Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Der geplagte Rittmeister”
in: „In Kriegs- und Friedenzeiten”
Nikolaus Paulowitsch, der seinem am 1. Dezember 1825 in Taganrog verstorbenen Bruder Alexander I. in der Regierung gefolgt war, feierte den Jahrestag seiner Thronbesteigung. In seinen zu ebener Erde gelegenen Privatgemächern wartete der Zar die Meldung ab, daß seine Gäste versammelt seien, dann stieg er mit seiner Gemahlin Alexandra Feodorowna, der ältesten Tochter des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen, die schöne, breite Treppe hinauf, die zu den Prunkgemächern des uralten, berühmten Moskauer Kreml führte. In den Prachtsälen und Paradezimmern, deren Höhe durch zwei Stockwerke reicht, bewegte sich die große Zahl der Geladenen, und ein farbenprächtiges, buntes Bild bot sich dem Beschauer. Aus den weitesten und entferntesten Gegenden des unermeßlichen Reiches waren die Gäste gekommen, die Krim, der Kaukasus, der fernste Osten hatte seine Bewohner entsandt, und die Vertreter der zahllosen Volksstämme in ihren bunten, malerischen Nationaltrachten, die mit Edelsteinen und Diamanten geschmückt, oft ein Vermögen repräsentierten, bewegten sich staunend und bewundernd durch die ihnen fremden Räume. Da war zuerst der Weiße Saal — mächtige goldene Kronleuchter hingen von der Decke herunter, und prachtvolle Marmorstatuen auf Postamenten schmückten die ganze ungeheure Länge des Saales. Von hier aus trat man in den Saal des Andreasordens, des ersten russischen Ordens, den Peter der Große im Jahre 1698 für die Mitglieder der kaiserlichen Familie, für die fürstlichen Personen und die Generale en chef stiftete; daran schloß sich der Orden des heiligen Georg, von Katharina II. im Jahre 1769 errichtet. Jeder der hohen Orden Rußlands hat hier sein Reich für sich, und das Abbild des Ordens, mit edeln Steinen besetzt, wiederholt sich auf den riesigen Doppelthüren und in dem Damastgewebe der Wände.
Arm in Arm mit seiner hohen Gemahlin durchschritt der Zar die von vielen Tausenden Kerzen festlich und tageshell erleuchteten Säle, seine Gäste begrüßend und viele derselben durch eine huldvolle Ansprache auszeichnend. Nikolaus Paulowitsch befand sich in der heitersten Laune, und der sonst auf seinem Antlitz ruhende fast finstere Ausdruck war gänzlich geschwunden. Leutselig mischte er sich unter die Geladenen, von einer Gruppe zur anderen schreitend, ein freundliches Lächeln um seinen Mund, ein freundliches Wort für jeden auf seinen Lippen.
Da hemmte plötzlich ein Anblick seine Schritte: er sah, wie ein junger, eleganter, schlanker Offizier seiner Leibgarde einer Dame den Arm bot und sie in den Nebensaal führte, aus dem die Klänge der Musik den Beginn des Tanzes meldeten.
Verwundert sah er dem jungen Offizier nach: War das nicht Nikolajeff Andreewitsch?
Der Zar besaß ein seltenes Personengedächtnis — er erkannte jeden sofort wieder, der ihm einmal vorgestellt war, und kannte jeden bei seinem Namen. Gewiß, er täuschte sich nicht, und dennoch mußte er sich irren. Wie jeden Mittag, so hatte er auch heute den ihm überreichten Rapport der Hauptwache eingehend geprüft und auf demselben den Namen Nikolajeff Andreewitsch als den des wachthabenden Offiziers gefunden. Vor morgen Mittag wurde die Wache nicht abgelöst, wie kam der junge Offizier auf den Ball? Hatte er so seine Pflicht vergessen, daß er ohne Erlaubnis den ihm anvertrauten Posten verließ, seinen Dienst und seinen Eid vergaß? Die Zornesader schwoll auf seiner Stirn, und mit Schrecken sah es seine Umgebung; sie kannten dies Zeichens und wußten, daß bald ein maßloser Wutausbruch folgen würde.
Aber mit eiserner Energie zwang er sich zur ruhigen Überlegung: er mußte sich irren.
