Als ich auch einmal streikte.

Eine für mich leider sehr traurige Humoreske.
Von Freiherr von Schlicht.
in: Weimarisches Sonntagsblatt, Unterhaltungs-Beilage zur
„Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland” vom 1.Okt. 1922

Ich war zu der Erkenntnis gekommen, so ging es mit meinen Finanzen nicht weiter, ich mußte bei der Teuerung mehr verdienen, wenn ich nicht ganz von Kräften kommen sollte. Wie Fleisch aussah, wußte ich nur noch, wenn ich im Vorübergehen einen Blick in einen Schlachterladen warf. Die Butter, die ich auf ärztlichen Befehl für mein beständig arbeitendes Gehirn essen mußte, schmeckte von Tag zu Tag margarineriger. Mein Kaffee bestand nur noch aus Zichorien und meinen echt russischen Tee pflückte ich mir auf meinen Spaziergängen von den am Wege blühenden Kräutern, und bei den neuen Brotpreisen hatte ich mir selbst den Brotkorb so hoch gehangen, daß ich nur am Sonntag an den heranreichte, vorausgesetzt, daß mein Nachbar mir da seine lange Obstbaumleiter lieh. Um das teure elektrische Licht zu sparen, saß ich den ganzen Abend im Dunkeln, und wenn ich des Morgens bei der Arbeit eine Zigarre rauchte, um trotz des Hungers wenigstens so etwas Ähnliches wie einen halben Gedanken fassen zu können, kam ich nicht zur Arbeit, sondern mußte bei dem Geschmack der Zigarre beständig das schöne Lied singen: Wer hat dich, du Buchenwald, aufgebaut so hoch dort droben? Denn der Tabak bestand nur, aber auch nur aus ff. prima-prima Buchenlaub mit undefinierbarer Einlage. Und wenn ich hin und wieder der Versuchung nach einer Flasche Lagerbier unterlag, mußte ich erst auf mein Gehirn eine neue Hypothek aufnehmen, und auf dem ruhten schon so viele, daß ich sie kaum noch tragen konnte.

Nein, ich sah es ein, so ging es tatsächlich nicht weiter, und da ich bei allem Fleiß nicht noch mehr arbeiten konnte, als ich es ohnehin schon tat, mußte ich meine Arbeiten besser bezahlt bekommen, aber als ich das bei meinen Verlegern und bei den Zeitungen und Zeitschriften, für die ich arbeite, in Güte zu erreichen versuchte, erreichte ich natürlich absolut nichts, denn wer da bittet, dem wird heute ganz bestimmt nicht gegeben.

Und so mußte auch ich, so unsympathisch mir der Gedanke war, zur Selbsthilfe, zum Streik, greifen, und ich wußte auch, bei wem ich den Anfang damit machen wollte. Ich hatte mit einer auswärtigen Zeitung das Abkommen getroffen, daß ich ihr eine längere, durch die dreizehn Nummern eines Quartals gehende humoristische Erzählung schrieb, die jedesmal in der Montagsnummer erschien. Eine Geschichte mit zwölf Fortsetzungen, eine jede zu zweihundertundfünfzig Druckzeilen à zweiundvierzig Silben, nicht mehr und nicht weniger. Jedesmal die genau vorgeschriebene Anzahl von Silben zu schreiben, war gar nicht so einfach, wie ich das ursprünglich glaubte, und ich hatte die übernommene Arbeit, in der vertragsmäßig in jeder Fortsetzung drei gute und sechs halb gute Witze, aber wenigstens ebenso viele gute oder halbgute humoristische Bemerkungen und Redewendungen vorkommen mußten, schon oft verflucht, aber nun segnete ich sie, weil ich bei ihr jetzt mit meinem Streik einsetzen konnte. Und ich setzte dadurch ein, daß ich die fällige Fortsetzung, auf die die Zeitung wartete, nicht wie sonst am Mittwoch absandte, so daß ich am Freitag ein Telegramm erhielt: Wo bleibt die Fortsetzung? Bitte Eilbrief absenden, Druckerei wartet.

Na wartet nur, Kinder, dachte ich frohlockend, auf die Fortsetzung könnt ihr, wenn ihr mich in Zukunft nicht ganz anders bezahlt, lange warten. Die werde ich euch zwar zeigen, aber nicht aushändigen. Und so setzte ich mich dann am nächsten Morgen in aller Frühe in die Eisenbahn, fuhr nach der Stadt, in der die Zeitung erscheint, ging zu dem Verlag und ließ mich bei dem Verleger anmelden.

Der kam mir, kaum, daß er meine Anwesenheit erfahren, voller Aufregung entgegen, um mir, bevor er mich begrüßte, zuzurufen: „Aber Schlicht, verehrter Freund, Gönner und Mitarbeiter, was machen Sie denn nur für Geschichten? Sie sind doch sonst die Pünktlichkeit und die Zuverlässigkeit selbst und dabei haben wir auch heute Ihr Manuskript noch nicht. Hoffentlich haben Sie es wenigstens mitgebracht, denn wenn nicht, dann lasse ich Sie nicht eher fort, bis Sie es hier bei mir geschrieben haben.”

