Der Zugführer.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Das kleine Journal”, Nr. 55 vom 24. Febr. 1896,
in: „Abendblatt”, (Chicago Ill.), vom 09.03.1896 und
in: „Aus der Schule geplaudert”.


Es giebt zweierlei Zugführer: solche, die Anderen etwas pfeifen, und solche , denen von Anderen etwas gepfiffen wird. Das ertsere sind diejenigen, die hoch zu Roß — wenn's auch nur ein Dampfroß ist — durch die Welt einhersausen und deren leitender Hand wir uns oft freiwillig anvertrauen, die letzteren sind diejenigen, die auch zu Roß — wenn auch nur auf Schusters Rappen — durch den Exerzierplatz laufen und denen sich Niemand anvertrauen würde, wenn nicht ein „Muß” es beföhle(1).

Von diesen letzteren will ich sprechen, ist doch gerade jetzt die Zeit(2), da sie sich im Schweiße ihres Angesichts ihr Butterbrod verdienen müssen.

Die Rekrutenvorstellung ist vorüber, die neu eingestellten Leute sind mit den Stammmannschaften vermischt worden. Die Kompagnie ist rangirt, die drei Züge sind eingetheilt worden und jedem Offizier ist ein Zug „in die Hand gedrückt”. Acht bis vierzehn Tage hat er Zeit, sich die Leute „in die Hand zu spielen”, sie an sein Kommando, an die Art und Weise seines Exerzierens zu gewöhnen, dann beginnt der „Kompagniebims”.

Die schönen Zeiten, da der Rekrutenoffizier mit den Händen in der Paletottasche dem Exerzieren zusah und hin und wieder ein Wort des Tadels oder des Vorwurfs fallen ließ, sind vorüber. Der Herr Premierlieutenant, der während der Rekrutenperiode gar nichts oder noch weniger zu thun hatte, hat den Winterschlaf ausgeschlafen, wenn auch noch nicht vergessen, und fluchend steigt er aus den während der kurzen Nachtruhe kaum warm gewordenen Federn, wenn der Bursche mit knöcherner Hand an die Thür des Schlafgemachs trommelt und dazu ruft: „Es ist schon sechs.” Das Aufstehen beim Militär richtet sich nach den Jahreszeiten, deren der Soldat nur zwei kennt — Winter und Sommer. Letzterer beginnt gleich nach der Rekrutenvorstellung — also spätestens im Februar —, und während man im Winter frühestens um sechs aufstand, steht man im Sommer spätestens um sechs Uhr auf. Im Winter ist von 7—8 Uhr Instruktion, im Sommer, falls kein Ausmarsch ist, von 6—7 Uhr. Und wenn Mittags bei Parole der frühe Dienst bekannt gemacht wird, blickt wohl der Eine oder der Andere auf den mit Schnee und Eis bedeckten Kasernenhof und flüstert seinem Nachbar zu:

„Du, Hein, ick heww noch garnich wußt, daß all Sümmer wär'!” (Du, Heinrich, ich hab's noch garnicht gewußt, daß schon Sommer ist.)

Auf dem Kasernenhof steht die Kompagnie zum Exerzieren bereit: die Zugführer haben den Anzug ihrer Leute nachgesehen und stehen nun, sich unterhaltend, vor der Front. Das Kommando „Stillgestanden” erfolgt, die jüngeren Offiziere stehen ebenfalls still und legen grüßend die Hand an die Mütze, der älteste Lieutenant meldet. Alles steht unbeweglich — aber Aller Augen sind auf den Vorgesetzten gerichtet und Jeder sucht aus dessen Mienen zu lesen, ob er heute guter oder schlechter Laune ist. Ach, das ist sehr wichtig für den Verlauf des ganzen Tages: die Beine von hundertzwanzig Leuten müssen es oft büßen, daß die Bertha dem Herrn Hauptmann schlechten Kaffee gekocht oder daß der Postbote ihm einen unerfreulichen Brief, eine Schneiderrechnung oder etwas Aehnliches gebracht hat.

Dann beginnt das Exerzieren: zuerst in Zügen. Der Zugführer stellt sich riesig eifrig, tadelt, was nur immer zu tadeln ist, oft auch noch mehr, und dankt seinem Schöpfer innerlich für jede Minute, die hierbei vergeht. Nun erfolgt der Ruf: „In Kompagniekolonne antreten, marsch, marsch!”

