Von Freiherr von Schlicht.
in: „Treulose Frauen”
„Wieder nicht.”
So laut, so zornig sprach der Herr, der die aus der elektrischen Strassenbahn auf der Haltestelle aussteigenden Passagiere musterte, diese Worte, die ihm wider seinen Willen entfuhren, dass alle ihn verwundert ansahen.
„Vielleicht mit der nächsten,” rief ihm ein halbwüchsiger Bursche lachend zu und machte sich dann schleunigst von dannen, denn der Herr sah nicht darnach aus, als wenn er sich ungestraft necken liessen.
Der Wartende zog die Uhr und trat unter den Kandelaber, dessen Licht einen hellen Schein verbreitete: „In fünf Minuten halb neun,” sprach er unwillig vor sich hin, „ich verstehe Blanche nicht, sie ist doch sonst stets die Pünktlichkeit selbst und mit dem Glockenschlag acht Uhr pflegt sie doch zur Stelle zu sein. Ich begreife es garnicht, warum schreibt sie mir denn einen Rohrpostbrief, dass sie unbedingt käme, wenn sie mich nun doch im Stich lässt. Es muss etwas dazwischen gekommen sein; der Vater, die Mutter oder sonst irgend jemand haben ein Veto eingelegt und gesagt: „Heute Abend bleibst Du zu Haus.” Aber nein, das kann nicht sein,” verwarf er seine Gedanken, „ich kenne Blanche, sie lässt sich durch solch kleine Hindernisse nicht aufhalten, ihr Versprechen zu erfüllen. Wenn Blanche liebt, liebt sie schrankenlos, da lebt sie nur für den Geliebten — sie wird, sie muss noch kommen.” Wieder hielt ein Wagen — schnell eilte Curt von Basswitz, Seiner Majestät Allerschönster, wie er sich gerne nennen liess, herbei, um der Aussteigenden seine Hand und seinen starken Arm bieten zu können, aber der Liebe Mühen war umsonst — Blanche war auch dieses Mal nicht gekommen.
„So, nun ist es aber genug,” sagte er sich, „länger warte ich nicht. Wenn Blanche noch kommen sollte, weiss sie ja, wo ich wohne — sie ist so oft mit mir zusammen die Treppe zu meiner Wohnung hinaufgestiegen, dass sie meine stille Klause wohl auch einmal ohne mich finden wird —.”
Er wandte sich schnell um, um nach Haus zu gehen, aber er stiess bei seiner militärischen kurzen Kehrtwendung mit einer jungen Dame zusammen. Ihr Schirm fiel ihr aus der Hand und er beeilte sich, ihr denselben wieder zu überreichen.
„Pardon, mein gnädiges Fräulein.”
Er lüftete seinen Cylinder, den er als Offizier in Zivil stets zu tragen pflegte und trat dann den Heimweg an.
Aber schon nach wenigen Schritten machte er wieder Kehrt.
„Das war ja ein süsses kleines Geschöpf,” dachte er, „mittelgross, schlank und zierlich, wie ich sie liebe, elegant und fesch wie nur eine junge Dame es sein kann, — wer und was mag sie sein?”
Er folgte ihr mit den Augen. Sie ging, anscheinend jemanden erwartend, auf und ab und auch sie trat, so oft ein Wagen sich näherte, auf den Halteplatz zu.
„War ich denn blind?” dachte Curt, „dass ich das junge Mädchen bisher noch nicht bemerkte?”
Es schlug halb neun.
„Vielleicht kommt Blanche doch noch,” dachte Curt plötzlich, „die Entfernungen sind hier ja sehr gross — warum sollte sie gerade heute nicht kommen? Habe ich so lange gewartet, kann ich auch noch fünf Minuten länger warten.”
Er ging wieder dichter an das Geleise heran, aber während er anscheinend die herankommenden Wagen musterte, galten seine Blicke in Wirklichkeit nur der jungen Dame, die gleich ihm in voller Ungeduld auf- und abging.
„Es war wieder einmal nichts, mein gnädiges Fräulein,” sagte er lächelnd, als sie neben einander stehend die Aussteigenden gemustert und nicht gefunden hatten, was sie suchten, „es war wieder einmal nichts.”
Sie wandte sich ab und that, als ob sie seine Worte nicht gehört, aber er bemerkte doch, dass ein leises Rot der Verlegenheit ihre Wangen färbte.
„Sie ist süss,” dachte Curt, „noch nie sah ich,” wenigstens glaubte er es in diesem Augenblick, „solche schönen braunen Augen, solch zartes, feines Gesicht, noch nie solche entzückende kleine Nase, noch nie solchen zierlichen Mund, der nur dazu da zu sein scheint, um zu küssen und geküsst zu werden.”
Er blieb an ihrer Seite und lüftete wieder seinen Hut: „Mein gnädiges Fräulein, Sie brauchen mich wirklich nicht zu fliehen, ich bin kein schlechter Mensch, kein Räuber und kein Mörder, ich bin ein harmloser Wanderer, der eine Dame erwartet, die auf sich warten lässt, und da auch Sie anscheinend jemanden erwarten —”
„Eine Freundin, bitte, keinen Herrn,” warf sie ein.
