Die meistgelesenen Bücher und Autoren des Jahres 1904

Aus „Frankfurter Zeitung", Nr. 3 vom 3. Jan. 1905, Zweites Morgenblatt

Das „Literarische Echo" (Herausgeber Dr. Josef Ettlinger, Verlag von Egon Fleischel u.Co. in Berlin) hat sich auch diesmal für die Beantwortung der Frage interessiert, welche Bücher und Autoren sind im abgelaufenen Jahre (vom Herbst 1903 bis Herbst 1904) am meisten gelesen worden. Auf Grund der von 136 Leihbibliotheken (Lesezirkeln, Lesehallen, Volksbibliotheken) eingelaufenen Antworten werden als meistgelesene Bücher genannt:

„Götz Kraft" (Stilgebauer)
„Das schlafende Heer" (Viebig)
„Briefe, die ihn nicht erreichten" (Heyking)
„Jena oder Sedan" (Beyerlein)
„Jörn Uhl" (Frenssen)
„Erstklassige Menschen" (Baudissin)
„Buddenbrooks" (Th. Mann)
96 mal
78 mal
79 mal
64 mal
43 mal
43 mal
41 mal

Als meistgelesene Autoren des Jahres ergibt die Aufstellung:

Ed. Stilgebauer
C. Viebig
E.v.Heyking
F.A.Beyerlein
Gustav Frenssen
W.Graf Baudissin (Frhr.v.Schlicht)
Th. Mann
96
94
70
65
54
43
41

Das „Literarische Echo" kommentiert dieses Ergebnis wie folgt:

Namen und Reihenfolge der meistgelesenen Bücher und Autoren decken sich diesmal genau, wie überhaupt unsere ganze Statistik ein erheblich einförmigeres Bild ergibt, als die der früheren Jahre. Mehr und mehr scheint sich auch bei unserem Lesepublikum die englisch-amerikanische Mode des „ Buchs der Saison " herauszubilden. Während im vorigen Jahr bei nur 107 Antworten insgesamt noch 33 Autoren mehr als je dreimal genannt wurden, betrug deren Zahl diesmal bei 136 Antworten nur noch 23. Ein für unsere Kultur erfreuliches Zeichen ist diese Wahrnehmung nicht ; viel eher ein ungesundes, was wir wohl nicht erst näher zu begründen brauchen. Von den sieben Büchern und Autoren, die an der Spitze stehen, befinden sich vier ( Beyerlein , Frenssen , Heyking , Mann ) schon unter den „Siegern" des vorigen Jahres: Beyerlein und Heyking standen damals an erster und zweiter, Frenssen (dessen „Jörn Uhl" nun schon im dritten Jahre zu den meistgelesenen Büchern zählt) an dritter, Mann an vierter Stelle. Die äußeren Gründe, die den Romanen von Baudissin und Stilgebauer zu ihrem Auflagen-Erfolg verholfen haben, sind bekannt. Angenehm auffallen konnte es vielleicht, daß Bilses Roman „Aus einer kleinen Garnison" nur eine kleine Stimmenzahl aufweist. Aber dieser Schluß zugunsten unseres Publikums wäre zu optimistisch. Die kleine Stimmenzahl rührt nur daher, daß das Buch in Deutschland verboten wurde (weshalb man es in unserer Liste auch fast ausnahmslos nur von ausländischen Bibliotheken gemeldet findet.) Tatsächlich hat dieses Buch, dank der Rührigkeit des Wiener Verlags, der sich des ausgestoßenen Werkes annahm, auf dem Kreuzbandwege eine Verbreitung von über einer halben Million Exemplaren gefunden. Von der Begier, mit der es im Ausland aufgenommen wurde, mag es einen Begriff geben, wenn die weltbekannte Leihbibliothek von Mudie in London uns mitteilt, daß bei ihr von Bilses Buch in der deutschen Ausgabe 300 Exemplare, von der englischen Ausgabe 1000 Exemplare sich in Zirkulation befanden. Wir führen noch des Vergleichs halber die Bücher an, die außerdem noch eine größere Stimmenzahl auf sich vereinigten. Es waren „ Peter Camenzind" von Hermann Hesse (21), „Die Bären von Hohen-Esp" von Nataly v. Eschtruth (21), „Denise de Montmidi" von Georg Frhrn.v. Ompteda (18), „Pittje Pittjewitt" von Josef Lauff (10), „Liselotte von Reckling" von Gabriele Reuter (9), „Pastor Klinghammer" von Wilhelm Hegeler (8), „Briefe eines Dollarkönigs an seinen Sohn" von J. Lorimer (8). Die Reihe der meistgelesenen Autoren würde im Anschluß an die oben angegebenen Namen zunächst fortzusetzen sein durch: Nataly v. Eschtruth (32), Georg Frhr.v. Ompteda (26), Hermann Hesse (21). Hatten wir im vorigen Jahre schon auf den Umstand aufmerksam machen können, daß unter den sieben meistgelesenen Autoren sich kein einziger Ausländer mehr befand, während einzelne, wie Gorki , Sienkiewicz , Gejerstam , wenigstens noch mit größeren Stimmenzahlen vertreten waren, so ist diesmal - mit alleiniger Ausnahme des amerikanischen Humoristen Lorimer - das Ausland aus der ganzen Statistik überhaupt verschwunden .


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© Karlheinz Everts