„Der militärische Daktylus.”

Von Freiherr von Schlicht
in: „Teplitz-Schönauer Anzeiger” vom 15.Juli 1905 und
in: „Ein Adjutantenritt”

[Ein Beispiel für den ironisch-satirischen Stil
von Frhr. von Schlicht, alias Wolf Graf Baudissin]


Jedesmal, wenn der General von Aberg auf seinen alljährlichen Rundreisen die seinem Befehl unterstellten Garnisonen besuchte, hatte er einen neuen Vogel. Im ersten Jahr war es der Parademarsch: „Meine Herren, was für den Zivilisten die Luft, das ist für den Soldaten der Parademarsch; es gibt nichts, was wichtiger wäre. Nur dadurch, daß wir mit aller Strenge auf einen tadellosen Parademarsch halten, erreichen wir, daß die Strammheit dem Heere erhalten bleibt, und ohne diese gibt es im nächsten Krieg ein Jena, aber kein Sedan!” Welch letztere Worte den Verdacht aufkommen ließen, daß der Herr General den in der Armee verpönten Roman „Jena oder Sedan” gelesen habe.

Als der General im nächsten Jahr wiederkam, hatte er den Schießvogel. „Meine Herren, was für den Zivilisten die Luft, das ist für den Soldaten das Schießen; es gibt nichts, was wichtiger wäre. Meine Herren, nur die Schießresultate verhelfen uns im nächsten Krieg zu einem Sieg, und die Schießresultate müssen um so besser sein, je näher der Scheibenstand bei der Kaserne liegt. Ich erwarte also die besten Schießresultate aus einer kleinen Garnison.” Welche letzteren Worte den Verdacht aufkommen ließen, daß der Herr General den in der Armee verpönten Roman(1) gelesen habe.

Als der General im letzten Jahr kam, hatte er den Instruktionsvogel. „Meine Herren, was für den Zivilisten die Luft, das ist für den Soldaten das Wissen; es gibt nichts, was wichtiger wäre. Meine Herren, im nächsten Krieg hat nur diejenige Armee Aussicht auf Erfolg, die ihrem Gegner in geistiger Hinsicht überlegen ist. Arbeiten wir an der Bildung des Volkes, erziehen wir sie in dieser Hinsicht, aber auch nur in dieser zu erstklassigen Menschen.” Welche Worte den Verdacht aufkommen ließen, daß der Herr General den in der Armee verpönten Roman(2) gelesen habe.

Als der General dieses Mal kam, hatte er den Turnvogel. „Meine Herren, was für den Zivilisten die Luft, das ist für den Soldaten die körperliche Gewandtheit; es gibt nichts, was wichtiger wäre. Im nächsten Krieg hat nur derjenige Aussicht auf Erfolg, der dem Gegner in körperlicher Hinsicht überlegen ist.”

Der General schwieg, und diese seine Schlußworte ließen den Verdacht aufkommen, daß im Laufe des letzten Jahres kein verpöntes Buch erschienen war, oder daß er es nicht einmal dem Namen nach kannte.

„Meine Herren,” fuhr der General nach einer kleinen Pause fort, „ganz besonderen Wert lege ich bei dem Turnen auf das Springen. Ich brauche es Ihnen nicht erst zu sagen: Springen ist die Hauptsache. Wer nicht gut springen kann, der bringt es zu nichts.” Da hatte der General recht, und er sprach aus Erfahrung; denn daß er es so weit gebracht hatte, verdankte er lediglich dem Umstand, daß er beständig über seine Vorderleute gesprungen war, einmal, weil er für einen Offizier wirklich nicht unbefähigt war, dann aber auch, weil er glänzende Konnexion besaß. Er hatte eine Tante, deren Vetter mit der Schwägerin eines ganz hohen Herrn aus dem Militärkabinett verheiratet war, und solche Verwandtschaft schadet nie. Und um dem Herrn Obersten und den Herren Offizieren gleich zu zeigen, in welchem Sinne er das Springen fortan gehandhabt, um nicht zu sagen gebeinhabt, wissen wolle, ließ er gleich eine Kompagnie zum Turnen antreten.

