Faschingserzählung von Freiherrn v. Schlicht
in: „Illustrierte Zeitung (Leipzig)”, Nr. 3629, vom 16.Jan. 1913
Seite 155 - 160
Hans Heinrich von Werder, ein großer, schlanker, auffallend hübscher und eleganter Offizier von sechsundzwanzig Jahren, der als Leutnant dem in der mittelgroßen Stadt garnisonierenden Ulanenregiment angehörte, ging in seinem mit behaglichem Luxus eingerichteten Wohnzimmer auf und ab, während er von Zeit zu Zeit stehenblieb, um zu horchen, ob er vielleicht trotz der weichen, echten Teppiche, die seine Schritte dämpften, draußen das Glockenzeichen überhört habe, das ihm die Ankunft des Friseurs melden sollte. Aber dafür war ja schließlich sein Bursche da, der würde ihm schon Bescheid sagen, wenn es so weit war, und außerdem, er hatte Zeit — so eilig hatte er es nicht, auf den Ball zu kommen, zu dem sich heute die vornehmsten Kreise der Gesellschaft in den großen Räumen des elegantesten Hotels versammelten. Es eilte wirklich nicht, hinzukommen, der Ball würde ja doch erst bei Morgengrauen sein Ende erreichen, und je später er erschien, um so besser. Da zeigte er der Baronin von Klingsheim ja von Anfang an, daß er es im Gegensatz zu ihrer Behauptung doch vor Neugierde aushalten könne, ihre bildschöne Freundin kennen zu lernen, die sie sich eigens für diesen Abend eingeladen hatte, nur damit diese ihm, Hans Heinrich, den Kopf verdrehe, daß er öffentlich und feierlich erkläre: „Baronin, ich nehme alles zurück, was ich früher sagte, als ich behauptete: So sehr ich das weibliche Geschlecht auch liebe und verehre, niemals werde ich mich in ein weibliches Wesen so verlieben können, daß ich ernstlich Feuer fange, daß ich keinen anderen Wunsch habe als den, die junge Dame fürs Leben zu besitzen, daß ich in aller Form um ihre Hand anhalte. Vielleicht später einmal, nach zwanzig oder dreißig Jahren. Aber jetzt? Jetzt gibt es für mich nur eins, meinen Dienst und meine Pferde. Da kann ich nicht noch einem zweiten Herrn dienen, am allerwenigsten einer schönen Herrin.”
Hans Heinrich lachte unwillkürlich vor sich hin, aber er lachte nicht nur mit dem schönen, feingeschnittenen Mund, unter dessen tiefschwarzem Schnurrbart sich zwei Reihen blendend weißer Zähne zeigten, er lachte auch mit den hellbraunen Augen, aus denen so viel Jugend und so viel Übermut sprachen. Glaubte die Baronin wirklich, er würde öffenntlich Abbitte leisten? Glaubte sie, er würde so schnell seine Anschauungen ändern?
Nein, er konnte weiß Gott noch keine Frau gebrauchen; er dachte nicht daran, sich ernstlich zu verlieben, mocht die Freundin auch noch so schön sein.
Er wußte ja. was die Baronin damit bezweckte, daß er sich verlieben sollte — — das sollte seine Strafe dafür sein, daß er ihr früher in etwas auffallender Weise den Hof gemacht hatte, ohne daran zu denken, sie zu heiraten. Gewiß, sie war, als sie sich dann ihrem jetzigen Mann vermählte, sehr glücklich geworden, aber das wußten doch alle Eingeweihten, sie war nur deshalb die Frau Baronin geworden, weil sie nicht hatte Hans Heinrichs Frau werden können.