„Das ist nicht nötig, Doktor,” beruhigte ich ihn, und mein Jackett zurückschlagend, in dessen innerer linker Brusttasche die Fortsetzung steckte, erklärte ich ihm: „Hier ist sie.”

Er stürzte auf mich zu, wie noch nie einer auf mich zugestürzt ist: „Dann her damit, aber schnell!”

Doch anstatt ihm die Arbeit schnell einzuhändigen, knöpfte ich noch schneller meinen Rock wieder zu und sagte: „Nee, verehrter Freund, so ohne weiteres bekommen Sie die heute nicht .”

Verständnislos sah er mich an: „Was soll das heißen?”

„Was das heißt, Doktor?” gab ich zurück, und mich in eine des großen Augenblicks würdige Positur stellend, rief ich ihm zu: „Ich streike!”

Ich sah es ihm deutlich an, das saß, denn er starrte mich eine ganze Weile mehr als bestürzt an, bis er endlich erklärte: „Sie, Schlicht, machen Sie keine Witze.”

„Aber daran denke ich gar nicht, lieber Freund, und mir ist in diesem Augenblick auch absolut nicht witzig zumute, denn wie Sie mich hier sehen, stehe ich sehr ernstlich gesprochen, dicht vor dem Hungern.”

„Na, na” meinte er erschrocken, „so schlimm wird es doch wohl nicht sein.”

„Es ist so schlimm, Doktor,” widersprach ich ihm.

Wieder sah er mich ganz betroffen an, dann meinte er: „Wenn dem wirklich so ist, dann stecken Sie sich jetzt erst mal eine gute Zigarre an, denn daß das Rauchen den Hunger oft noch mehr stillt als das Essen, brauche ich gerade Ihnen wohl nicht erst zu sagen.”

„Das haben Sie nicht nötig, Doktor, aber trotzdem, wenn Sie mich auf ein halbes Dutzend anständiger Beefsteaks mit allem was dazu gehört einladen würden, wäre es mir lieber.”

„Kommt vielleicht auch noch,” vertröstete er mich, „erst erzählen Sie nun mal in aller Ruhe, warum Sie das Manuskript noch nicht schickten, warum Sie es auch jetzt noch nicht hergeben, und was das bedeutet, daß Sie streiken. Bei alledem müssen Sie sich doch etwas denken.”

„Tue ich auch, Doktor, und ich bin fest entschlossen, meine Arbeit für Sie nur zu Ende zu schreiben, wenn Sie mir mein bisheriges Honorar mindestens verdreifachen, denn daß meine jetzige Bezahlung —”

„Wieviel bekommen Sie denn jetzt für jede Fortsetzung?” unterbrach er mich. „Ich habe das nicht im Gedächtnis.”

Wunschgemäß nannte ich ihm die Summe, nein, das Sümmchen, und als ich es getan, starrte er mich ganz entsetzt an, so daß ich ihm zurief: „Gott sei Dank, Doktor, daß Sie sich schämen, das ist für Sie hoffentlich der erste Schritt zur Besserung.”

„Ein Mensch, der sich schämt, wird doch rot und nicht, wie ich eben, blaß,” belehrte er mich, „und ich wurde es vor Schrcken, weil ich Ihnen damals ein derartig sündhaft hohes Honorar bewilligt habe. Heute bei den neuen Papier- und Druckpreisen, heute, wo die Unkosten in das Aschgraue gestiegen sind, könnte ich Ihnen nicht die Hälfte Ihres jetzigen Honorars bewilligen, und da wollen Sie noch mehr haben? Das ist natürlich ganz ausgeschlossen.”

„Schön,” meinte ich gelassen, „dann nicht, aber dann bekommen Sie auch das Manuskript nicht.”

„Aber das muß ich haben,” jammerte er, „denn Sie glauben ja gar nicht, mit welcher Spannung die Leser auf die Fortsetzung warten.”

„Um so besser,” warf ich ein, „dann werden Sie hoffentlich selbst einsehen, daß Sie mir mehr bezahlen müssen.”

Darauf antwortete der Doktor aber nichts, sondern schwieg eine ganze Weile, bis er mich endlich fragte: „Aber was soll denn werden, wenn Sie Ihr Streikrecht in so roher und brutaler Weise ausnützen?” Und meine Hände ergreifend, bat er: „Schlicht, denken Sie an Ihre Leser, an die Freude, die Sie denen mit Ihren Arbeiten machen, an den ideellen Lohn, den Ihr Fleiß Ihnen einträgt —”

„Ein materieller wäre mir lieber,” unterbrach ich ihn.

Dann begann der Kuhhandel. Wir feilschten um das Honorar wie die gerissensten Handelsjuden, aber ich blieb unerbittlich, bis der Doktor dann endlich einsah, daß ich unter gar keinen Umständen nachgeben würde. Bis er dann plötzlich auf einen der vielen Knöpfe des vor ihm auf seinem Schreibtisch stehenden Haustelephons drückte.