„Selbstverständlich, eine Freundin, mein gnädiges Fräulein,” pflichtete er ihr ernsthaft bei, „ich würde mir nie erlaubt haben, etwas anderes zu glauben, geschweige denn zu sagen. Aber Ihre Freundin kommt nicht und mein Fräulein leider auch nicht, wir warten und warten — wie wäre es, könnten wir da nicht zusammen warten?”
„Ich danke Ihnen, mein Herr.”
Das klang so ablehnend wie nur möglich.
„Nur nicht auf halbem Wege stehen bleiben,” dachte Curt und sagte: „Ich bin Ihnen sehr dankbar, mein gnädiges Fräulein, dass Sie meinem Vorschlage so bereitwillig zustimmen. Ich begreife das vollständig: Giebt es auf der Welt etwas Entsetzlicheres als zu warten, jeden Augenblick zu denken: „So, nun ist es soweit,” um immer von neuem getäuscht zu werden?”
Sie sah ihn mit ihren grossen Augen strafend an: „Ich danke Ihnen wirklich für Ihre Begleitung, mein Herr.”
„Sie haben keine Veranlassung, mir zu danken,” gab er sofort zurück, „was ich thue, thue ich mit Freuden, ich bin glücklich, Ihnen einen kleinen Dienst erweisen zu können.”
Sie blieb stehen und sah ihn starr an: „Sie sind unverschämt, mein Herr.”
Er stöhnt laut auf: „Das war ein bitteres Wort, ich weiss nicht, wie ich es überwinden soll, und mich tröstet nur die Hoffnung, dass Sie es zurücknehmen werden, wenn Sie mich näher kennen gelernt haben.”
„Nie,” gab sie zu Antwort.
„Das sagte schon gar manche Dame,” erwiderte er gelassen, „aber alle sahen sie später doch ein, dass sie mir Unrecht gethan hatten.”
Sie schritten schweigend neben einander her und zuweilen war es Curt, als ob ihn ein kurzer, streifender Blick seiner Begleiterin träfe.
„Ist es nicht scheusslich und mehr als unfreundlich, mein gnädiges Fräulein?” plauderte er weiter, „zwei so nette Menschen, wie wir es doch sind, hier so lange warten zu lassen? Wie glücklich könnten wir beide schon sein, wenn unsere Freundinnen uns nicht im Stich gelassen hätten? Sie, mein gnädiges Fräulein, sässen mit Ihrer Freundin zusammen bei einer Handarbeit, tränken recht vielen schönen warmen Thee und läsen sich den neuesten Roman vor. Und ich? Nun, auch ich sässe mit meiner Freundin zusammen, aber nicht bei einer Handarbeit, sondern Hand in Hand, wir tränken recht vielen schönen kalten Sekt und erlebten an uns selbst das neueste Kapitel unseres neuesten Romans, denn Liebesgeschichten muss man nicht lesen, sondern erleben. Das, was ich selbst durchmache und erfahren, das interessiert und reizt mich, ob Hinz oder Kunz verliebt sind, ist mir ganz gleichgültig. Was habe ich von den Austern, die ein anderer isst, was habe ich von den jungen Damen, die ein anderer, noch dazu in Romanen, liebt und küsst? ist ja Unsinn, finden Sie nicht auch?”
„Was haben Sie davon, ob ich Ihnen zustimme oder widerpreche?” sagte sie, „ich kenne Sie nicht und will Sie auch nicht kennen lernen.”
„Das klingt sehr wenig schmeichelhaft,” erwiderte er, „aber wenn ich mich als Philosoph vorstellen und mit einem tiefsinnigen Ausspruch prahlen darf, so sage ich: „Das Leben hat mich gelehrt, nicht alles zu glauben, was man mir sagt.”
„Und verlangen Sie, dass man Ihnen alles glaubt?” fragte sie.
„Von Ihnen ja,” gab er zur Antwort, „denn ich sagte Ihnen noch nichts, was nicht die lautere Wahrheit wäre — doch,” verbesserte er sich, „eine Unwahrheit sagte ich doch. Ich äusserte vorhin, ich fände es unfreundlich, dass unsere Freundinnen nicht kämen — ich finde es in Wirklichkeit mehr als reizend, dass sie nicht kommen.”
Wieder standen sie bei der Haltestelle, sie schien seine letzten Worte überhört zu haben: „Einen Wagen will ich abwarten, wenn es auch dann nichts ist, dann gehe ich nach Haus.”
„Sie ist wirklich mehr als süss.” dachte Curt, „je länger ich sie ansehe, desto liebreizender erscheint sie mir, sie hat in dem Ausdruck ihrer Augen etwas Kindliches, Rührendes; — ach, wäre ich doch die Freundin, die von ihr erwartet wird.”
