Zeit- und Unzeitgemäßes

(Harmlose Plaudereien.)

An der Theaterkasse.

Ein Erlebnis: Zwei Personen und ein Rosenhut.
Von Freiherr von Schlicht.
in: „Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 1.Okt. 1922

Ich stehe an der Theaterkasse Queue. Ob in Weimar oder sonst irgendwo, weiß ich nicht mehr. Nach anderthalb Stunden habe ich mich soweit herangequeuet, daß nur noch eine Dame mit einem Rosenhut vor mir steht. Jetzt ist sie an der Reihe, ihre Wünsche zu äußern, dann komme ich gleich daran.

Der Rosenhut, sehr von oben herab und sehr schnell sprechend: „Ich bitte um zwei selbstverständlich nur allererste Plätze im ersten Saalplatz für die „Tannhäuser”-Vorstellung am nächsten Sonntag.”

Der Kassierer sehr liebenswürdig: „Ich bedauere, damit nicht dienen zu können, „Tannhäuser” war bereits am vergangenen Sonntag, am nächsten ist „Undine”.

Der Rosenhut macht vor Entsetzen ganz große Glubschaugen, bekommt außerdem die Maul- und Talsperre und stottert endlich: „Wa-wa-was? Das ist doch aber gar nicht möglich!”

Der Kassierer wie oben: „Es ist Tatsache, meine Dame.”

Der Rosenhut, noch schneller als vorhin sprechend: „Aber ich sage Ihnen trotzdem, Sie müssen sich irren, denn als meine Freundin mir gestern aus der Zeitung den Wochenspielplan des Theaters vorlas, sagte sie sofort zu mir: „Emmy, ich heiße nämlich Emmy, da gehst Du gleich morgen vormittag an die Kasse und besorgst uns zwei Billets zum „Tannhäuser”. Und nun stehe ich an der Kasse, nun will ich die Billetts besorgen und nun gibt es keine. Was mach ich da nur?”

Der Kassierer wie oben, zuckt bedauernd die Achseln, was soviel heißt wie: Wenn Sie das nicht wissen, meine Dame, kann ich das erst recht nicht wissen.

Ich, es voraussehend, daß die Dame sich das, was sie nun machen soll, noch sehr lange überlegen wird, ihr um meiner selbst willen zu Hilfe kommend: „Wenn ich mir einen Rat erlauben dürfte, Gnädigste —”

Der Rosenhut, mich von oben herab unsagbar verächtlich betrachtend: „Mein Herr, ich verbitte mir, daß Sie sich in meine Angelegenheiten mischen, wer und was sind Sie überhaupt?”

Ich ganz bescheiden: „Ein Mensch.”

Der Rosenhut sehr verächtlich: „Dann sind Sie auch was rechtes!” (zu dem Kassierer): „Bevor ich weiter mit Ihnen verhandle, muß ich bitten, mich vor den Beleidigungen dieses Menschen zu schützen.”

Der Kassierer wirft mir, den er kennt, einen bittenden Blick zu, den ich nickend erwidere, was soviel heißt: Bis auf weiteres halte ich die Gusche.

Der Rosenhut zu dem Kassierer: „Was sagten Sie doch, was am nächsten Sonntag gegeben wird?”

Der Kassierer wie oben: „Die Oper „Undine”, meine Dame.”

Der Rosenhut sehr schnippisch: „Daß das eine Oper ist, weiß ichn natürlich allein, das hätten Sie mir wirklich nicht erst zu sagen brauchen, aber für die Vorstellung kann ich kein Billett nehmen, denn die Oper kenne ich ja in- und auswendig. Nein, dafür gebe ich kein Geld aus, nicht eine Mark, oder (sich plötzlich ganz anders besinnend), was meinen Sie, soll ich mir die Oper trotzdem oder gerade weil ich sie so genau kenne, noch einmal mit meiner Freundin zusammen anhören?”

Der Kassierer: „Ich glaube, meine Dame, das müssen Sie am besten allein entscheiden.”

Der Rosenhut verzweifelt, nervös und beleidigt: „Ja aber wozu sind Sie denn eigentlich da, mein Herr, wenn Sie den Käufern nicht einmal mit Rat und Tat zur Seite stehen?”

Der Kassierer wie oben: Schweigt.

Der Rosenhut, von einer plötzlichen Hoffnung befallen: „Aber nicht wahr, es wäre doch immerhin möglich, daß der Spielplan noch geändert wird und daß auch am nächsten Sonntag „Tannhäuser” ist?”

Der Kassierer immer noch wie oben: „Das ist ganz ausgeschlossen, meine Dame.”

Der Rosenhut zweifelnd und geringschätzend, beinahe impertinent: „Das können Sie doch aber so genau nicht wissen.”

Der Kassierer, anstatt nun endlich, wie ich es an seiner Stelle schon lange getan hätte, von einem Stuhl in seinem Kassenraum ein Bein abzubrechen und damit der Dame eins auf den Hut zu geben, immer noch mit der größten Liebenswürdigkeit: „Doch, meine Dame, das weiß ich sehr genau.”

Der Rosenhut: „Und darf ich auch wissen, woher Sie das so genau wissen, damit ich auch weiß, ob Sie es auch ganz bestimmt wissen?”

Ich, vor mich hin murmelnd: „Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn es hoch kommt, sind es achtzig Jahre und wenn es köstlich gewesen, dann ist es ein nutzlos langes Herumstehen an der Theaterkasse gewesen.”