„Hochsprung! Drei Schritte Anlauf rechts!” kommandierte der Feldwebel, und mit mehr oder weniger Grandezza hüpften die Leute über die Schnur. Als der Feldwebel dieses Kunststück vorgeführt hatte, glaubte er, nun sei es genug, aber der Herr General befahl:

„Nun dasselbe mit drei Schritt Anlauf links!”

Der Feldwebel hörte es mit Grausen, und die Leute erst recht. Im Grunde genommen war das, was sie zeigen sollten, und das, was sie gezeigt hatten, genau dasselbe. Das eine Mal stellt man das rechte Bein zurück, das andre Mal das linke; aber nur den wenigsten Menschen ist bei der Geburt die Gottesgabe zuteil geworden, mit dem linken Fuß abspringen zu können. So waren denn die Leistungen auch hundsmiserabel. Fast jeder Kerl riß die Schnur herunter, und der General geriet außer sich: „Meine Herren, das geht nicht, das muß ganz anders werden.” Und zu den Leuten gewendet, fragte er: „Ist denn nicht einer unter euch, der mit drei Schritt Anlauf links springen kann ?”

Da trat ein Mann vor und sprang mit einer Eleganz, die wirklich Anerkennung verdiente.

„Na also, warum kann der es denn ?” fragte der General.

„Er ist ein Linkser,” lautete die Antwort.

Der General war von Jugend auf in der Geographie sehr schwach gewesen; von einem Badenser hatte er wohl schon einmal etwas gehört, von einem Linkser aber noch nicht, und so fragte er denn:

„Wo liegt denn das ?”

„Verzeihen der Herr General, der Mann ist insofern ein Linkser, als er links ist; er schreibt links, er schießt links, er sieht auch links . . . ”

„Ach ne,” meinte der General ganz erstaunt, „wie macht er denn das ?”

„Verzeihung, der Herr General haben mich nicht aussprechen lassen; ich wollte sagen, er sieht auch links am besten, ich meine mit dem linken Auge.”

„So, so,” meinte der General; er war etwas ärgerlich, daß er sich nun schon zweimal blamiert hatte, und seinem Ärger machte er dadurch Luft, daß er erst den Leuten grob wurde, und dann den Offizieren:

„Meine Herren, das geht nicht, solche Leistungen wünsche ich nicht wieder zu sehen. Nichts ist so falsch wie eine einseitige Ausbildung beim Turnen; ebenso wie die beiden Arme gleichmäßig geübt werden, muß es mit den Beinen auch der Fall sein. Daß der eine nur mit drei Schritt Anlauf rechts und der andre nur mit drei Schritt Anlauf links springen kann, wünsche ich nicht wieder zu sehen. Ich muß diese wichtige Übung von allen Leuten verlangen, selbstverständlich auch von den Herren Offizieren. Bitte, zeigen Sie mir doch mal, was Sie in dieser Hinsicht können.”

Die Mannschaften wurden hinausgeschickt, und das Springen der Herren Offiziere begann. Erst hüpften die Herren Leutnants, dann die Herren Hauptleute, auch die Herren Stabsoffiziere kamen an die Reihe, und ganz zuletzt führte der Herr Oberst ein Springsolo auf. Aber siehe da, den Anlauf mit drei Schritt links konnten nur die wenigsten, und diese wenigen konnten ihn auch nur sehr mangelhaft.

„Meine Herren, dann bleibt mir ja nichts andres übrig, als daß ich Ihnen selbst die Sache vormache.”

