Zu dumm.

Humoreske von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Das kleine Journal” Nr. 23 vom 23.Jan. 1902,
in: Der höflich Meldereiter,
in: Zu dumm und
in: Meiers Hose


Auf dem Kasernenhof wurde en détail exerzirt — für den, dem es Vergnügen macht, ist die Sache ja sehr schön, aber den meisten macht es keinen Spaß, weil man sich da mehr anstrengen muß, als wenn im Ganzen, fast hätte ich gesagt, als wenn en gros exerzirt wird, da kann man schon eher bummeln. Seit einer halben Stunde übten die Leute Griffe, erst nahmen sie „Gewehr über”, dann „Gewehr ab”, dann wieder „Gewehr über” und wieder dann „Gewehr ab”. Zwischendurch präsentirten sie auch hin und wieder einmal das Gewehr. Deutschlands Ruhm gilt's, Deutschlands Ehr'. Hauptsächlich aber präsentirten sie das Gewehr, damit der treuen Flinte die beständige Reise vom Erdboden auf die linke Schulter des Mannes nicht langweilig wurde — dem Soldaten selbst darf der Dienst und das ewige Einerlei nie langweilig werden.

Der Herr Hauptmann selbst führte die Oberaufsicht bei dem Dienst der Kompagnie und jetzt erklang seine scharfe, helle Stimme: „Achtung.”

Wie aus Erz gegossen glieb jeder so stehen wie er stand, Niemand rührte sich, Alle harrten der weiteren Befehle — was würde die nächste Sekunde bringen.

„Die Gewehre zusammen setzen — langsamer Schritt.” Durch die zweihundert mehr oder weniger krummen Soldatenbeine, die in mehr oder weniger schönen „sechsten” Hosen steckten, ging ein Zittern und Beben, sie wußten, was ihnen bevorstand.

Das Sonderbarste am langsamen Schritt ist, daß dieser garnicht existiert, wenigstens im Reglement nicht. Das kennt die Kunst nicht, mit scharf durchgedrücktem Knie auf einem Fuß zu stehen und das andere Bein, ebenfalls scharf durchgedrückt, nach hinten zu strecken und die Fußspitze dabei nach unten zu nehmen. Das Reglement kennt nur einen Marsch, aber als Vorübung für diesen wird der langsame Schritt doch geübt.

Den langsamen Schritt hat der Teufel selbst erfunden.

„Langsamer Schritt — sieben Schritt Abstand — einzeln vorbeimarschiren — der Flügelmann antreten!”

Die Unteroffizieren riefen es ihren Leuten zu, gleich darauf begann der Marsch und über den Kasernenhof hallte das einförmige „Eins — und zwei.” „Eins — und zwei.”

Bei Eins wird der linke Fuß auf die Erde gesetzt, während man sich gleichzeitig mit dem Oberkörper schön vorne hineinlegt — bei zwei der rechte Fuß.

„Ein tiefer Sinn liegt oft im kind'schen Spiel,” so ähnlich heißt ein Dichterwort wohl.

Vor der Mitte seiner Abtheilung stand der Sergeant Binsemann und ließ die Leute vorbeimarschiren: „Nicht wackeln — nicht wackeln — fest stehen auf dem linken krummen Knochen — drückt die Kniee nur durch, dann werdet Ihr schon stehen. Fest den linken Fuß aufsetzen, daß die Erde dröhnt, und die rechte Fußspitze auswärts, noch mehr, und herunterdrücken das Ding. Wenn Ihr im Bett liegt, können die Zehen nach dem Himmel zeigen, das soll mir einerlei sein, aber besser wäre es, Ihr übtet Euch(1) da das Fußrollen. Und fest stehen, Leute, fester als fest und nicht mit den Schultern wackeln. — Was habe ich gethan, daß ich dazu verurtheilt bin, Euch den Marsch beizubringen? Ginge es nach mir, ich ließe Euch zum Henker marschiren, so aber muß ich Euch immer wieder korrigiren, entweder bis Ihr die Sache kapirt habt, oder bis ich blödsinnig geworden bin. Tempo — Tempo — Teeeem—po. — Eins — und zwei. — Eins — und zwei. — Eins — und zwei. — Eins und —”

Aber mit einem Mal erstarb dem Sergeanten Binsemann das weitere Tempo auf den Lippen und wie geistesabwesend sah er mit starren Augen auf den Musketier Meier, der sich jetzt dem strengen Vorgesetzten im langsamen Schritt näherte.

