Militärische Humoreske von Freiherrn von Schlicht
in: „Almanach der Lustigen Blätter” (1910) und
in: „Kaisermanöver”
Es war im Manöver, und für den heutigen Tag hatte Seine Hoheit sich im Gelände angesagt, er wollte den Übungen beiwohnen, um als aufmerksamer Zuschauer seine ohnehin schon bedeutenden militärischen Kenntnisse zu bereichern. Um 9 Uhr wollte Seine Hoheit auf dem Rendezvousplatz eintreffen, und pünktlich auf die Minute war er zur Stelle. Mit einem freundlichen „Guten Morgen” begrüßte er die versammelten Offiziere, dann wandte er sich an Seine Exzellenz und machte ein Gesicht, als erwarte er, daß dieser eine des großen Augenblicks würdige Ansprache an seine Offiziere halten solle.
Und Exzellenz beeilte sich, diesem stillen Gedanken Seiner Hoheit nachzukommen: „Meine Herren, ich möchte zunächst in unser aller Namen unserer großen Freude Ausdruck geben, daß wir Seine Hoheit am heutigen Tage in unserer Mitte begrüßen können. Sie wissen, meine Herren, wie streng ich stets darauf gehalten habe, daß wir im Manöver nicht Krieg spielen, sondern Krieg führen. Heute verlange ich das mit Rücksicht auf die uns hochehrende Anwesenheit Seiner Hoheit erst recht von Ihnen. Ganz besonders ermahne ich die Kavallerie, nur so zu handeln, wie sie es im Ernstfalle tun würde, also nicht wie üblich mit ihrer Nase am Pferdeschwanz des Gegners zu kleben, sondern aus der Ferne zu beobachten und wirkliche Patrouillenritte und keine Morgenspazierritte zu machen.” Und ohne sich durch die Anwesenheit Seiner Hoheit einschüchtern zu lassen, schloß er mit den Worten: „Gnade Gott dem Leutnant der Kavallerie, der entweder keine Meldungen schickt oder die Botschaft sendet, Hindernisse im Gelände machten ihm ein weiteres Vordringen unmöglich. Hindernisse gibt es einfach nicht, und wenn es die dennoch gibt, so gibt es die nur, damit sie überwunden werden.”
Seine Hoheit nickte zustimmend mit dem Kopf, und unmittelbar nach Beendigung dieser Rede wurde der Vormarsch angetreten. Schon nach einer guten Stunde stieß man auf den Feind, und bald war die Schlacht im besten Gange.
Die Nordpartei hatte den Auftrag, die Südpartei uner allen Umständen aus ihrer Stellung zu verdrängen, und die Südpartei hatte den Auftrag, ihre Stellung unter allen Umständen zu halten. Die beiden Führer wußten ganz genau, daß derjenige, der seinen Auftrag nicht durchführte, unter allen Umständen in die Wurstmaschine käme und verabschiedet würde. Sterben aber wollten sie beide noch nicht, und so kämpfte ein jeder von ihnen mit dem Heldenmut der Verzweiflung.
Vorläufig standen die Aktien für beide Parteien gleich, aber „Nord” konnte und mußte gewinnen, wenn es ihm gelang, den rechten feindlichen Flügel, der irgendwo frei in der Luft schwebte, zu ermitteln und ihn dann durch eine Umgehung über den Haufen zu werfen.
Aber soviel Kavalleriepatrouillen der Führer von „Nord” auch schon abgeschickt hatte, um über die Ausdehnung des rechten feindlichen Flügels genauere Meldungen zu erhalten, bis jetzt war noch nicht eine einzige zurückgekehrt.
So schickte er denn jetzt noch eine Offizierspatrouille in die Welt, die letzte, die er zu vergeben hatte. Viel Hoffnung hegte er allerdings nicht, daß gerade Leutnant Aberg den schwierigen Auftrag lösen werde, denn der war zwar ein bildhübscher Kerl und bildete das Entzücken aller jungen Damen, aber trotzdem oder gerade deshalb bildete er keine Zierde der Wissenschaft.