„Ich bin ganz Ihrer Ansicht, mein gnädiges Fräulein, einen Wagen warten wir noch ab, dann gehen wir nach Haus, dann gehen wir beide nach Haus, man kann auch sagen: dann gehen wir zusammen nach Haus.”
Sie drehte sich blitzschnell um und sah ihn mit zornig funkelnden Augen an: „Mein Herr, wofür halten Sie mich? Was denken Sie sich eigentlich?” —
„Was ich mir dachte, erlaubte ich mir bereits mit jener Zurückhaltung und Bescheidenheit, die ich stets Damen gegenüber bewiesen habe, zu sagen,” gab er ruhig zur Antwort. „Wofür ich Sie halte? Für ein ebenso hübsches, wie liebenswürdiges, junges Mädchen, das näher kennen zu lernen mein sehnlichster Wunsch ist, vor allen Dingen halte ich Sie aber auch für eine junge Dame, die ein viel zu gutes Herz hat, um überhaupt grausam sein zu können. Und mehr als grausam wäre es, mich heute Abend allein zu lassen: ich feiere heute einen für mich frohen Tag, nein, ich wollte ihn feiern in meinen vier Wänden mit der Dame, von der ich glaubte, dass sie mich liebe. Sie liebt mich nicht, sonst wäre sie gekommen, auch Ihre Freundin liebt Sie nicht, mein Fräulein, sonst wäre sie hier. Ich wollte ein Fest feiern und mein Diener deckte den Tisch mit allen schönen Sachen, die den Magen und damit das Herz eines Menschen erfreuen. Sehen Sie bitte einmal hinauf, mein gnädiges Fräulein, dort oben in der ersten Etage, wo das Licht brennt, dort wohne ich. Der Tisch ist gedeckt, der Sekt steht in den Eiskühlern — wollen, können Sie grausam sein? Verlangen Sie von mir, dass ich allein fröhlich zu sein versuche? Ich war gut und edel, ich versuchte, Ihnen über die langweilige Zeit des Wartens hinweg zu helfen, nun seien Sie edel und helfen auch Sie mir, die Zeit zu vertreiben. Und dann bedenken Sie eins: Meine Wohnung liegt sehr bequem, Sie können am Fenster Platz nehmen und von dort aus aufpassen, ob Ihre Freundin hier aussteigt. Sie können dann in einer Minute auf der Strasse sein und Ihre Freundin begrüssen. Was wollen Sie hier noch länger warten. Sie werden sich erkälten, es könnte anfangen zu regnen — ich glaube sogar, es regnet schon.”
Sie lachte laut auf: „Es ist doch Sternenhimmel,” sagte sie dann. Er ergriff ihre kleine Hand und führte sie trotz ihres Sträubens an die Lippen. „Ich danke Ihnen für dieses Lachen — man sagt, wenn zwei Menschen erst einmal zusammen gelacht haben, kennen sie sich, auch wenn sie sich bisher ganz fremd waren. Der Bann scheint mir gebrochen — nun seien Sie edel, lassen Sie uns zusammen an meinem Fenster weiterwarten.”
Sie wurde dunkeler vor Verlegenheit — er sah, wie sie mit sich kämpfte.
„Bitte,” sagte er — er sprach es heiss und innig und seine Augen ruhten mit leidenschaftlichem Feuer auf ihr.
„Aber nur unter einer Bedingung,” stotterte sie.
„Und die ist?” fragte er.
„Ich kann jeden Augenblick gehen.”
„Aber selbstverständlich,” beruhigte er sie.
„Und die Thür bleibt offen?”
„Ganz offen?” fragte er.
„Sie schliessen nicht ab,” bat sie.
„Ganz wie Sie es wünschen, mein gnädiges Fräulein.”
„Und Sie sind artig? Das versprechen Sie mir?”
„Ich verspreche Ihnen alles.”
„Und Sie werden es auch halten?” fragte sie und sah ihn an mit ihren dunklen Augen, aus denen verhaltene Leidenschaft und heisse Sinlichkeit sprach.
„Ganz wie Sie befehlen, mein gnädiges Fräulein,” gab er zur Antwort, und er nahm ihren Arm und führte sie hinüber in seine reich und luxuriös eingerichtete Junggesellenwohnung.
Sie trat an das Fenster und sah hinab auf die belebte Strasse.
„Glauben Sie wirklich, dass ich von hier aus sehen kann, wenn meine Freundin kommt?”
„Hätte ich Sie sonst hierher geführt?” fragte er und bot ihr ein Glas Sekt an.
Und dem ersten Glase folgte ein zweites.
„Wird es Ihnen nicht zu warm? Wollen Sie nicht, wenn auch nur für einen Augenblick, Hut und Jacket ablegen?” bat er.
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern löste ihre Hutnadel und küsste sie dann auf das Haar und ehe sie es verhindern konnte, auf den Mund.
„Nennen Sie das artig sein?” fragte sie, „wenn nun jemand uns hier sähe oder wenn gar jemand käme?”
Da zog er mit schnellem Griff die dichten Stores vor.
Sie huschte zur Thür und schloss dieselbe zweimal ab.