Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 119 22. Mai 1895 Seite 2

Mutter, liebe Mutter.

Von Graf Günther Rosenhagen
in: „Providence Anzeiger” vom 8.7.1893,
in: „Providence Anzeiger” vom 15.9.1894,
in: „Lübecker Eisenbahn-Zeitung” Nr. 119 vom 22.05.1895 und
in: „Deutsches Heim” 19.Jahrgg. Nr.39 S.616-617
(Sonntagsbeilage zur „Berliner Zeitung”) vom 30.6.1895


"Mutter, liebe Mutter, weine nicht. Ich kann es nicht ertragen, Dich immer so voll Kummer und Sorgen zu sehen. Sei nicht traurig, es wird alles noch wieder gut werden."

Unter Thränen sah die arme Frau hinunter zu ihrem Sohne, der, die Knie der Mutter umschlungen, sein Haupt in ihren Schooß gebettet, vor ihr lag.

"Hat denn Dein Vater es nicht verdient, daß ich ihm nachweine? War er nicht der beste, der zärtlichste Gatte? Und nun so früh sterben zu müssen in der vollsten Manneskraft, herausgerissen zu werden aus seinem Familienkreis, den er so innig liebte! Doch, Du hast Recht, Ernst", fuhr sie fort und strich mit der Hand über die blonden Locken ihres sechzehnjährigen Sohnes, "ich will nicht mehr traurig sein, wenn Du bei mir bist. Ich will den Schmerz und die Trauer in meinem innersten Herzen begraben; ich will Dir Dein junges Leben nicht durch mein Jammern zerstören."

"Laß nur gut sein, Mutter," unterbrach sie Ernst, "nur noch ein Jahr, dann bin ich mit der Schule fertig, dann gehe ich hinaus in die weite Welt und verdiene mir Geld, viel Geld für mein armes Mütterlein; dann sollst Du keine Sorgen mehr haben. Ich kaufe Dir ein kleines Häuschen, da wohnen wir beide dann ganz allein; keinen Menschen wollen wir weiter um uns haben, denn, mein lieb Mutting, ich habe Dich so unbeschreiblich lieb!"

Strahlenden Auges schaute der Knabe hinauf zu seiner Mutter. Sie zog ihn zu sich empor, bedeckte sein Gesicht mit ihren Küssen und flüsterte: "Mein Ein und mein Alles!"

Was hatte sie noch außer ihm auf der Welt ? Vor kurzer Zeit hatte sie den Gatten verloren. Er war ein kleiner Beamter gewesen, dessen Gehalt gerade ausgereicht hatte, um sie vor Sorgen zu schützen. Nun stand sie allein, ohne Verwandte und Freunde. Die kleine Wittwenpension reichte nicht einmal für die einfachsten Bedürfnisse, und auf ihren Herzenswunsch, den Sohn studiren zu lassen, hatte sie mit Thränen verzichten müssen.

"Mutter, quäl Dich nicht," antwortete Ernst stets, wenn die arme Frau ihm ihr Leid klagte, "ich werde mich schon durch das Leben schlagen und auch für Dich, mein lieb' Mutting, sorgen. Sieh mich einmal an - bin ich nicht ein großer stattlicher Mensch ?"

Dabei stellte er sich vor seine Mutter hin, und stolz ließ sie ihre Blicke über die schmiegsame und doch muskulöse Gestalt ihres Lieblings gleiten.

"Und Kräfte habe ich für drei", fuhr er siegesgewiß fort; "im Turnen bin ich ihnen allen über. Unser Lehrer hat erst gestern wieder gesagt, solch' guten Turner hätte er noch nie gehabt."

"Sei nur nicht unvorsichtig, Ernst," flehte oft die Mutter; "ich fürchte mich immer so, daß Dir einmal ein Unglück passiert."

Dann warf er muthwillig lachend seine dichten Locken zurück und meinte:

"Nein, Mutter, mir passiert nichts - wer sollte sonst wohl später für Dich arbeiten ?"

So ging das Jahr seinem Ende entgegen. Ernst war ein fleißiger, strebsamer Schüler; stets brachte er gute Zeugnisse mit nach Hause; seine Lehrer lobten ihn, aber am frohesten war er doch, wenner von seinen Turnstunden kam, wenn er strahlend erzählte, wie er heute wieder alle übertroffen, wie keiner im Stande gewesen wäre, ihm seine Kunststücke nachzumachen. Hochgerötheten Antlitzes, von der Anstrengung ermattet, stürzte er eines Tages in die kleine Stube seiner Mutter mit dem Rufe:

"Endlich, Mutting, habe ich es gelernt. Weißt Du, von dem schwingenden Trapez einen doppelten Saltomortale auf die Matratze hinunter! Dreimal ist er mir heute geglückt. Mutter, wie bin ich glücklich!"