Gleich darauf trabte Leutnant Aberg mit seinen Leuten davon. Es galt, langsam und vorsichtig zu reiten, und es kam darauf an, möglichst viel zu sehen und möglichst wenig gesehen zu werden. Aber das war leichter gedacht als getan, denn der Gegner, der seine schwache Stelle sehr genau kannte, war auf seiner Hut, und Aberg mußte immer weiter ausbiegen, um nicht abgeschnitten zu werden. Das Gelände wurde beständig schwieriger, nur langsam bahnten die Reiter sich ihren Weg, und jetzt kamen sie gar an einen endlos langen Bach, der deshalb nicht zu passieren war, weil die Pferde an den nassen Ufern sofort einsanken.
Das war eine schöne Geschichte, denn rüber mußten sie, es war nur die Frage, wie sie da herüberkommen sollten.
„Vielleicht ist irgendwo eine Brücke, Herr Leutnant,” meinte eine der Husarenjacken.
Auf den Gedanken war Aberg selbst noch nicht gekommen, aber gerade deshalb sagte er jetzt: „Natürlich ist irgendwo eine Brücke, aber wo?”
Man machte sich auf die Suche, und endlich fand man sie. Es war eine starke, aber nicht sehr breite Holzbrücke, die mit einiger Vorsicht schon passiert werden konnte.
Man saß ab und schickte sich gerade an, die Pferde hinüberzuführen, als Leutnant Aberg plötzlich an dem Geländer eine Visitenkarte entdeckte, die dort auffällig angebracht war. Neugierig trat er näher und las, was dort geschrieben stand:
„Diese Brücke ist von mir gesprengt.” |
„So 'ne Gemeinheit!”
Einen anderen Ausdruck fand Aberg für die Sache nicht. Wenn die Brücke gesprengt war, war sie gesprengt; – ganz einerlei, ob die wirklich gesprengt war oder nur in der Annahme, und über eine gesprengte Brücke konnte selbst der schneidigste Husarenleutnant nicht hinübersprengen – das war so ungefähr Abergs Gedankengang.
„Was nun?”
Was nützt dem Soldaten der Mantel, wenn er nicht gerollt ist, und was nützt dem Menschen die schönste Brücke, wenn er sie nicht benutzen kann?
Aberg fühlte die fragenden Blicke seiner Leute auf sich gerichtet, und er beeilte sich, ein der Situation angemessenes Gesicht zu machen.
„Laßt mich denken, was da zu tun ist.”
Er kletterte wieder auf seinen Gaul hinauf, stützte das sorgenschwere Haupt in die Rechte und starrte unverwandt auf die Brücke: Rüber mußte er, das war für ihn ganz klar, aber wie kam er rüber?
Er dachte an das Wort seiner Exzellenz: „Gnade Gott dem Leutnant, der keine Meldung bringt,” und ferner daran, daß der gesagt hatte: „Die Hindernisse sind nur dazu da, um überwunden zu werden.”
Er zermarterte sich sein Gehirn, um einen Ausweg zu finden, er nahm die Pelzmütze ab, damit der Schädel sich weiter ausdehnen könne und bei dem Denken nicht in Stücke ging. Er dachte nach, daß ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn herunterlief, in seinem ganzen bisherigen Leben zusammen hatte er noch nicht soviel nachgedacht, wie er es jetzt tat, und doch half alles nichts.
Aber mit einemmal leuchtete es in seinem Gesicht hell auf, seine Augen blitzten in freudigem Stolz. Für eine kurze Minute wurde er wieder nachdenklich, als prüfe er seine Idee noch einmal nach allen Seiten hin, dann aber wandte er sich an seine Begleitung, und voller Stolz rief er ihnen nur das eine Wort zu: „Rüber!”
Gleich darauf hatte er die Brücke passiert, seine Husaren folgten ihm, ohne sich erst lange den Kopf über das Verhalten ihres Führers zu zerbrechen, und was all den anderen Patrouillen nicht gelungen war, weil sie die zerstörte Brücke respektiert hatten, ihm gelang es: Nach einer halben Stunde hatte er den feindlichen rechten Flügel festgestellt, auf schnaubendem Roß brachte er die Meldung zurück, und einige Stunden später mußte die Südpartei ihre Stellung räumen.