Der Lieutenant sieht etwas in der Luft blitzen — der Hauptmann hat den Säbel gezogen, das heißt auf deutsch: „Ich bitte die Herren Zugführer, einzutreten!” Nirgend auf werden Bitten mit solcher Bereitwilligkeit erfüllt als(3) beim Militär, da ist das Bitten ein wahres Vergnügen, man ist sicher, nie einen Korb zu bekommen.

Als der Lieutenant das Schwert in der Luft blitzen sieht, denkt er: „Gott sei mir Sünder gnädig!”(4) Einen Augenblick lähmt ihn der Schreck — nur für den hundertsten Bruchteil einer Sekunde.

Da wird er zum ersten Mal angepfiffen: „Meine Herren, ich muß sehr bitten, sich nicht so lange zu besinnen. Die Herren Zugführer müssen zuerst auf ihren Plätzen sein.”

Er reißt den Säbel aus der Scheide und stürzt wie ein angeschossener Eber auf den Vorgesetzten zu — drei Schritt vor ihm aber macht er Halt und stellt sich in strammer Haltung vor ihn hin. Der ganze Mensch ist unbeweglich, starr wie aus Erz gegossen, nichts rührt sich an ihm, nicht einmal die Augenwimpern.

„Jetzo kann der Tanz beginnen.”

Und er beginnt.

Zuerst kommt die „Kompagnieschule auf der Stelle”, als da sind: Griffe, Wendungen, Richtung.

Was für den unglücklichen Kaiser Karl die niemals richtig gehenden Uhren waren, das ist für den Zugführer die niemals stimmende Richtung. Steht der Mann richtig ausgerüstet(5) da, soll er bei „Augen rechts” mit dem rechten Auge seinen Nebenmann, mit dem linken Auge die ganze Knopfreihe schimmern sehen. Zuerst werden die Points — die Zugführer — ausgerichtet, nach diesen richtet sich die Kompagnie, und Sache der Offiziere ist es, die Leute ihres Zuges anzusetzen. Das klingt einfach und es ist so gräßlich schwer; spricht man zu laut, so soll man leiser sprechen, spricht man leise, so soll man lautere Hilfen geben; mit der Hand die Leute zu winken, ist verboten, mit dem Säbel zu winken, unstatthaft; mit dem Kopf zu nicken, unmilitärisch; sich vornüber zu beugen und den Leuten so ein Zeichen zu geben, ist unreglementarisch — Hilfe geben aber muß man. Wer kann das Rätsel lösen, wie man das anfängt? So kommt's, daß die Richtung nie stimmt — sie kann nicht stimmen, aber sie muß stimmen, und deshalb wird der arme Zugführer immer ganz krank, wenn es heißt: „Points vor!” Das bedeutet für ihn: „Nur noch wenige Sekunden — dann giebt es was auf den Hut.”

Im Gegensatz zu den Pferden bekommen die Menschen nicht vom langen Laufen, sondern vom langen Stehen dicke Knie, und um dieses zu verhindern, beginnt der Kompagniechef, kurzweg Häuptling genannt, nachdem er sich und Andere genugsam mit der Richtung, die eigentlich keine war, geärgert hat, mit der Marschbewegung. Da giebt's zunächst einen Sektionsmarsch — nur der Teufel kann den erfunden haben. Immer zu vieren steht die ganze Kompagnie hintereinander und auf das Kommando „Marsch” fliegen hundertzwanzig langschäftige Kommißstiefel, in denen eben so viele mehr oder weniger krumme Beine stecken, in die Höhe. Gleichzeitig sollen die Knochen gen Himmel fliegen, gleichzeitig sollen sie wieder den Boden berühren &mdash, thun sie es, dann „klappt” der Marsch; thun sie es nicht, nun, so „klappt” er eben nicht.

Und er klappt nie.

Wer hat die Schuld? Der Zugführer.