Der Herr General schnallte seinen Säbel ab und stellte sich in Positur: „Also, meine Herren, man nimmt den linken Fuß zurück, federt einen Augenblick auf beiden Fußspitzen, dann macht man einen langen und zwei kurze Schritte, und beim dritten Schritt springt man mit dem linken Fuß ab. Also so, meine Herren, lang - kurz, kurz, genau im Tempo des Daktylus, den Sie ja alle noch von der Schule her kennen. Und mit vollstem Recht heißt ja aus diesem Grunde dieser Anlauf zum Sprung: der militärische Daktylus. Also, meine Herren, lang - kurz, kurz, - eins - zwei, drei, hopp!”

Bei dem Hopp! sollte der Herr General nun mit dem linken Fuß abspringen; dieses aber tat er nicht; nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, und die weiteren Versuche scheiterten ebenfalls. Der General ärgerte sich über seine neue Blamage rasend, aber das half ihm ja nichts.

„Na, meine Herren,” meinte er schließlich, „in meinem Alter und in meiner Stellung habe ich es ja auch eigentlich nicht nötig, Ihnen solche Übungen persönlich vorzumachen, aber trotzdem, wenn ich zur Turnbesichtigung komme, dann kann ich den Sprung, verlassen Sie sich darauf, und ich verlange von Ihnen, daß Sie ihn dann auch können. Ich werde mir den Sprung schon einüben.”

Und der General hielt Wort. Zu Hause angekommen, kaufte er sich als erstes ein Schnursprunggestell, stellte dieses in sein Schlafzimmer, und jeden Morgen nach dem Aufstehen und jeden Abend vor dem Schlafengehen, jeden Tag vor Tisch und jeden Tag nach Tisch übte er eine Viertelstunde „drei Schritt Anlauf links”, und die Folge blieb nicht aus. Nach vierzehn Tagen hatte er den Sprung zwar noch nicht gelernt, dafür aber hatte er sich einen ganz sonderbaren Gang angewöhnt. Er ging nicht mehr, sondern er hüpfte immer im daktylen Versmaß über das Pflaster, er machte immer einen langen und dann zwei kurze Schritte. Er ärgerte sich selbst darüber, aber er konnte seine Beine gar nicht mehr anders bewegen, und nach weiteren vierzehn Tagen konnte er sie überhaupt nicht mehr still halten, weder im Liegen noch im Sitzen. Selbst unter dem Tisch und auf Gesellschaften machte er seine Sprungübungen, und bei einem Diner stieß er einer Dame, die ihm bei Tisch gegenübersaß, plötzlich mit beiden Füßen derartig gegen die Schienbeine, daß diese vor Schmerz beinahe ohnmächtig wurde. Der militärische Daktylus war ihm zur zweiten Natur geworden.

Da geschah es, daß die hohen Exzellenzen eines Tages ganz unerwartet zu einer Brigadebesichtigung erschienen, und als sie den Herrn General zu Pferde sahen, machten sie ein ganz erstauntes Gesicht. Der hatte sich nämlich eine ganz sonderbare Art zu reiten angewöhnt. Er nahm das linke Bein, legte es ganz weit zurück, beinahe bis an den Schweif des Pferdes, dann führte er es ganz langsam bis an die Schnauze des Pferdes, dann warf er mit einem kurzen, energischen Ruck das rechte Bein bis an die Pferdeschnauze und unmittelbar darauf das linke Bein, das er inzwischen wieder zurückgezogen hatte, ebenfalls. Und mit einem Hopp! hüpfte er im Sattel auf und ab. Und wenn er eine Minute stillgesessen hatte, fing er wieder von vorn an.

Aber das Unglück wollte, daß sein Gaul sich gerade an diesem Tage diese seltsame Reiterei nicht gefallen ließ. Vielleicht war er es schon lange satt, sich abwechselnd an seinem Schweif mit den Sporen und an seinen Nasenlöchern(3) mit den beiden Fußspitzen kitzeln zu lassen; vielleicht wollte er sich auch vor den Gäulen der hohen Vorgesetzten mit seinem elenden Reiter nicht blamieren; auf jeden Fall fing er plötzlich an zu bocken, und als der General wieder einmal mit einem mächtigen Wurf sein linkes Bein nach vorn schleuderte, da nahm der Schinder den Rücken hoch und den Kopf tief, und in einem weiten Bogen flog der General in den Dreck. Und da blieb er liegen; kein Mensch kümmerte sich um ihn.