Daß die Schlacht so enden würde, hatte niemand vorausgesehen, und Seine Hoheit war sehr stolz und glücklich, daß er Zeuge dieses Gefechts hatte sein dürfen, das von neuem die Wahrheit des alten Wortes bewies: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.
Jetzt sollte die Kritik beginnen, vorher aber wandte sich der kommandierende General noch an den Leutnant Aberg, der durch seinen glänzenden Patrouillenritt das Geschick der Schlacht entschieden hatte.
„Sagen Sie mal, Herr Leutnant, so sehr ich Ihre Leistung auch anerkenne und so ehrlich ich sie auch bewundere, eins ist mir nicht ganz klar, und auch ein Blick auf die Karte löst mir das Rätsel nicht: Wie sind Sie denn eigentlich über den breiten, völlig unpassierbaren Bach hinübergekommen?”
Ohne Zögern legte Aberg die Hand an die Pelzmütze: „Ich bin über die Brücke geritten, Exzellenz!”
Der Vorgesetzte glaubte, nicht recht gehört zu haben: „Wo sind Sie geritten? Ja, haben Sie denn an Ort und Stelle nicht die Notiz vorgefunden, daß die Brücke von einer Offizierspatrouille gesprengt war?”
Aberg las in dem Gesicht des Vorgesetzten alle Anzeichen eines herannahenden Gewitters. Dem wollte er entgehen, und vor allen Dingen wollte er, namentlich in Anwesenheit Seiner Hoheit, das ihm nach seiner Meinung zustehende Lob für die eminente Geschicklichkeit ernten, mit der er seine Patrouillenritt durchgeführt hatte.
Und so sagte er denn jetzt mit zwar bescheidener, aber doch fester und selbstbewußter Stimme: „Verzeihen, Exzellenz, – die Sache verhält sich in Wirklichkeit doch etwas anders, als Exzellenz anzunehmen geruhen.”
Aber Exzellenz schien für diese Verteidungsrede nicht das richtige Interesse und Verständnis zu haben: „War die Brücke gesprengt oder war sie nicht gesprengt?” herrschte er den Leutnant an.
Leutnant Aberg ließ sich nicht beirren. Im Gegenteil, diese direkte Frage gab ihm Gelegenheit, vor versammeltem Kriegsvolk sein geistiges Licht leuchten zu lassen. So machte er denn zuerst eine kleine Kunstpause, um die Erwartung aller auf das höchste zu steigern, dann aber sagte er mit lauter, siegesbewußter Stimme: „Zu Befehl, Exzellenz, die Brücke war gesprengt, aber doch nicht in Wirklichkeit, sondern nur in der Annahme, und deshalb habe ich sie, ehe ich hinüber ritt, auch in Gedanken erst wieder hergestellt.”
Alles war starr, sowas von Dummheit war selbst dem anwesenden jüngsten Leutnant noch nicht vorgekommen. Man war einfach sprachlos, und Seine Exzellenz wußte diesmal wirklich nicht, was er sagen sollte.
Und alle sahen auf Seine Hoheit, wie der sich zu der Sache äußern würde.
Aber der sagte gar nichts, tief in Gedanken versunken blickte er so lange vor sich hin, daß es Seiner Exzellenz zu lange dauerte, denn der konnte den Augenblick nicht mehr erwarten, in dem der dem Leutnant Aberg ganz gehörig seine Meinung sagen würde. Bevor er das aber tat, wollte er sich des Einverständnisses des hohen Gastes versichern, und da dieser immer noch schwieg, wagte der Kommandierende die Frage: „Was sagen Euer Hoheit zu dem Verhalten des Leutnants Aberg?”
Auch jetzt schwieg Seine Hoheit noch einen Augenblick, dann aber hob er den Kopf, und mit einer Stimme, der man deutlich seine Anerkennung und Bewunderung anhörte, sagte er: „Einfach tadellos! Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß auch ich an der Stelle des Herrn Leutnants Aberg ebenso gehandelt hätte.”
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© Karlheinz Everts