Die Zugführer marschiren am rechten Flügel ihrer Sektionen — untereinander auf Vordermann. Jeder giebt den Tritt an für seinen Zug, derjenige, der vorne marschirt, für die ganze Kompagnie. Zunächst macht jeder den Fehler, daß er nicht geradeaus geht — es giebt in der preußischen, sächsischen(6) und württembergischen Armee keinen Lieutenant, der nach Ansicht seiner Vorgesetzten geradeaus gehen kann — notabene: es ist thatsächlich entsetzlich schwer, nur die Hauptleute können es, wenigstens konnten sie es ihrer eigenen Behauptung nach, als sie noch jung waren, und da ihnen Niemand das Gegenteil zu beweisen vermag, haben und behalten sie Recht.

Bei dem Geradeausgehen bekommt der Zugführer den ersten „eingeschenkt”, aber nicht den letzten.

Dann soll er, wie schon gesagt, den Tritt angeben — wie soll er das machen? Es ist bei einer Armee wie der unsrigen selbstverständlich, daß jeder Lieutenant beim Exerzieren seine letzten Kräfte hergiebt, er macht es so gut, wie er kann. Aber richtig wird es nie. Entweder wirft er die Beine zu hoch oder nicht hoch genug, entweder schleppt sein Tritt oder er ist zu flott, entweder zu groß oder zu klein. Hoch zu Roß galoppirt der Häuptling um sein marschirendes Fähnlein: „Höher die Beine — höher — hö—ö—ö—ö—her!” Der Lieutenant wirft die Beine, daß er sich die Nasenspitze blutig schlägt und denkt dabei an den schönen Vers:

Von acht bis zehn 's ist zum Zerreißen,
Muß wieder man die Beine schmeißen,
Die Beine höher — in die Höh',
Die Hose reißt, ritsch, ratsch, ritsch, reh.”

Aber was nützt das Alles, er bekommt doch einen hineingewürgt.

Ist der Sektionsmarsch erledigt, kommt der Frontmarsch — da hat der Zugführer am rechten Flügel es wieder am schlimmsten. Ist die Kompagnie nicht ausgerichtet — und das ist unter hundert Mal neunundneunzig Mal nicht der Fall — so ist das lediglich seine Schuld; entweder er ist nicht geradeaus gegangen ode er ist „zu freiweg” marschirt oder aber er ist stehen geblieben. Wenn man beim Militär nicht einen Schritt von der vorgeschriebenen Länge — achtzig Centimeter — macht, so heißt es, „man bleibt stehen”, mögen die Beine auch noch so toll in der Luft herumwirbeln.

Aber auch den anderen Zugführern wird der Kopf gehörig gewachen: sie sind dafür verantwortlich, daß ihre Züge ausgerichtet sind; natürlich haben sie ganz allein die Schuld, daß dies nicht der Fall war; entweder waren sie für ihre Person eine halbe Meile vor oder drei Meilen hinter der Linie. Man spricht beim Exerzieren stets in Hyperbeln, aus einem Haar wird ein Meter, aus einem halben Schritt eine deutsche Meile, aus einer Sekunde oder deren minimalsten Bruchtheil eine Ewigkeit.

Den Schluß jees Exerzierens bildet der „Türke”; so benennt man das im Grunde genommen sich stets völlig gleichbleibende Gefecht.

Zuerst wird die Gefechtsidee ausgegeben: Tant de bruit pour une omelette! kann man auch da mit vollem Recht sagen. Es giebt eine reizende Geschichte. Ein Hauptmann will die Geschicklichkeit eines seiner Gefreiten prüfen und macht ihm zunächst die Gefechtslage klar: „Frankreich hat an Deutschland den Krieg erklärt. Während die deutschen Armeen nach Frankreich hineinmarschiren, gelingt es dem französischen Geschwader, die Nordsee zu erreichen und Truppen in Schleswig-Holstein zu landen, die von dort Berlin erstürmen sollen. Die Division hat den Auftrag, den anmarschirenden Feind aufzuhalten. Die Brigade, zu der Sie gehören, marschirt als Avantgarde und hat zu ihrer Sicherung wieder ein Regiment vorgeschoben, dieses ein Bataillon, dieses wieder eine Kompagnie, die sich ihrerseits wieder durch eine Spitze sichert. Sie marschiren bei der Spitze als Führer der rechten Seitenpatrouille. Plötzlich fällt ein Schuß — was machen Sie?”