Er legte sein jugendliches Haupt an das treue Herz der alten Frau und schlief, von der Anstrengung ermüdet ein, während die Mutter voll Glück und doch besorgt in die frischen, unverdorbenen Züge ihres einzigen Kindes sah.

Der Tag des Abschieds kam. Nur mit geringen Mitteln versehen, zog Ernst hinaus in die weite Welt.

"Sei nicht traurig, Mutter, liebe Mutter," flehte er, "Gott wird mir beistehen. Und wenn ich Arbeit gefunden und Geld verdiene, schicke ich Dir immer davon, damit Du Dich nicht grämst und keine Noth mehr leidest."

Das waren seine letzten Worte gewesen, dann hatte er sie noch einmal in stürmischer Liebe an sich gezogen und war davon gegangen.

Drei Jahre waren seitdem verflossen; Jahre schwerer Arbeit, langen, trüben Hoffens und Harrens. Nie hatte eine Klage das Haus der Wittwe erreicht. Ihr Sohn hatte Arbeit gefunden; er verdiente Geld, aber so wenig, daß er nichts abgeben konnte.

"Denk nicht an mich, sondern nur an Dich," hatte dann die Mutter geschrieben, "was brauche ich denn zum Leben ?"

Darauf waren Briefe gekommen, daß es ihm besser ginge, daß er hoffe, bald etwas zurücklegen zu können. Über alles schrieb Ernst an seine Mutter, nur nicht über den Beruf, den er sich erwählt.

"Bald bin ich dies, bald dies," hatte er einmal scherzend ihre Fragen beantwortet. "Laß mich nur machen, ich komme schon vorwärts."

Dann traf eines Tages ein jubelnder Brief ein. Eine Geldsendung war beigelegt. Das Glück war ihm günstig gewesen, und nun waren alle Sorgen überwunden.

Immer seltener wurden die Nachrichten, immer zahlreicher die Geldsendungen, aber treu bewahrte die Mutter auf, was der Sohn ihr sandte.

"Er soll alles wieder vorfinden, was er mir jetzt schickt. Wer weiß, ob nicht vielleicht doch einmal eine Stunde kommt, in der er es nöthiger braucht als ich."

So sparte Ernst für seine Mutter. Kein Vergnügen erlaubte er sich; den Versuchungen der Großstadt ging er aus dem Wege; er vermied den Verkehr mit seinen Collegen und dachte immer nur an sie, die gute, alte Mutter. Er freute sich wie ein Kind über alles, was er verdiente, - und sie, die alte Frau, dachte nur an ihn.

Wieder war ein Jahr vorüber; sein Geburtstag stand vor der Thür, da machte sich die Mutter auf den Weg, ihren Liebling zu besuchen; sie wollte ihn überraschen - sie konnte die Sehnsucht nach ihm nicht mehr ertragen.

Am Nachmittag erreichte sie die Hauptstadt. Nur mit Mühe gelang es ihr, in dem Gewirr der Straßen die Wohnung ihres Sohnes zu finden. Sie stieg die Stufen des Hauses empor; hier mußte er ja wohnen, sie hatte sich die Adresse fest eingeprägt.

Sie zog die Glocke. Eine Aufwärterin öffnete.

"Ich möchte meinen Sohn, Herrn Ernst, sprechen; ist er wohl zu Hause ?"

Aber Ernst war nicht da, er war im Circus. Heute war ja sein letztes Auftreten, dann wollte er heim nach seiner kleinen Vaterstadt. Er war ja ganz anders als die übrigen Künstler; Er hatte nur gespart; ein hübsches Vermögen hätte er sich erworben, sorgenfrei könne er davon leben. Ja das wäre ein prächtiger Mensch, - so erzählte die geschwätzige Frau. Aber sie, die Mutter, müßte doch ihren Sohn an seinem Ehrenabend sehen, fuhr sie fort; heute habe er sein Benefiz. Sie wolle ihr das Billet, daß Herr Ernst ihr geschenkt, gern abtreten, denn sie sei ja doch die Mutter, von der er so oft gesprochen.

Der alten Frau zog sich das Herz zusammen, als sie es hörte, in welcher Weise ihr Sohn für sie gearbeitet, hatte; sie konnte und wollte es nicht glauben, daß der berühmte Turner ihr Kind sei.

*   *   *

An der Circuskasse drängte sich die Menge. Lange vor Beginn der Vorstellung war kein Platz mehr in dem weiten Raum zu bekommen. Jeder wollte noch einmal den berühmten König der Lüfte sehen, der es verstanden hatte, sich jahrelang die Liebe und den Beifall des Publikums zu erhalten.

Durch den Circus ging ein Summen und Sausen der verschiedenen Stimmen.

"Was mag ihn nur dazu bewegen, schon jetzt seine Künstlerlaufbahn aufzugeben ? Er muß doch ungeheuer viel Geld verdienen!"

"Ja, man erzählt sich, daß er jeden Abend dreihundert Mark bekommt - er soll ein großes Vermögen besitzen."