Der Ulan, der ihm als Bursche überwiesen war, trat in das Zimmer, um zu melden, daß der Friseur soeben gekommen sei. Das weckte ihn aus seinem Träumen und Sinnen. „Es ist gut, ich komme sofort,” gab er zur Antwort, und wenig später betrat er den neben dem Schlafzimmer gelegenen Ankleideraum, um dort Toilette zu machen. Es war für den heutigen Abend Kostümzwang vorgeschrieben. Die Maske anzulegen oder nicht, war jedem überlassen, denn man hatte zu wiederholten Malen festgestellt, daß man hier in der Stadt mit ihren norddeutschen Bewohnern doch nicht den richtigen Maskenton traf. Dazu schien die Sprache zu plump, das Wesen zu schwerfällig zu sein.
Als Hans Heinrich etwa eine Stunde später das Hotel erreichte, herrschte in den großen Sälen bereits ein beinahe lebensgefährliches Gedränge. Herren und Damen jeglichen Alters und jeglichen Standes in allen nur denkbaren Trachten promenierten bei den Klängen der Musik im fröhlichen Geplauder auf und ab, Scherzworte fielen hin und her wie die Papierschlangen, die über die Köpfe hinweg einander zugeworfen wurden, überall Lachen und Frohsinn, überall lustige, übermütige Gesichter, es war ja Fasching heute!
In diesem Menschenschwarm war Hans Heinrichs Erscheinen natürlich völlig unbemerkt geblieben, aber als er nun durch die Reihen hindurchschritt, um als erste die Baronin zu begrüßen und sich von dieser ihre Freundin vorstellen zu lassen, sah sich nicht nur manche junge Dame, sondern auch mancher Herr nach ihm um. Hans Heinrich hatte sich ein Phantasiekostüm zusammengestellt: Mit der weiß gepuderten Perücke auf dem Haupt, den kleinen Schönheitspflästerchen auf den Wangen, in dem rotseidenen Frack, in seidenen Escarpins, in weißen Strümpfen und schwarzen Schnabelschuhen, den kleinen Galanteriedegen an der Seite, war er wirklich eine auffallend schöne Erscheinung. Aber Hans Heinrich achtete nicht darauf, daß er die Aufmerksamkeit so vieler erregte. Beinahe auf Schritt und Tritt einen Bekannten grüßend, bahnte er sich seinen Weg, um die Baronin zu suchen, und zwischendurch spähte er nach ihrer Freundin aus. Groß und schlank sollte die sein, mit großen, blauen Augen. Aber wo sollte er die hier finden, und selbst wenn er eine fand, auf die die Beschreibung paßte, wie konnte er wissen, ob die unter den vielen fremden Gesichtern, die er hier heute zum erstenmal sah, gerade die richtige war? Gewiß, wenn er sie jetzt nicht fand oder gar nicht kennen lernte, war es auch noch so, aber trotzdem, je länger er sie vergebens suchte, desto lebhafter wurde der Wunsch in ihm wach, sie zu finden und sie kennen zu lernen, schon, um morgen der Baronin mit gutem Gewissen sagen zu können: „Sie haben sich geirrt, meine Gnädigste, auch Ihre Freundin hat es nicht fertiggebracht, daß ich mir selbst und meinen Grundsätzen untreu wurde.”
Da fühlte er plötzlich, wie seine Hand, von der er den Handschuh abgestreift hatte, ergriffen wurde. Er glaubte zuerst, es handle sich um den Händedruck eines Bekannten, aber als er dann näher hinblickte, sah er vor sich eine Zigeunerin, die sich so tief vornübergebeugt hatte, daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Mit der Linken hielt sie seine Rechte fest umspannt, während sie mit den Fingern ihrer Rechten seine Hand strich und streichelte, als wollte sie die Linien dadurch deutlicher zum Vorschein kommen lassen. Und so leise und so zart glitten ihre Finger über seine Hand, daß er ihr seine Rechte willenlos überließ. Er Empfand dabei sogar ein körperliches Wohlbehagen, als ginge ein leises, elektrisches Fluidum von ihren Fingerspitzen aus, das durch seinen ganzen Körper drang. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und geträumt, bis er dann doch endlich lachend fragte: „Nun, schöne Carmen, was prophezeist du mir denn Gutes?”