„Meier,” — rief er endlich, „Meier — sind Sie denn über Nacht ganz blödsinnig geworden? Was ist Ihnen denn in Ihre Knochen gefahren? Warum marschieren Sie nicht auf Vordermann? Warum torkeln Sie hin und her wie ein lebendig gewordener Hering in der Salzsäure? Und warum drücken Sie das linke Knie nicht durch? Warum nicht? Mit dem rechten Bein Parademarsch und mit dem linken Bein Trauermarsch — da giebt's nur eins: „Zurück — marsch, marsch”.”

Und im „marsch, marsch!” lief Meier zurück nach der Stelle, von der er vor wenigen Minuten abmarschirt war. Gleich darauf trat er wieder an: schön war es auch dieses Mal nicht.

„Meier,” stöhnte der Herr Sergeant, „Sie sind doch sonst nicht so faul, für einen Menschen mit Ihrem Namen sind Sie sogar ein ganz brauchbares Mitglied der Armee — aber wenn Sie glauben, daß Sie sich darauf etwas einbilden und auf Ihren Lorbeeren ausruhen dürfen, dann irren Sie sich. Der Soldat thut seine Pflicht, bis er entweder todt oder zur Reserve entlassen ist. Merken Sie sich das. Zurück — marsch, marsch.”

Aber Meier kam dem Befehl nicht gleich nach, er machte sogar Anstalten, etwas auf den Tadel des Vorgesetzten zu erwidern — da aber kam er schön an: „Was? Entschuldigen wollen Sie sich auch noch? Wenn Sie reden wollen, lassen Sie sich später in den Reichstag wählen, dann kommt der Unsinn, den Sie quasseln, sogar in die Zeitung. Beim Militär heißt es: Maul halten. Warum war Moltke solch' großer Soldat? Ich will es ihnen sagen, nicht weil er Schlachten gewonnen hat, das können Andere auch, sondern weil er stets den Mund gehalten hat, wenn er nicht gefragt wurde. Erinnern Sie mich daran, ich werde mich in der nächsten Instruktionsstunde einmal etwas ausführlicher darüber äußern. Und nun: zurück, marsch, marsch.”

Als Meier wenig später abermals vorbeimarschirte, fiel er dem Herrn Leutnant unangenehm auf: „Was macht denn der Meier da, Sergeant Binsemann? Warum drückt er denn seinen linken Knochen nicht durch? Der Mann scheint mir wahnsinnig geworden zu sein und an Gehirnschwund zu leiden. Das giebt es aber nicht, der Soldat hat seinen Verstand nicht zum Spaß, sondern damit er ihn, ebenso wie seine Beine gebraucht. Bringen Sie das dem Mann bei, Sergeant Binsemann und schicken Sie den wahnsinnigen Jüngling zurück.”

Meier hatte diese Rede, wie es sich für den Soldaten eignet und gebühret, angehört, ohne mit den Wimpern zu zucken; jetzt aber machte er ein Gesicht, als wenn er etwas auf den Vorwurf des Vorgesetzten erwidern wollte. Da aber kam er schön an: „Ich glaube wahrhaftig, Sergeant Binsemann, der Meier, dieser unglückliche Erdenwurm, will sich auch noch entschuldigen. Machen Sie dem Mann bei Gelegenheit einmal klar, daß es das beim Militär nicht giebt. Entweder thut man seine Pflicht und drückt das linke Knie durch, dann ist jede Entschuldigung überflüssig, oder aber man bummelt, daß es die Engel im Himmel jammert, und drückt das linke Knie nicht durch; dann ist erst recht jede Entschuldigung überflüssig. Und nun scheeren Sie wahnsinniger Jüngling sich gefälligst dahin, woher Sie gekommen sind, aber etwas plötzlich, mein Lieber, immer die Beine in die Hand nehmen — marsch, marsch.”

Und wenig später stand Meier abermals an der Stelle, von der er vor wenigen Minuten abmarschiert war. Gleich darauf trat er wieder an, schön aber war es auch dieses Mal nicht.

