, „Da haben wir ja alles, was zu einem richtigen heiligabend gehört.”

Und er, fast ausgelassen heiter: „Ja, nur die Geschenke für uns fehlen noch!”

„Ach, die denken wir uns!!”

„Aber wozu denn! Es ist ja ales da!” — Und kurz entschlossen stand er auf, ging vorn in den Konditorladen und kam gleich darauf zurück mit einem großen Marzipanherzen, das er ihr lachend überreichte: „Sie gestatten, mein gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen mein Herz verehre!”

Sie erötete, nahm es aber an und dankte lächelnd. Dann sagte sie ein wenig unsicher: „Und was soll ich Ihnen nun schenken?”

Da sah er sie mit leuchtenden Augen an und erwiderte: „Ihre Freundschaft!”

So wurden sie also Freunde, die beiden Menschen, die hier in dem versteckten Winkelchen der großen Stadt ihren Weihnachts­heiligabend froh und heiter zusammen feierten. Und als sie sich um neun Uhr trennten, da sagten sie sich mit leuchtenden Augen: „Auf Wiedersehen!”

Als dann eine halbe Stunde später Doktor Lastmann in sein kaltes Zimmer kam, wollte er erst wieder wütend werden. Schnell aber tröstete er sich mit dem Gedanken: „Na, die längste Zeit warst du ein Junggeselle; nun soll es aber bald anders werden!”

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