Die Antwort, die der biedere Pommer auf diese Frage gegeben hat, ist der Nachwelt nicht überliefert worden, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil er gar keine Antwort gab, sondern ganz starr seinen Vorgesetzten anblickte. Hätte er eine Antwort gegeben, so wäre sie im Gegensatz zu der langen Frage entschieden sehr kurz gewesen und hätte sicher nur gelautet „Mist”.

Ich bitte wegen dieses obscönen Ausdruckes um Verzeihung, aber ich finde, termini technici darf man nicht verändern, und „Mist” ist die Bezeichnung für allen Unsinn, den alle Soldaten, ob General oder Musketier machen.

Auch der Zugführer bildet hierin keine Ausnahme. Andächtig lauscht er den Worten seines Vorgesetzten, er will es so gerne einmal ganz nach den Wünschen seines Hauptmanns machen, aber es geht nicht. Beim sprungweisen Vorgehen läuft er mit einem zufällig über das Feld fliehenden Hasen um die Wette und siegt mit 99/99 Nasenlängen(7) — aber schnell genug war es doch nicht. Greift er mit seinem Zug rechts an, hätte er links angreifen müssen, und umgekehrt. Geht er mit dem Unterstützungstrupp im Schritt, hätte er laufen müssen, wäre er gelaufen, so wäre es dieses Mal richtiger gewesen, im Schritt zu bleiben, falsch wird es immer, und bei der nachfolgenden Kritik kann sich der Herr Hauptmann nicht genug wundern, daß die Sache wieder nicht geklappt hat. Am liebsten würde er die ganze Geschichte noch einmal machen, von A bis Z. Der Hauptmann zieht die Uhr und die Zugführer fühlen sich einer Ohnmacht nahe, sie hören im Geiste schon das Kommando: „Points — vor” — aber der Himmel hat ein Einsehen, es ist vorbei — „leider” hat der Häuptling keine Zeit mehr.

„Es ist vorbei!” Aber auf wie lange? Auf Jahrhunderte, Jahre, Monate, Wochen, Tage? Ach nein, nur auf Stunden. Nachmittags geht die Sache von vorne los, bis es Abend wird, und wenn es wieder Morgen wird, geht es abermals los. Tag aus, Tag ein, Woche aus , Woche ein, bis die Kompagnievorstellung diesem Leben und diesem Leiden ein Ende macht.

Man klagt so oft, daß die Leute es so schwer hätten, ach, die Zugführer sind auch nicht auf Rosen gebettet. Der Musketier exerziert zwei Jahre hindurch die Kompagnieschule — der Lieutenant vierzehn bis fünfzehn Jahre. Das ist nicht leicht, ohne körperlich und geistig Krüppel zu werden.

Wenn die Sonne in diesen schönen Februartagen(8) freundlich lacht, freut sich jedes Herz, und wer nur immer kann, rüstet sich zu einem Ausflug in die schöne Natur. Alles freut sich, nur Einer wünscht, daß der Frühling niemals kommen möge, daß der Winter zurückkehre. Das ist der Zugführer: in dieser Jahreszeit der unglücklichste aller Menschen. Er seufzt und klagt und seine Klage lautet: „Ach hienieden, ach hienieden, ist es schwer Zugführer sein” — und er wiederholt diesen schönen Reim da capo ad infinitum, bis er entweder darüber einschläft oder noch blödsinniger wird, als er es Morgens und Nachmittags schon auf dem Exerzierplatz geworden ist.

Freiherr von Schlicht.


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung: „befehlen würde”. (zurück)

(2) In der Buchfassung: „Von diesen letzteren will ich sprechen und mit harmlosem Humor zu schildern versuchen, wie ...”. (zurück)

(3) In der Buchfassung: „wie”. (zurück)

(4) In der Buchfassung: ... denkt er: „Ach Herrje!” (zurück)

(5) In der Buchfassung: „ausgerichtet” (zurück)

(6) In der Buchfassung zusätzlich: „bayrischen” (zurück)

(7) In der Buchfassung: „einer 999/1000 Nasenlänge”. (zurück)

(8) In der Buchfassung: „den schönen Märztagen”. (zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite