Zeit- und Unzeitgemäßes

(Harmlose Plaudereien.)

Der Dollarkoller.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 26.Aug. 1923

Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Namen der Krankheiten, an denen wir leiden. Vor etwa dreißig Jahren hatte alle Welt die Influenza, dann trat an deren Stelle die Grippe, und heute haben alle den Dollarkoller, obgleich es den meisten wohl lieber wäre, sie hätten den Kollerdollar, denn der hat ja auch schon längst den Koller, der gehört in die Klapsanstalt und müßte in die Zwangsjacke gesteckt werden, damit ihm seine wahnsinnigen Springereien für alle Zeiten abgewöhnt würden.

Nicht jeder von uns hat seinen Kollerdollar, aber jeder hat seinen Dollarkoller. Man ist des Morgens noch nicht mal aufgewacht, dann fragt man sich schon: Wie wird der Dollar heute stehen? Abends, wenn man in seinem keuschen Bett liegt, fragt man sich voller Angst: Wie wird er morgen stehen? Und wenn das Bett in Ehren oder in Unehren nicht ganz keusch ist, dann schmiegt die Gattin, die teure, oder die Freundin, die noch teurere, sich zärtlich an den Heißgeliebten und bittet mit weicher Stimme: „Vergiß nicht, daß Du mir versprochen hast, mir meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, wenn der Dollar morgen an der Börse steigt, und nicht wahr, Schatzi, er wird steigen, denn Du weißt ja gar nicht, wie lieb ich Dich habe und wie leidenschaftlich ich die Erfüllung meines Lieblingswunsches herbeisehne.”

Wer früher in Not war, betete zum lieben Gott, heute betet man zum Dollar, damit er steigt oder fällt. Wenn man früher um ein süßes kleines Mädchen warb, das man, wenn auch nicht gerade für immer, so doch für kürzere Zeit, in freier Liebe zu heiraten gedachte, dann fragte das, bevor es seinen letzten, von Anfang an ganz unnützen und nur künstlich gemachten Widerstand aufgab, mit seinem reinsten, kindlichen, keuschen Augenaufschlag und mit einschmeichelnder Stimme: „Schenkst Du mir aber auch wirklich ein Paar schöne seidene Strümpfe?” Und wenn man ein Rosenkavalier war und die zehn Mark, oder was die Strümpfe sonst kosteten, besaß, dann erfüllte man natürlich auch den Wunsch der holden Maid. Seidene Strümpfe sind auch heute noch der Inbegriff der Seligkeit für junge Mädchen, die wollen sie auch heute noch geschenkt haben, aber da sie mit Papiergeld kaum noch zu bezahlen sind, flüstert die holde Maid jetzt, ehe sie sich ergibt: „Hast Du aber auch Dollar?” Und ich glaube, wenn Herr v.Goethe heute seinen „Faust” schriebe, der ließe in der Gartenszene das Gretchen ihren Heinrich nicht fragen: „Glaubst Du an Gott?”, sondern: „Glaubst Du, daß der Dollar noch höher steigen wird?” Und am Spinnrocken würde Gretchen klagen und seufzen: „Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer — ich hab' nicht 'nen einzigen Dollar mehr.”