Meier hatte entschiedenes Pech, dieses Mal fiel er dem Herrn Hauptmann unangenehm auf: „Meier, sind Sie denn ganz des Teufels? Mensch, warum drücken Sie denn Ihr linkes Knie nicht durch? Was denken Sie sich denn eigentlich dabei, hier so vorüber zu bummeln? Haben Sie heute Nacht Ihren Strohsack aufgegessen und sind Sie noch dümmer geworden als Sie es ohnehin schon waren? Das verbitte ich mir, verstehen Sie mich. Da hört sich denn doch aber Verschiedenes auf: drückt der Mensch einfach das linke Knie nicht durch. Zu glauben ist es überhaupt nicht — das muß man mit eigenen Augen gesehen haben, und selbst dann glaubt man es nicht. Herr Leutnant, ich muß mich sehr wundern, daß Sie den Mann überhaupt so ankommen lassen — der mußte sofort zurückgeschickt werden, sofort. Ich bitte mir aus, Herr Leutnant, daß Sie solche Bummeleien nicht durchgehen lassen und daß Sie Ihre Unteroffiziere besser anhalten, im Dienst genauer und akkurater zu sein. Sie aber, der Meier, scheeren Sie sich gefälligst auf Ihren alten Platz zurück und wenn Sie noch einmal so vorbeikommen, dann — dann —”

Das Weitere erstarb in einem undeutlichen Gemurmel. Der Herr Hauptmann schien sich selbst noch nicht ganz einig zu sein, was er „dann” mit dem Unglückswurm anfangen wollte. „Zurück, marsch, marsch,” donnerte er plötzlich.

Aber Meier kam dem Befehl nicht gleich nach, er machte vielmehr ein Gesicht, als wenn er auf den Vorwurf des Vorgesetzten etwas erwidern wolle. Aber da kam er schön an. „Meier,” schalt der Hauptmann, „Meier — Meieiei—er, ich glaube wahrhaftig, Sie haben Ihren Strohsack aufgefressen. Meier — als Mensch und Christ warne ich Sie, halten Sie nur den Mund, keine Widerrede, keine Silbe will ich hören, keinen lauten Athemzug — Todtenstille will ich haben, Todtenstille. Das wird ja immer schöner. Wenn das so weitergeht, muß ich wohl bald, bevor ich Jemandem von Euch meine Meinung sage, dazu um Erlaubniß bitten — die Welt geht unter, ich habe es, seitdem ich die Ehre habe, diese Kompagnie zu besitzen, schon immer prophezeit. Nun aber: zurück, marsch, marsch!”

Und wenig später stand Meier an der Stelle, von der er vor wenigen Minuten abmarschiert war. Gleich darauf trat er wieder an, schön war der Marsch auch dieses Mal nicht — im Gegentheil, er drückte das linke Knie noch weniger durch als vorhin.

Da erschien der Herr Major auf dem Kasernenhof: eine große Erregung ergriff alle betheiligten Gemüther, Alle blickten den hohen Vorgesetzten an.

„Wenn ich Glück habe, komme ich dieses Mal vorüber, ohne daß Jemand nach mir hinsieht,” dachte Meier — aber dieses Glück wurde ihm nicht zutheil. Er erregte sogar öffentliches Aergerniß. Der Herr Major machte den Herrn Hauptmann auf seinen schlechten Marsch aufmerksam und erkundigte sich anscheinend nach seinem Namen, denn plötzlich rief der Vorgesetzte den Musketier Meier zu sich heran.

„Meier,” sagte der Herr Major mit sehr strenger Stimme, „so geht das nicht — Sie sind nicht Soldat geworden, um zu bummeln, sondern um Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit zu thun. Ihr Herr Hauptmann sagte mir, er hätte Sie schon einmal zurückgeschickt — jetzt schicke ich Sie zurück und wenn Sie dann noch einmal so vorbeimarschiren, dann ist es mit dem Sonntagsurlaub saurer Essig. Das merken Sie sich, Und nun scheeren Sie sich dahin, woher Sie gekommen sind.”

Aber Meier kam dem Befehl nicht gleich nach; er machte vielmehr ein Gesicht, als wenn er auf den Vorwurf des Vorgesetzten etwas erwidern wolle. Da aber kam er schön an. „Was? Entschuldigen wollen Sie sich auch noch? Da bin ich aber sehr begierig, was Sie zu sagen haben. Heraus mit der Sprache, was giebt's?”

„Herr Major,” gab Meier zur Antwort, „ich bin heute Morgen die Treppe heruntergefallen — mein linkes Knie ist ganz dick angeschwollen.”

„Ja, Menschm warum sagen Sie das denn nicht gleich?”

Verständnißlos blickte der Herr Major den Untergebenen an, dann ließ er Meier eintreten und wandte sich an den Hauptmann: „Der Meier ist zu dumm!”

Und mit dem Brustton tiefinnerster Ueberzeugung erwiderte der Herr Hauptmann: „Zu Befehl, Herr Major!”


Fußnote:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „auch”. (zurück)


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