Lübecker Eisenbahn-Zeitung

Nr. 263 vom 9. November 1894 Seite 2

"Das Ganze Halt."

Skizze vom Manöverfeld

Freiherr von Schlicht


(Nachdruck verboten)

Heiß wogt die Schlacht auf dem Manöverfelde hin und her.

Die Truppen, die stets die beiden letzten Tage des Manövers im Bivouak zubringen - theils der Sparsamkeit, theils der Abhärtung wegen - haben schon früh ihr Strohlager verlassen. Die Ungeduld allein, mit dem Feinde wieder in Berührung zu kommen, ist es nicht, das sie trieb, früher als sonst sich den Schlaf aus den Augen zu reiben und die Jagd nach den verloren gegangenen, um nicht zu sagen gestohlenen Kochgeschirren zu beginnen, sondern eine größere, wichtigere Veranlassung ist es, die heute Alle, selbst die Faulsten der Faulen zu den Soldaten par excellence stempelt - es ist heute der letzte Manövertag.

Seit vier Wochen sind die Truppen nun schon aus der Garnison entfernt, vier Wochen lang sind sie von einem Quartier in das andere gezogen, ruhelos und unstät, heute ist der letzte Tag, heute geht es wieder in die Garnison zurück.

Die Mannschaften haben in der Ungeduld ihres Herzens die Zelte so früh abgebrochen und ihre Mäntel so früh gerollt, daß sie es nun, da sie es gethan, bitter bereuen. Es ist vier Uhr Morgens und bitter kalt, vergebens trinken die Leute einen Liter des dampfenden Kaffees nach dem anderen, es nützt Alles nichts, die frische Morgenluft geht durch Mark und Bein und sehnsüchtig blicken die Musketiere abwechselnd nach der Uhr und nach der Sonne, ob die letztere denn heute garnicht aufgehen will. Endlich, nach fast zweistündigem Warten, wird der Feuerball am Himmel sichtbar und ein Hurrah begrüßt ihn, wie es kräftiger die Griechen nicht bei dem Anblick des langentbehrten Meeres ausgestoßen haben können. Über diese dem weiblichen Geschlecht dargebrachte Huldigung auf das Äußerste empört, springt der Feldwebel herbei, um die tollsten Krakehler aufzuschreiben, aber das Wort bleibt ihm in der Kehle stecken, denn der Ruf "An die Gewehre" kündigt den Beginn des Gefechts an. Wenige Minuten später ist der Bivouaksplatz geräumt und in langen Kolonnen zieht man dem Feinde entgegen.

Schon in der Nacht sind die Kavalleriepatrouillen vorgeschickt worden und man ist genau über die Stellung des Gegners unterrichtet, nun gilt es, ihn möglichst schnell aus derselben zu vertreiben. Aber der Feind ist nicht gesonnen, die Anhöhe, die er besetzt hat, ohne Weiteres aufzugeben; immer neue Reserven zieht er heran, immer dichter werden die Schützenlinien, die den Angreifer mit ihrem Feuer überschütten, und immer stärker wird die Artilleriestellung, die unaufhörlich dem Feinde ihren Morgengruß entgegensendet.

Und Stunde auf Stunde verrinnt. Die Sonne hat sich siegreich Bahn gebrochen durch die Wolken, die sie in ihrem Laufe aufzuhalten versuchten, und sendet ihre wärmsten Strahlen zur Erde nieder. Mit Grausen und Entsetzen merkt und fühlt es die Soldateska, was sie vorhin als höchstes Glück ersehnte, ist nun, da ihr Wunsch erfüllt und ihre Sehnsucht gestillt, ein Ungemach, unter dem sie seufzen und klagen muß. Die Glieder sind von dem harten Lager steif und ungelenkig, die Tornister drücken nach einer Bivouaksnacht mehr denn je, ungekämmt und ungewaschen, wie die Leute sind, erscheint ihnen heute alles doppelt trist und traurig und sie haben nur den einen Wunsch, daß es ihnen endlich gelingen möge, den Feind aus seiner Stellung zu vertreiben. Aber unaufhaltsam donnern die Kanonen und ewig währt das Feuer der Infanterie, ein Angriff nach dem andern wird abgeschlagen.

Auf einer kleinen Anhöhe, die einen Überblick über die fechtenden Truppen gewährt, hält hoch zu Roß der Leiter mit seinem Stab. Auch er und seine Begleiter leiden unter der wahnsinnigen Hitze, von Zeit zu Zeit wird der Helm ein wenig gelüftet, um der heißen Stirn etwas Kühlung zu gewähren, und mancher Seufzer steigt heimlich zum Himmel. Mit scharfem Auge beobachtet die Exzellenz alle Einzelheiten des Kampfes, endlich zieht er die Uhr und spricht zu seiner Begleitung: "Ein weiteres Kämpfen ist unnütz, die Stellung des Feindes ist uneinnehmbar, sind Sie nicht auch der Ansicht, meine Herren?"

Ein zustimmendes Gemurmel erfolgt als Antwort.

"Dann wollen wir hier das Gefecht abbrechen, Hornist, blasen Sie 'Das Ganze Halt'."

Seit einer Stunde hat der Trompeter nun schon in Erwartung des großen Augenblicks das Instrument in der Hand, aber nun da der Befehl an ihn ergeht, zittert seine Hand und er bedarf eines Augenblicks der Fassung.

"Hornist, blasen Sie 'Das Ganze Halt'," wiederholt der Adjutant.

Er gehorcht und eine Sekunde später bringt die Luft die langgezogenen Töne des Signals von dannen und Jeder, der es hört, ruft dem Andern zu: "Hast Du gehört, es wird 'Das Ganze Halt' geblasen." Die Hornisten in der Schützenlinie nehmen das Signal auf und blasen es nach, die Trompeter der Kavallerie und Artillerie folgen ihrem Beispiel, und vom rechten bis zum linken Flügel erschallt es 'Das Ganze Halt'.

"Gott sei Dank." Mit einem Seufzer der Erleichterung legen die Musketiere und Füsiliere sich neben die zusammengelegten Gewehre und freuen sich des Augenblicks, da der Befehl kommt, in die Quartiere abzurücken. Vier Wochen lang sind sie nun täglich in die Quartiere gerückt, aber heute zum ersten Mal mit dem beseligenden Gefühl: "Nun ist es vorbei. Heute Abend nocht gehts mit der Eisenbahn in die Garnison und morgen - morgen kommen wir zur Entlassung."

Die zwei Jahre sind "abgerissen", der bunte Rock wird auf Kammer abgegeben bis zum Herbst ein neuer Rekrut kommt und den in Ehren grau gewordenen Rock wieder anzieht. Die zwei Jahre sind vorüber - es war manchmal eine recht schwere, aber trotzdem immer lustige, vergnügte Zeit im Kreis der Kameraden; das Böse ist vergessen, nur das Gute bleibt in der Erinnerung und bewirkt, daß gar Manchem eine Thräne heimlich in die Augen steigt. Die Soldatenzeit ist vorüber. - 'Das Ganze Halt' bildet in mehr als einer Hinsicht einen Abschluß.

Aber nicht alle werden entlassen, der jüngste Jahrgang kehrt in die Garnison zurück und für sie ist das Signal nur eine Ankündigung, daß nach Tagen anstrengender Arbeit und mancherlei Entbehrungen nun wieder bessere Stunden kommen.

Aber nicht nur diejenigen, die auf dem Manöverfeld selbst sind, hören das Signal - der Wind trägt die schwellenden Töne weit über das Land hin zur Stadt und hinein ins Dorf, wo immer nur ein Frauenherz die schmucken Krieger erwartet. Ihr Herz sagt ihnen: "Nun blasen sie das Ganze Halt, nur noch wenige Stunden, dann ist der Geliebte bei Dir" und überall rüstet man sich zum Empfang.

Verwundert schüttelt die Hausfrau den Kopf, sie kennt ihre Lene garnicht wieder. Vier Wochen hat sich das Mädchen zur höchsten Zufriedenheit geführt, nie hatte sie einen Wunsch, immer war sie bescheiden und bat nie um Erlaubniß ausgehen zu dürfen und nun auf einmal ist sie so ganz verändert; heute, mitten in der Woche will sie auf einmal ausgehen, jedenfalls bis 2 Uhr, am liebsten bis zum anderen Morgen. Aber das nicht allein! Lene, die in der letzten Zeit so sparsam gewirthschaftet, hat gestern einen großen Braten derart verschnitten, daß nur ganz kleine Schnippel nachgeblieben sind, die selbst Kule, der schwarze krummbeinige Teckel, mit geringschätziger Schnauze beschnüffelt - die Hausfrau mag sich das Alles nicht zu erklären. "Ist die aber dumm," denkt Lene in ihrem Innern, "hört denn die das Getute garnicht, das muß doch ein Todter mit den Leichdörnern hören, selbst wenn er nicht nur todt, sondern sogar wenn er scheintodt ist."

Und auch das Herz der Mutter hört den Ton der Trompete. Zwei Jahre ist ihr Sohn von ihr fortgewesen, zwei Jahre gehen so schnell herum - aber sie sind doch eine lange Zeit, wenn man die Arbeit und die Unterstützung eines kräftigen Sohnes so lange entbehren soll. Aber das Mutterherz denkt nicht nur an sich, sondern auch an ihr Kind; sie weiß es nicht, daß ihr Sohn es unter den Soldaten so gut hat, besser vielleicht, als es ihm je wieder auf der Welt gehen wird, besser vielleicht, als es ihm zuweilen auch die größte Mutterliebe zu schaffen vermag. Sie kennt nur die schweren Strafen, mit denen die Vergehen gebüßt werden müssen und immer lebt sie in Angst, daß ihr Junge sich einmal etwas zu Schulden kommen läßt; er ist nicht schlecht, ganz gewiß nicht, er ist doch ihr Kind, nur leichtsinnig ist er manchmal, und deshalb hat sie solche Furcht, daß er in einer schwachen Stunde sich einmal zu einer Dummheit hinreißen läßt. Täglich hat sie für ihn gebetet und er hat seiner alten Mutter Freude gemacht.

Sie hört das Signal, "das ganze Halt", nun ist er allen Gefahren und allen Versuchungen glücklich entronnen, nur noch wenige Stunden, dann ist es ganz wieder ihr Kind.

So dringt der Ton der Trompete weit hin und überall erweckt er eitel Freude und eitel Hoffnung - nur den Trompeter selbst erfüllt das Signal mit Wehmut und traurig betrachtet er sein Instrument, das ihn zwei Jahre lang treu überall hin begleitet hat. So manches Mal hat er auf dem Marsch und im Gefecht, wenn die Kräfte seiner Kameraden zu erlahmen drohten, ihnen durch die Töne seiner Trompete neuen Muth und neues Vertrauen zu sich selbst eingeflößt, mit einem fröhlichen Lied gedachte er Abschied zu nehmen, nun ist das letzte, was er seinen Kameraden und sich bläst, das so oft herbeigesehnte und nun doch nicht willkommene "Das Ganze Halt".



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© Karlheinz Everts