Noch immer stand sie vornübergebeugt, als sie jetzt zur Antwort gab: „Ihr dürft mich nicht Carmen nennen, denn ich heiße Ziska, und wenn du mich fragst, was ich dir prophezeie, so höre es denn. Du stehst im Begriff, dein Herz zu verlieren, aber du wirst trotzdem nicht glücklich werden, weil du nicht glücklich werden willst.”
„Du magst schon recht haben,” stimmte er ihr fröhlich bei, „oder vielleicht auch nicht, denn die Ansichten über das, was man das Glück nennt, sind bekanntlich grundverschieden. Für mich gilt das Wort: Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.”
„Es gibt aber noch ein anderes Glück,” widersprach sie, „und das kannst du schon heute finden, wenn du nur willst. Es ist dir nahe, hier diese Linie verrät es, aber die wird von einer anderen gekreuzt und die besagt, daß du das Glück von dir stoßen wirst.”
„Und sonst weißt du mir nichts zu künden?”
Sie schüttelte den Kopf: „Wenigstens nichts Gutes. Du wirst noch oft an diesen Abend zurückdenken, denn heute wird es für dich der letzte lustige Fasching sein.”
„So, nun ist es aber genug des Orakelns,” meinte Hans Heinrich, „wenn du nichts Besseres aus meiner Hand herauslesen kannst, dann verdirb mir nicht den heutigen Abend und nicht alle zukünftigen Faschingsabende. Und jetzt laß mich gehen.”
Die Zigeunerin ließ die Hand los, dann aber richtete sie sich plötzlich auf, und jetzt, als Hans Heinrich ihr ins Gesicht sah, als er mit einem schnellen, raschen Blick ihre schlanke, geschmeidige Gestalt umspannte, als er ihre wahrhaft sündhaft schönen, tiefschwarzen Augen mit den langen, dichten, schwarzen Wimpern erblickte, als er sah, wie sich die Nüstern der kleinen, feingeschnittenen Nase bewegten, da glaubte Hans Heinrich nioch niemals ein so schönes weibliches Wesen gesehen zu haben, und von ihrer Erscheinung völlig hingerissen, fragte er: „Wo kommst du her?”
Sich leise in den Hüften drehend und wendend und ihn mit flammenden und verführerischen Augen ansehend, gab sie zur Antwort: „Wo ich herkomme? Aus dem Lande der Pußta. Siehst du das nicht an meiner Tracht? In der Pußta, wo die Zigeuner zu Hause sind, da stand meine Wiege. Hast du nie etwas gehört von Mischka, dem berühmtesten aller Zigeuner, dem kein Geringerer als Lenau in seinen Gedichten ein Denkmal gesetzt hat? Aus dessen Stamm bin ich entsprossen. Wenn der Sturm durch die Pußta heulte, bin ich auf wilden Pferden mit dem Sturm um die Wette durch die Pußta dahingestürmt. Das Heulen des Sturmes war meine Lieblingsmelodie, aber fast ebenso liebte ich es, Mischkas Geige zu lauschen. Mischka, der Ahnherr, ist gestorben, aber sein Name vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht, wie die Kunst seines Geigenspiels. Willst du einmal hören, wie die Geigen jauchzen und weinen, wie sie frohlocken und jubeln, wie sie dann aber wieder klagen, daß es einem das Herz zerreißt? Dann mußt du mir in meine Pußta folgen und mußt für immer bei mir bleiben, denn wen die Pußta einmal hat, den läßt sie nicht wieder frei, der ist ihr verfallen mit Leib und Seele.”
Mit weicher, leiser, singender Stimme hatte sie zu ihm gesprochen, und ein Taumel hatte ihn ergriffen. War es ihre Schönheit, war es der Klang ihrer Stimme, hatten ihre Worte ihn erpackt und ergriffen — — er sah nichts mehr von den zahllosen Menschen, die sich um sie herumdrängten, er hörte nichts von dem Stimmengewirr um sich herum, er sah nur sie und vernahm weiter nichts als das letzte Klingen der Geigen.