"Ich glaube, er will sich zu seiner alten Mutter zurückziehen und bei dieser wohnen."

So redete man hin und her. Der alten Mutter dort oben in der vordersten Logenreihe war es sonderbar ums Herz, als sie sah und hörte, daß alle diese Menschen nur gekommen waren, um ihren kleinen Liebling zu bewundern.

Endlich wurde das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben. Die Glocke ertönte; die Portièren wurden zurückgezogen; die Flammen erstrahlten im hellsten Licht; die Musik setzte ein, und eine Reiterin versuchte durch ihre Künste den Beifall der Menge zu erwerben. Vergeben machten die Clowns ihre dümmsten Witze - keiner achtete auf sie, jeder sah nach dem Programm, wie lange es noch dauern würde, bis man an die Hauptnummer käme. Nur von den Stallmeistern beklatscht, hatte soeben die Jockey-Reiterin die Manege verlassen. Nun solte er scheinen, der Stern des Tages. Die Luftapparate wurden in schwindelnder Höhe in Ordnung gebracht, das große Netz ausgezogen. Die Musik begann und spielte zum letzten Male die Melodie, nach der er so oft dort oben an Ringen und Schaukeln sich gewiegt. Von dem Beifallssturm der Menge begrüßt, trat Signor Ernesto, wie ihn der Zettel nannte, ein. Mit einem leichten Kopfnicken die Grüße seiner vielen Freunde beantwortend, stellte er den Fuß in den Bügel des Taues, ward hochgezogen und ergriff geschickt das Trapez. Mit spielender Leichtigkeit flog er oben von Schaukel zu Schaukel - ruhig und sicher vollführte er die schwierigsten Kunststücke. Der Jubel kannte keine Grenzen: Immer von Neuem mußte Ernst sich dort oben verneigen.

Und nun kam der Haupttheil, den noch keiner ihm nachgemacht., durch den er dastand als unerreichter Künstler. Eine feierliche Stille bemächtigte sich der Zuschauer. Den Blick nach oben gerichtet, wagte keiner zu athmen, denn jeder wußte es: Nur ein einziger Mißgriff, nur das geringste Versehen - und sein blühendes Leben war beendet.

Inzwischen hatte Ernst seine Vorbereitungen getroffen. An der einen Seite des Circus, hoch oben auf schwankendem Brett stehend, hatte er das Trapez ergriffen und sah scharf nach der ihm gegenüberliegenden Seite, wo ein Stallmeister ein anderes Trapez in gleichmäßige, ruhige Schwingungen brachte. Von der Decke herab wurde ein doppelter mit Seidenpapier beklebter Reifen heruntergelassen. Ernst verband sich mit einem Tuche die Augen, erwartete den Zuruf, und auf das "Nun" drückte er sich mit beiden Füßen ab. Jetzt ein mächtiger Schwung, die Hände ließen los, ein doppelter Saltomortale durch den Reifen, ein Aufschrei aus dem Munde einer erschreckenden Frau, dann ergriff er schon mit beiden Händen das ihm entgegenschwingende Trapez und ließ sich von dort in das Netz hinabgleiten.

Donnernder Beifall brach los. Es war, als ob das Haus in seinen Grundmauern erbeben müßte. Von allen Seiten regnete es Blumen und Kränze, und das Jauchzen der Zuschauer wollte kein Ende nehmen. Immer wieder erschien Ernst in der Manege, immer von Neuem dankte er, und leise flüsterten seine Lippen: "Mutter, liebe Mutter."

Nun hatte er erreicht, wonach er sich gesehnt: Reichthum und Gut! Gott war mit ihm gewesen und hatte ihn gnädig behütet und beschützt vor den Gefahren, die ihn so leicht hätten betreffen können.

"Wie wird die Mutter sich freuen, wenn ich morgen zu ihr komme, wenn ich ihr erzähle von meinen Erfolgen; wie wird sie glücklich sein über die Blumenpracht, mit der man mich, ihren Sohn, beschenkt."

So dachte er, während er sich in der Garderobe von den ungeheuren Anstrengungen ausruhte. Ein unheimliches Gemurmel ging durch die Stallräume und drang auch zu ihm:

"Man hat oben eine todte Frau gefunden; sie wird hierher gebracht," flüsterte man ihm zu.

Da kamen auch schon die Diener und trugen vorsichtig die arme Frau, deren Leben ein Herzschlag beendet hatte.

Auf der Straße ging das Volk lärmend und scherzend von dannen; jeder des Lobes und der Bewunderung voll, den Künstler beneidend und sein Glück preisend.

Doch der, von dem sie sprachen, dessen Ruhm von allen Lippen widerhallte, lag in seinem glänzenden Kostüm an der Leiche seiner Mutter. Schwere Thränen liefen ihm die Wangen hinunter, und leiese murmelten seine Lippen: "Mutter, liebe Mutter."



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© Karlheinz Everts