„Bitte, Herr Oberst, übernehmen Sie das Kommando!” wendete sich die höchste Exzellenz an den ältesten Regimentskommandeur.

Da wußte der General, daß seine Totenglocke geschlagen hatte; aber eines tröste ihn in seinem Schmerz, daß er nun noch mehr Zeit als früher hätte, den Sprung mit drei Schritt Anlauf links zu üben.

Zehn Jahre lang übte er noch unverdrossen weiter, und eines Morgens geschah ein Wunder: ihm gelang der Sprung; zum erstenmal kam er mit drei Schritt links über die niedrige Schnur, ohne sie mit dem linken Fuß herunterzuwerfen.

„Friedrich, haben Sie gesehen ?” rief er freudestrahlend seinem Diener zu. „Friedrich, was sagen Sie nun ?”

Und Friedrich sagte: „Herr General, der Sprung war ja sehr schön, aber richtig war er doch nicht; der Herr General sind ja dieses Mal aus Versehen mit dem rechten Fuß abgesprungen.”

Da brach der General kraftlos in sich zusammen und gab alle weiteren Versuche definitiv auf. Und wie er sich früher Mühe gegeben hatte, die drei Schritt Anlauf links zu erlernen, so gab er sich fortan die größte Mühe, sie wieder zu verlernen. Aber auch das war vergebens. Er wurde seinen militärischen Daktylus bis zu seiner Sterbestunde nicht wieder los. Und er hatte eine schwere Todesstunde, die Beine wollten sich nicht beruhigen, sie machten beständig lang, kurz, kurz, eins - zwei, drei, und fortwährend stöhnte der Sterbende: „Hopp!” Endlich war er erlöst.

„Ist er wirklich tot ?” fragten klagend seine Verwandten, die das Bett umstanden. Da beugte sich der Arzt nieder, aber nicht um die Tätigkeit des Herzens, sondern die der Beine zu beobachten, und erst als er diese still und ruhig daliegen sah, sagte er: „Es ist aus.”


Fußnoten:

(1) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” ist hier der Titel „Aus einer kleinen Garnison” angegeben. (Zurück)

(2) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” ist hier der Titel „Erstklassige Menschen” angegeben. (Zurück)

(3) In der Fassung des „Teplitz-Schönauer Anzeigers” ist hier nochmals das Wort „abwechselnd” eingefügt. (Zurück)


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Jena oder Sedan
Roman von Franz Adam Beyerlein
61. - 80. Tausend
Ungekürzte Volksausgabe
Mit einem Vorwort des Verfassers
VITA Deutsches Verlagshaus, Berlin NW. 23, 1903, 737 S.
Jena oder Sedan
Roman von Franz Adam Beyerlein
Neuauflage
260. - 270. Tausend
VITA Deutsches Verlagshaus, Berlin-Suttgart, 1926, 462 S.

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Wiener Verlag, 1904, 269 S.
Aus einer kleinen Garnison
Ein militärisches Zeitbild
von Fritz von der Kyrburg
(Leutnant Bilse)
Neue Stereotyp-Auflage
Braunschweig, Verlag von Richard Sattler, 1904, 269 S.

Erstklassige Menschen.
Roman aus der Offizierskaste
von Freiherr von Schlicht
(Wolf Graf von Baudissin).
Dreiundzwanzigstes Tausend
Wien, Verlag von Carl Konegen, 1904, 354 S.
 
Life In A German Crack Regiment
By Baron von Schlicht (Count von Baudissin)
New York
Dodd, Mead and Company, 1915
Erstklassige Menschen.
Roman aus der Offizierskaste
von Freiherr von Schlicht
(Wolf Graf von Baudissin).
Achtes Tausend
Berlin, Verlag von Otto Janke, 1904, 354 S.