Und auch sie mußte die Musik hören. Ihr schlanker Körper wiegte sich im Takte hin und her, bis er dann plötzlich die Hände begehrend nach ihr ausstreckte(1): „Komm, laß uns tanzen.”
Aber sie schüttelte den Kopf mit den langen, aufgelösten, dichten, schwarzen Haaren. „Nicht hier, nicht hier vor allen Menschen. Komm, folge mir, vielleicht, daß wir doch einen Platz finden, wo wir ungestört sind. Dort will ich tanzen, nur für dich allein, dort will ich dir zeigen, wie man in der Pußta tanzt, nach dem Klang der Geigen, nach der Zimbel, und dann, dann sollst du mit mir tanzen. Nur mir allein sollst du gehören für den heutigen Abend. Ich will dich beschützen vor der Gefahr, die dir droht; du sollst dein Herz nicht verlieren und das Glück nicht von dir stoßen, damit die Reue nicht später über dich kommt, denn die Reue ist schlimmer als der Tod.”
Und ihn bei der Hand erfassend, zog sie ihn mit sich fort, bis sie dann in einem kleinen Nebensaal endlich haltmachte. Nur leise waren dort noch die Weisen eines Walzers zu hören. Sie beide waren allein, und da tanzte sie vor ihm mit lachendem Mund und lachenden Augen, in jeder ihrer Bewegungen dezent und graziös, aber doch voll Feuer und Leidenschaft, seine Sinne entflammend.
Und als sie dann endlich für einen Augenblick erschöpft innehielt, aber nur, um gleich darauf in seine Arme zu fliegen und mit ihm zusammen im wilden Tanz dahinzustürmen, da hatte er nur einen Wunsch, nur einen Gedanken, dieses schöne Geschöpf festzuhalten für immer, sie nie wieder freizulassen, damit sie für immer bei ihm bliebe als seine Frau. Wie namenlos glücklich mußte der Mann sein, dem es gelang, ihre Liebe zu gewinnen! Kein anderes Glück konnte dem gleichkommen, dem gegenüber verschwand mit einem Male alles, was er bisher sein Glück genannt hatte.
Nicht auf dem Rücken der Pferde lag das Glück dieser Erde, sondern einzig und allein in der Liebe einer schönen Frau.
Als erriete sie seine Gedanken, so schmiegte sie sich noch fester an ihn, sah mit heißen, lodernden Augen zu ihm auf, um sich dann plötzlich aus seinem Arm loszureißen und in dem Gedränge zu verschwinden, noch bevor er sich von seinem Staunen erholte, noch bevor er Zeit gefunden hatte, ihr zu folgen.
Aber als er sich dann doch endlich auf die Suche nach ihr machte, war und blieb sie verschwunden. Statt dessen stand plötzlich die Baronin vor ihm, ein leises, spöttisches Lächeln auf den Lippen, um ihn dann mit den Worten zu begrüßen: „Ich habe Sie schon lange, ohne daß Sie es merkten, beobachtet. Nun, wie ist es? Sind Sie immer noch nicht bekehrt, und habe ich Ihnen zuviel von meiner Freundin erzählt? Ich glaube es kaum, denn wenn Sie in die schöne Zigeunerin nicht verliebt sind — — ich hab Sie Ihnen absichtlich falsch geschildert, Sie sollten sich verlieben, ohne zu wissen, wen Sie vor sich hatten, und ich denke, es ist mir gelungen?”
Ja, es war ihr gelungen. Sein Herz hatte Feuer gefangen. Er war verliebt, wie er es in seinem Leben noch nie gewesen war, und wie er es nie wieder sein würde. Aber trotzdem, das einzugestehen, brachte er nicht über die Lippen. Ja, wenn Ziska ihn gefragt hätte: „Hast du mich lieb?” Mit tausend Eiden hätte er es ihr geschworen, aber dieser Fremden, die ihn etwas spöttisch lächelnd betrachtete, die nur zu deutlich eine gewisse Schadenfreude darüber verriet, daß er in die ihm gestellte Falle gegangen war, der sollte er von seiner Liebe sprechen? Nicht nur sein Stolz lehnte sich dagegen auf, ihm war, als würde er seine Liebe entweihen, wenn er die jetzt öffentlich bekanntgäbe, und so sagte er denn mit kalter Stimme: „Sie irren sich, Baronin, so schön ihre Freundin auch ist, ich liebe sie nicht, und werde sie auch niemals lieben.”
Und es mußte ihm gelungen sein, sie zu täuschen. Das hörte er aus ihrer Antwort heraus, als sie nun sagte: „Vielleicht ist es auch besser so, denn nun kann ich es Ihnen ja gestehen, Ziska ist ja bereits verlobt und hat nur auf meine Bitten hin ihr Spiel mit Ihnen getrieben.”
Dann ging sie mit flüchtiger Verabschiedung weiter, und Hans Heinrich blieb wie angewurzelt stehen. Aber als er dann allein war, griff er unwillkürlich nach seinem Herzen; ihm war, als wäre da eben etwas gerissen, was so schnell nicht wieder heilen würde.
Dann bahnte er sich seinen Weg dem Ausgang zu, um gleich darauf nach Hause zu gehen; er wollte und durfte Ziska heute nicht mehr begegnen. — —
* * *
Und wieder einmal war es Fasching geworden.
Hans Heinrich von Werder, der schon seit Jahren als Rittmeister a. D. das Leben eines sehr reichen, eleganten Junggesellen führte, seitdem ein Sturz vom Pferde ihn gezwungen hatte, seinen Abschied zu nehmen, saß in seinem mit verschwenderischer Pracht eingerichteten Rauchzimmer in einem bequemen Lederfauteuil vor dem hell brennenden Kaminfeuer. Die Beine weit von sich gestreckt, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, blickte er sinnend und grübelnd vor sich hin.
Es war Faschin! Schon zum fünfzehntenmal wieder Fasching, seitdem Ziska ihm damals prophezeit hatte, er werde nie wieder einen frohen und lustigen Faschingsabend erleben. So war es denn auch gekommen, aber in der Hauptsache wohl durch seine eigene Schuld. Sooft es Fasching wurde, tauchte Ziskas Bild ganz deutlich vor ihm auf, und wenn er auch sonst manchmal tage- und wochenlang nicht an sie dachte, am Fasching stand sie ganz deutlich vor ihm; er hörte ihre Stimme und ihr Lachen, er fühlte ihre schlanke und geschmeidige Gestalt in seinen Armen, als ob er wieder mit ihr dahintanze. Vorbei, vorbei! Ebenso plötzlich wie sie an jenem Abend vor ihm auftauchte und in sein Leben eingriff, ebenso plötzlich war sie wieder verschwunden. Er war ihr nie wieder begegnet, hatte auch nie wieder etwas von ihr gehört, nur daß er bald darauf die Nachricht erhielt, daß sie sich verheiratet habe. Wo sie war, wo sie wohnte, ob sie überhaupt noch lebte, er wußte es nicht, und doch war ihm zuweilen, als müßte er sie noch einmal wiedersehen, als müßten sie sich noch einmal begegnen; denn er wollte es nicht glauben, daß jene erste Begegnung wirklich zugleich auch die letzte gewesen sein sollte. Aber wenn das Leben ihn wirklich noch einmal mit ihr zusammenführen sollte, was dann? Sie war doch eine verheiratete Frau.
Hans Heinrich von Werder, trotz seiner vierzig Jahre auch heute noch ein auffallend hübscher, schlanker und eleganter Mensch, der in der Berliner Gesellschaft in vieler Hinsicht tonangebend war, saß an dem brennenden Kaminfeuer und sann und sann. Alljährlich, wenn es Fasching war, ließ er in Gedanken die Begegnung mit Ziska wieder lebendig werden. Nur als Ziska lebte sie in seiner Erinnerung, ihren anderen Namen wußte er kaum noch; er hatte ihn ja nur ein paarmal flüchtig gehört.