Der Rosenhut mehr als empört und entrüstet: „Mein Herr, wollen Sie damit etwa sagen, daß ich mich nicht nach Möglichkeit beeile, und den Kassierer aufhalte? Das finde ich einfach unerhört. (Zu dem Kassierer:) Bitte wollen Sie es mir noch sagen, woher Sie es denn so genau wissen, daß am nächsten Sonntag keinesfalls „Tannhäuser” wiederholt wird?”

Der Kassierer immer noch wie oben, immer noch ohne Stuhlbein in der Hand: „Der Sänger des „Tannhäuser” ist erkrankt, meine Dame.”

Der Rosenhut mehr als verwundert: „Aber das ist doch kein Grund, „Tannhäuser” nicht zu geben! Da lassen Sie sich doch einfach einen Sänger von außerhalb kommen, es gibt doch jetzt so viele, die brotlos herumsitzen, und die froh sind, wenn sie irgendwo ein Gastspiel absolvieren können. Ginge denn das nicht zu machen?”

Nächsten Sonntag ist „Undine” meine Dame.”

Der Rosenhut steht, wie ich durch einen Blick auf meine Uhr feststelle, siebzehn kurze Minuten in einem schweren inneren Kampf, dann endlich, kurz entschlossen: „Also schön, dann geben Sie mir bitte für die Oper zwei Plätze, aber so viel Geld wie für „Tannhäuser” kann ich dafür natürlich nicht ausgeben, das ist die Musik mir nicht wert. Also bitte statt erster Saalplatz zweiter Saalplatz.”

Der Kassierer: „Der Platz ist ausverkauft, meine Dame.”

Der Rosenhut wütend: „Wie können Sie das wissen? Sie haben doch noch gar nicht nachgesehen.”

Der Kassierer immer noch wie oben: „Das habe ich auch nicht nötig, meine Dame, das weiß ich so.”

Der Rosenhut verzweifelt: „Und es sind wirklich keine zwei Sitze im zweiten Saalplatz mehr da?”

Der Kassierer, der sich immer noch nicht aufgehängt hat: „Nicht ein einziger, meine Dame.”

Der Rosenhut, bittend, schmeichelnd, flehend und kokettierend: „Aber vielleicht finden Sie doch noch zwei gute Plätze, wenn Sie noch einmal in aller Ruhe nachsehen möchten.”

Der Kassierer immer noch wie oben, deutet mit der Hand auf die Fächer seines leeren Billettschrankes: „Sie sehen, meine Dame, ausverkauft.”

Der Rosenhut dem Weinen nahe: „Aber was mache ich nur da, denn gerade „Undine” hätte ich mir nach so langer Zeit für mein Leben gern einmal wieder angehört.”

Der Kassierer: „Vielleicht nimmt die Dame doch zwei Sitze im ersten Saalplatz, ich habe ganz zufällig noch zwei sehr gute Plätze, die heute morgen zurückgegeben worden sind.”

Der Rosenhut freudestrahlend: „Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt, denn wenn überhaupt Karten zurückgegeben werden, bekommen Sie doch ganz sicher bis zum Sonntag auch noch zwei Sitze im zweiten Saalplatz zurück, die Sie dann bitte für mich reservieren wollen. Aber natürlich nur in der ersten Reihe und darunter unbedingt ein Eckplatz und dann bitte von der Bühne aus links, denn rechts kann meine Freundin nicht sitzen, sie behauptet, auf der linken Seite wäre die Akustik besser.”

Der Kassierer bricht immer noch kein Stuhlbein los, sondern bleibt genau so ruhig und liebenswürdig wie bisher: „Und wenn nun solche Plätze, wie Sie sie wünschen, nicht zurückgegeben werden, meine Dame?”

Der Rosenhut ganz verzweifelt: „Ja, das weiß ich so schnell wirklich nicht, das muß ich mir erst einen Augenblick überlegen.” (Sie überlegt sich das nach meiner Uhr zweiundzwanzig und eine halbe Minute), dann meint sie endlich: „Ich glaube, es ist doch wohl das beste, ich bespreche das zu Hause erst noch einmal mit meiner Freundin und komme dann morgen wieder.”

Ich: „Gehen Sie glücklich und kommen Sie lieber nicht wieder, denn ich glaube, das Wiedersehen kann der Herr Kassierer abwarten.”

Der Rosenhut: „Unverschämter Mensch!” (Ab!)

zu mir: „Sie wünschen, Herr von Schlicht?”

Ich: „Meine schriftlich bestellten Billetts und außerdem wünsche ich mir Ihre Nerven.”

Der Kassierer: „ Ich habe keine und ich darf auch keine haben.”

Ich: „Und wenn Sie doch welche hätten?”

Der Kassierer schweigt, aber ich glaube in seinen Augen zu sehen: dann säße ich entweder schon längst in der Gummizelle, oder wegen Mordes, begangen an einem weiblichen Wesen, im Zuchthaus.

Der Rosenhut noch einmal zurückkommend: „Aber nicht wahr, nächsten Sonntag ist „Undine” doch ganz bestimmt, darauf kann ich mich verlassen? Und dann wollte ich noch fragen —”

Ich: Stoße einen Schrei des Entsetzens aus und schlage ohnmächtig lang hin.


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© Karlheinz Everts