Aha, sagte ich mir, endlich! Schlicht, freue dich, du hast gesiegt, der Doktor hat nach seinem Kassierer telephoniert. Doch statt des Geldmannes trat gleich darauf eine junge, sehr hübsche Stenotypistin in das Zimmer und das freute mich erst recht, nicht, weil die so hübsch war, sondern weil ich mir sagte, nun wird der Doktor dem Fräulein einen neuen Vertrag, der für euch beide Gültigkeit hat, diktieren. Doch gleich darauf wurde ich eines besseren, nein, eines schlechteren belehrt, denn sich an die Stenotypistin wendend, meinte der Doktor: „Bitte, Fräulein Krause, schreiben Sie: Wie wir soeben zu unserem aufrichtigen Bedauern erfahren, ist unser geschätzter und beliebter Mitarbeiter Freiherr von Schlicht ganz plötzlich schwer erkrankt. Wenngleich glücklicherweise keinerlei Lebensgefahr besteht, so wird es doch immerhin —” und das Diktat unterbrechend, fragte er mich: „Sie, Schlicht, wie lange wollen Sie denn streiken?”

„Bis Sie mehr zahlen,” donnerte ich ihn an, „und außerdem verbitte ich mir, daß Sie derartig falsche Nachrichten über mich —”

Doch er ließ mich nichtr aussprechen, sondern diktierte dem Fräulein weiter: „wird es doch immerhin einige Wochen dauern, bis er seine, ihm für unser Blatt, wie wir wissen, ganz besonders an sein Herz gewachsene Arbeit wieder aufnehmen und die jetzt in unserer Montagsnummer laufende Erzählung wird zu Ende führen können. Wir bedauern es auf das lebhafteste, eine Unterbrechung in der so spannenden Novelle eintreten lassen zu müssen, hoffen aber, daß unser verehrter Mitarbeiter viel schneller wieder zur Vernunft kommt, nein, das nicht, Fräulein, streichen Sie das wieder durch und schreiben Sie dafür: daß er viel schneller wieder gesund wird, als die Ärzte es heute glauben.” Und das Diktat beendend: „So, Fräulein, das wird genügen, das muß gleich in die Druckerei, damit es noch in der heutigen Nummer erscheint.”

Die Stenotypistin verschwand, ich aber fragte: „Wissen Sie, Doktor, was ich möchte? Ihnen einmal meine Meinung sagen!”

„Meinetwegen gern,” lachte er lustig auf, „aber ehe Sie damit anfangen, denken Sie bitte daran, daß ich für meine Aktionäre arbeite und daß ich schließlich doch auch leben will.”

„Aber zum Kreuzmillionendonnerwetter, das will ich doch auch,” fuhr ich ihn an, „oder denken Sie es sich für mich wirklich so schön, wenn ich mich eines Tages aus Nahrungssorgen totschießen muß?”

„Das können Sie ja gar nicht,” meinte er kaltblütig, „denn Sie leben in Thüringen und da haben doch alle, und auch Sie, nach dem Rathenau-Mord zum Schutze der Republik Ihre Waffen abliefern müssen.”

Da schenkte ich es mir, ihm meine Meinung zu sagen, denn ich sah es ein, irgendwelchen Zweck hätte das doch nicht gehabt. Und ich behielt meine Ansicht über ihn nicht nur für mich, sondern ich erhob mich, um der völlig zwecklosen Unterredung ein Ende zu machen. Aber schon in der Tür fragte ich trotzdem noch einmal: „So ist meine Reise zu Ihnen also ganz umsonst gewesen, Doktor? Ich habe nichts, aber auch nichts bei Ihnen erreicht? Sie wollen mich so wieder nach Hause fahren lassen? Soll ich meinen Freunden und Bekannten erzählen müssen, Sie hätten nichts, aber auch nichts für mich getan?”

„Nein, lieber Freund, das sollen Sie nicht,” rief er mir da zu, „denn wenn ich natürlich auch in erster Linie Geschäftsmann bin und es auch sein muß, so habe ich doch ein Herz in der Brust und kann mich in Ihre Notlage vollständig hineinversetzen. Und darum und deshalb —”

„Bewilligen Sie mir also doch noch ein höheres Honorar?” unterbrach ich ihn freudig erregt.

„Nein, Schlicht, das kann ich bei Gott und allen Heiligen nicht,” vernichtete er mit einem Schlage alle meine Hoffnungen, „aber damit Sie sehen, daß ich wirklich alles, aber auch alles für Sie tue, was nur irgend in meinen Kräften steht, will ich Ihnen erlauben, über unsere heutige Unterredung für eine andere Zeitung als für die meine eine Humoreske zu schreiben. Das ganze Honorar können Sie für sich behalten. Sie brauchen mir nichts davon abzugeben und den Titel für die Arbeit schenke ich Ihnen auch noch, und der soll und muß heißen: „Als ich auch einmal streikte!”


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© Karlheinz Everts