Er bemerkte es nicht, als sein Kammerdiener jetzt mit leisen Schritten in das Zimmer trat, erst ein diskretes Räuspern ließ ihn aufblicken.
Hans Heinrich strich sich mit der schlanken, weißen Hand über die Stirn, als müßte er erst gewaltsam verjagen, was ihn soeben beschäftigt hatte; dann fragte er: „Wird es Zeit, daß ich mich umkleide?”
Eine stumme Verbeugung war die Antwort, und Hans Heinrich erhob sich, um Toilette zu machen. Es war ja Fasching heute, und draußen im Grunewald, wo der reiche Generalkonsul nebst seiner Gattin die vielen Freunde seines Hauses zum Faschingsball vereinigte, wurde auch er erwartet, wenn auch nicht mehr als der flotte und leidenschaftliche Tänzer von ehemals. Damit war es vorbei, wie mit der Zeit, in der er mit weiß gepudertem Haar, im rotseidenen Frack, in Eskarpins den Faschingsball besuchte. Jetzt paßte für ihn nur der schwarze Gesellschaftsanzug, höchstens daß er sich in das Knopfloch des Frackes eine kostbare Orchidee stecken konnte. Ein etwas wehmütiges Lächeln huschte für einen Augenblick über sein Gesicht, aber als er dann nach beendeter Toilette einen Blick in den großen Ankleidespiegel warf, war er doch mit seiner äußeren Erscheinung zufrieden.
Wenig später meldete der Diener, daß das Automobil vorgefahren sei,, und nach kaum halbstündiger Fahrt erreichte Hans Heinrich die Villa seines Gastgebers.
Die breite Treppe hinauf ging es zu den großen Empfanfsräumen. Ein flüchtiger Händedruck mit den liebenswürdigen Wirten, dann tauchte ein jeder unter in dem Schwarm der Gäste, und schon von Anfang an lockten die Geigen zum Tanz.
Hans Heinrich schritt durch die Reihen der Gesellschaft, überall Bekannte begrüßend, dann trat er in eine Fensternische und hielt Umschau im Kreise der schönen und eleganten Frauen, der vielen hübschen jungen Mädchen. Die Jugend war auch heute im Kostüm erschienen, aber auch viele verheiratete Damen hatten die übliche Ballrobe mit einer phantastischen Tracht vertauscht. So war es ein buntes, farbenprächtiges Bild, das sich dem Zuschauer bot, und über dem Ganzen schwebte der Humor, eine fröhliche, ausgelassene Stimmung.
Nur Hans Heinrich konnte auch heute wieder die Faschingsstimmung nicht finden. War er mit seinen einundvierzig Jahren wirklich zu alt dafür, oder war abermals Ziska daran schuld? Er schalt sich selbst töricht. Sollte das bis an sein Lebensende so weitergehen, daß sie nie aus seiner Erinnerung schwand? Aber schuld hatte er ja nur ganz allein. Warum hatte er die wieder vorhin aus der Vergangenheit heraufbeschworen? Er wollte nicht mehr an sie denken. Schon ein paarmal hatten fröhliche Paare, die an ihm vorbeitanzten, ihm scherzend ein neckendes Wort zugerufen, als er so allein und nachdenklich dastand. So mischte er sich denn jetzt unter die Schar der Geladenen, um dann plötzlich wie versteinert stehenzubleiben: Dort, nicht weit von ihm entfernt, keinen Blick von ihm abwendend — — er fuhr sich mit der Hand über die Augen, um das trügerische Bild zu verscheuchen, das er da zu sehen glaubte. Gewiß, es war ein Gespinst seiner Phantasie, es konnte ja auch gar nicht anders sein. Denn jene schlanke Gestalt, die da in der phantastischen Tracht einer Zigeunerin — — war denn überhaupt so etwas von Ähnlichkeit möglich? Bis er sich dann doch sagen mußte: „Das ist Ziska, wie sie dir damals gegenübertrat. Mag ihr Gesicht sich im Laufe der Jahre auch ein klein wenig verändert haben, ist der mädchenhafte Reiz vielleicht auch ein wenig entschwunden, noch immer ist sie sinnberückend schön, noch immer hat sie ihre schlanke Figur, ihre unergründlich tiefschwarzen Augen, ihr lang aufgelöstes, schwarzes Haar — — sie ist es!”
Aber trotzdem, war sie es wirklich, konnte sie es sein?
Da bemerkte er, daß auch sie noch fortwährend zu ihm herübersah. Hatte sie ihm mit ihren lachenden Augen gewinkt, oder bildete er sich das nur ein? Aber plötzlich stand er vor ihr, zitternd vor Erregung, als befände er sich einem Unbegreiflichen gegenüber, bis er dann endlich, wenn auch stockend und mit schwerer Stimme, fragte: „Ziska, bist du es, und wenn du es bist, wo warst du die ganzen Jahre, daß ich dich erst heute wiedersehe?”
Ein helles, fröhliches Lachen klang an sein Ohr: „Ja, ich bin es selbst, und wenn du wissen willst, wo ich die ganze Zeit war? — In der Pußta bei den Zigeunern habe ich auf dich gewartet, die ganzen Jahre, denn ich mußte dich noch einmal wiedersehen. Da kam mir die Kunde, daß du heute hier wärest. Da habe ich mich aus dem fernen Lande aufgemacht und meinem Stamm für immer Lebewohl gesagt, denn ich kehre nicht wieder zurück. Zum letztenmal trage ich heute mein Zigeunerkleid, von morgen ab gibt es keine Ziska mehr.”
Lachend und übermütig hatte sie begonnen, aber ihre Stimme war immer ernster und ernster geworden, daß er ganz betroffen zu ihr aufblickte, und ihre Augen ruhten so seltsam auf ihm, anklagend und fragend, daß ihn eine Unruhe überfiel, die er sich nicht zu erklären und nicht zu deuten vermochte. Bis er dann doch endlich zu ihr sagte: „Ziska, ich kann das Wunder immer noch nicht fassen, dich wiederzusehen. Wie oft habe ich in all den Jahren an dich gedacht, wie oft ein Wiedersehen herbeigeseht!”
„Auch du?”
Heiß und leidenschaftlich flammte es in ihren Augen auf, leise und sinnbetörend waren die Worte über ihre Lippen gekommen, und noch bevor er sich von seinem Erstaunen erholt, noch bevor er begriffen hatte, wie sehr ihre Frage ihm verriet, daß auch sie ihn nicht vergaß, fuhr sie fort: „Nun, da ich weiß, daß auch du mich nicht vergessen hast, da weiß ich, daß ich ein Recht hatte, dich heute hier zu suchen, um von dir Antwort zu fordern auf eine Frage, die mich gequält hat die ganzen Jahre. Frage mich jetzt nicht, was ich inzwischen erlebte. Auch uns Zigeunern bleibt das Weh des Lebens nicht erspart, uns erst recht nicht, denn wir sind heißblütig und voll Temperamentes. Wir lassen uns von unseren Leidenschaften nur zu sehr hinreißen, wir dulden keine Kränkung und keine Beleidigung, und wer uns die zufügt, an dem rächen wir uns, auch wenn wir unter dieser Rache selbst am meisten zu leiden haben. So habe auch ich gehandelt. Ich habe es bitter genug büßen müssen. Aber eins will ich jetzt von dir wissen: schwörst du mir, die Wahrheit zu sagen?”