Die Dollarbazillen verpesten die Luft und der Dollarkoller macht uns mit der Zeit alle verrückt. Und dabei hat es eine schöne glückliche Zeit gegeben, in der man sich den Dreck um den Dollar kümmerte. Man hatte in der Schule, wenn man an dem Tage nicht gerade fehlte, gelernt, daß in Amerika die Einheitsmünze Dollar hieße und daß der etwas mehr als vier Mark von unserem Geld wert sei. Damit punktum. Von den gewöhnlichen Sterblichen besaß keiner einen solchen Dollar und die meisten hatten überhaupt nie einen gesehen. Ich selbst sah den ersten Papierdollar vor vielen Jahren, als ich in Marienbad zur Kur war, in den Händen einer schönen jungen Amerikanerin, der ich sehr leidenschaftlich, aber leider ganz ohne den gewünschten Erfolg den Hof machte, die mir aber trotzdem, einem plötzlichen Einfall folgend, diese Dollarnote in mein Portemonnaie steckte, damit sie mir Glück brächte, und damit ich sie nie vergäße, wobei es ungewiß blieb, wer mit dem letzten „sie” gemeint war, ob die Note oder die junge Amerikanerin (der Teufel soll mich holen, wenn ich noch eine Ahnung hätte, wie sie hieß, obgleich ich ihr natürlich schwur, noch in der Sterbestunde ihren Namen zu stammeln und zu bammeln.) Viele, viele Jahre habe ich den Dollar in der Tasche getragen, bis das Papiergeld eines Tages so zusammengeschrumpelt, eingetrocknet, dreckig und schmierig war, daß eine junge Freundin, die ich inzwischen gefunden und der ich mit mehr Erfolg den Hof gemacht hatte, mir eines Abends kategorisch erklärte, ich käme ihr mit diesem Schein in der Tasche selbst so dreckig und schmierig vor, daß sie mich nicht mehr küssen könne. Da zogen wir uns zusammen sechs Paar Handschuhe an, nahmen die Feuerzange zur Hand und warfen den Dollar in den Ofen. Ich Quadratochse! Denn nun jammere ich jeden Tag um den damals verbrannten Dollar. Vierfacher Millionär wäre ich mindestens, wenn ich den heute noch besäße, und wer weiß, vielleicht sogar bald zehnfacher, denn es gibt kluge Leute, die da allen Ernstes behaupten, der Dollar würde sich noch auf zehn Millionen hinaufkollern. Ich will nicht hoffen, daß sie recht behalten, denn dann würden wir ja alle noch dollarkolleriger. Aber möglich ist ja leider Gottes alles, denn wer hätte gedacht, daß —. Als ich vor ein paar Monaten in Frankfurt am Main war, riet mir ein guter Freund, wenn ich überflüssiges Papiergeld hätte — aber ich hatte keins — und so konnte ich mir keine Dollar kaufen. Wohl aber gab ich den guten Rat, den man mir gegeben, an einen guten Bekannten weiter, noch dazu ohne ihm den in Rechnung zu stellen. Der hätte kaufen können, aber er tat es nicht, obgleich ich ihm sagte: „Sie werden es noch oft bereuen, und wenn der Dollar erst auf ein oder zwei Millionen steht, noch oft an mich denken,” worauf er mir erwiderte: „Das erleben wir alle nicht und folglich werde ich nie wieder an Sie denken.” Vor ein paar Wochen machte ich mir den Spaß und fragte bei ihm mit einer Postkarte an: „Denken Sie wirklich nie an mich?”, worauf ich die kurze und liebenswürdige Antwort erhielt: „Hol' Sie der Satan!”

Wenn man früher seinen Kopf voll hatte, ging man hinaus in die schöne Natur und vergaß dort alles, was einen bedrückte. Daran dachte ich neulich und machte einen weiten, weiten Weg über die Felder. Da sah ich plötzlich an einem Grabenrand ein junges Liebespaar, zärtlich aneinandergeschmiegt, Kopf an Kopf, Schulter an Schulter. Nur eins fiel mir auf, er hatte den Arm nicht um ihre Taille gelegt. Das vielleicht deshalb nicht, sagte ich mir, weil das Mädchen recht dicklich und rundlich war und keine Taille besaß. Bei dem Mädel ging der Rücken ohne jede Zwischenstation gleich in den O—o über. Na, man konnte sich ja aber auch so lieb haben, so ohne Taille und ohne zärtliche armliche Umschlingung. Und die beiden hatten sich lieb, da hörte ich an ihrem frohen Lachen, sah es daran, wie sie sich küßten, namentlich wie sie ihn küßte, und auch daran, daß sie sich durch mich, als ich näher kam, in ihren Zärtlichkeiten und in ihrem Liebesgeflüster absolut nicht stören ließen.

Aber als ich ganz nahe herangekommen war, da sah ich, warum er seinen Arm nicht um ihre nichtvorhandene Taille gelegt hatte, da sah ich, warum sie so glücklich zusammen lachten, da begriff ich, warum sie beide, oder warum wenigstens sie ihn so lieb hatte, denn vor ihnen im Grase lag eine ganze Anzahl Dollarnoten, die er seiner Brieftasche entnommen und die sie beide mit habgierigen Händen und Augen immer und immer wieder zählten.

O Jugend, wie hast du dich verändert und wie arm bist du trotz deiner Papierlappen und trotz deiner Devisen geworden!

Wenn wir, die wir jetzt alt sind, früher mit unserer Liebsten allein am Grabenrand saßen oder lagen, dann zählten wir kein Geld, schon weil wir keins besaßen. Aber wir küßten uns, daß es nur so krachte und die Korsettstangen des Mädels krachten mit. Wir küßten uns, bis wir alles darüber vergaßen, alles — auch uns selbst.

Und heute? — Verrückt! — Dollarkoller!


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© Karlheinz Everts