Hingerissen von ihren Worten, von dem Klang ihrer Stimme, von dem Blick ihrer Augen, von der Leidenschaft ihres Wesens, unterlag er abermals dem Zauber, den ihre ganze Persönlichkeit auf ihn ausübte, und seine Liebe zu ihr, die nie erstorben war, flammte um so heißer und um so verzehrender in ihm auf, daß er keines ruhigen Gedankens fähig war, daß er sich gar nicht fragte, war ihre seltsamen Worte wohl bedeuten könnten. So sagte er denn nur: „Was du auch immer von mir zu wissen begehrst, ich schwöre es dir, die Wahrheit zu sagen.”
Da trat sie noch näher an ihn heran, so dicht, daß er ihren heißen Atem verspürte, daß der Duft, der von ihr ausging, seine Sinne umnebelte. Und seine Hände ergreifend, während sie zugleich ihre Augen in die seinigen versenkte, als wollte sie seine geheimsten Gedanken erraten, fragte sie mit leiser Stimme: „Habe ich an jenem Abend allein gelogen, als ich dir sagen ließ, ich wäre mit einem anden verlobt? Die Ausrede war verabredet für den Fall, daß es mir nicht gelingen sollte, deine Liebe zu gewinnen. Kein junges Mädchen nimmt es ruhig hin, wenn sie hört, daß sie nicht wiedergeliebt wird, am wenigsten ein Zigeunerkind. Dafür, daß du mich nicht wiederliebtest, wollte ich mich rächen, deshalb allein ließ ich dir sagen, ich wäre nicht frei, hätte nur mit dir gespielt. Oder hast auch du gelogen, als du erklärtest, du liebtest mich nicht? Ich habe meine Schuld gesühnt. Um nicht als Lügnerin vor dir zu erscheinen, habe ich bald darauf den ersten besten Mann erhört, der sich um mich bewarb, — frage nicht, was ich gelitten, bis ich wieder frei wurde, frage auch jetzt nicht, wie uns das Leben heute hier zusammenführte. Sage mir nur eins, die Wahrheit. Hast auch du damals dich und mich belogen?”
„Ja, ich tat's, und schwerer als ich wirst auch du kaum unter der Schuld gelitten haben.”
Fest und ehrlich kam das Geständnis über seine Lippen, und sie hörte aus seinen Worten nicht nur die Reue heraus, sondern auch, daß er sie heute noch liebe. Ein Zittern und Beben ging durch ihren Körper, fester umspannten ihre Finger seine Hände, während zugleich ein Lachen des sonnigsten Glückes über ihr Gesicht huschte.
Dann aber sah sie ihn abermals mit traurigen Augen an, bis sie plötzlich zu ihm sagte: „Nun weiß ich, was ich wissen wollte, und nun werde ich vielleicht doch noch in die Pußta zurückkehren zu meinen Zigeunern und zu den Geigen, zu den Liedern und den Tänzen meiner Heimat, und ich werde nicht mehr klagen, denn nun weiß ich, daß ich doch nicht ganz umsonst gelebt habe, daß auch ich einmal wirklich geliebt worden bin.”
Sie versuchte ihre Hände zu befreien, aber er hielt sie fest, während er ihr voller Erregung zurief: „Und du glaubst wirklich, Ziska, daß ich dich zum zweitenmal gehen lasse? Damals rissest du dich los und warst verschwunden, ehe ich dich zurückhalten konnte. Jetzt aber halte ich dich. Versuche es doch, ob du mir zum zweitenmal entwischen kannst.”
„Und wenn ich nun gar nicht entwischen will?”
Leise und fast unhörbar kamen die Worte über ihre Lippen. Mit lachenden, schelmischen Augen sah sie ihn an, ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihren Mund, und noch einmal fragte sie ihn: „Und wenn ich nun gar nicht entwischen will?”
Da zog er sie mit sich fort, bis er sich unbeobachtet glaubte, und dann preßte er sie an sich und küßte sie auf den Mund.
Niemand sollte es sehen, aber man sah es doch, und lachend und übermütig klatschte man Beifall.
Warum sollten sich die beiden schönen Menschen auch nicht küssen? Es war doch Fasching!
(1) In dem Text der „Illustrierten Zeitung” heißt es hier: „aussteckte” (Zurück)