Als der Zar Alexander I. gestorben, war der nächstberechtigte Erbe auf den Thron, der Großfürst Konstantin, trotz seines Verzichtes vom 14. Januar 1822 in Warschau, wenige Tage, nachdem Nikolaus den Thron bestiegen hatte, zum Kaiser ausgerufen worden. Man entdeckte eine Militärverschwörung, die Nikolaus mit unerbittlicher Strenge niederdrückte, um sich seine Herrscherautorität zu wahren, und in dieser Zeit war es gewesen, da er den Vater des jetzigen Leutnants Nikolajeff Andreewitsch, der treu zu ihm stand und ihm wichtige Dienste leistete, mit Gnadenbeweisen überhäufte und den Sohn bis zu seinem Eintritt in die Armee zu seinem Leibpagen ernannte. Es war nicht möglich, nicht denkbar, daß der junge Offizier so leichtsinnig seine Carriere und die Gunst des mächtigen Herrschers aufs Spiel setzte.
Beruhigt von diesem Gedanken, geleitete der Zar seine Gemahlin in den Tanzsaal, um dort sich seinen Gästen zu widmen — aber als er die Schwelle des Saales überschritt, stieß er fast auf Nikolajeff Andreewitsch, der seine Tänzerin zu einem Sessel geleitete. Gewandt wich der junge Offizier zur Seite aus und that, als ob er den Zaren gar nicht bemerkt hätte.
Der aber sah ihm mit zornig funkelnden Augen nach: „So habe ich mich also doch nicht getäuscht! Deine Strafe soll nicht ausbleiben, aber auf frischer That will ich Dich ertappen.”
Der Zar flüsterte seiner Gemahlin einige Worte zu, dann ging er durch die Säle hinab in seine Privatgemächer und ließ sich von seinen Dienern Pelzmütze und Pelzmantel geben.
„Wartet!” befahl er, dann ging er, von niemand begleitet, hinaus auf den Schloßhof. Seit der Militärverschwörung hatte der Zar die Angewohnheit, die Wachen und Posten häufig und unvermutet zu revidieren. Abend für Abend, oft die ganze Nacht hindurch, stand für ihn auf dem inneren Schloßhofe eine einfache Kibitka bereit, ein geschlossener Kasten, der je nach der Jahreszeit auf Rädern oder wie jetzt, im strengen Dezember, auf Kufen stand. Der Zar wollte bei diesen Fahrten von niemand erkannt sein, durch nichts die allgemeine Aufmerksamkeit erregen, und so sauste die Kibitka von drei Rappen gezogen, auch jetzt unbeachtet dahin, nachdem der Eingang des Kreml, das heilige Thor, das kein Mann bedeckten Hauptes durchschreiten darf, passiert war.
An das Schilderhaus gelehnt, das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett zwischen den Händen, stand ein Tatar vor der Hauptwache als Posten, als plötzlich ein Schlitten vorfuhr und gleich darauf der Zar vor ihm stand. Schrecken und Erstaunen ergriffen den Soldaten so, daß er nicht imstande war, seine Ehrenbezeigung zu machen; das Gewehr entfiel seiner Hand, aber der Zar sah es nicht. Mit schnellen Schritten ging er in die Wachtstube hinein, durch ein Zeichen Ruhe gebietend. Durch den Raum, in dem die Mannschaften sich aufhielten, ging er zu der Offizierswachtstube. Einen Augenblick zögerte er noch, dann öffnete er mit kurzem, energischem Ruck die Thür und blieb dann wie versteinert auf der Schwelle stehen: an einem Tisch, die Beine übereinandergeschlagen, gemütlich eine Cigarette rauchend, in die Lektüre eines Buches vertieft, saß Nikolajeff Andreewitsch. Er schien das Eintreten des Besuchers überhört zu haben, wie zufällig hob er die Augen und sprang dann schnell in die Höhe. Mit fester Stimme erstattete er den Rapport, schweigend hörte der Zar ihm zu und verließ dann, ohne ein Wort gesprochen zu haben, die Wache.
Wenig später betrat er wieder die Festsäle, froher und glücklicher als zu Beginn des Festes; er freute sich, daß er sich geirrt und daß seine Vermutung sich als falsch erwiesen habe. Ein Gefühl der Beschämung beschlich ihn fast, daß er einen seiner Offiziere so schwer verdächtigt hatte.
Da ertönten die Klänge eines Walzers, und mit derselben Tänzerin wie vorhin tanzte Nikolajeff Andreewitsch an ihm vorbei.
Der Zar griff sich an die Stirn. Wachte oder träumte er? Sah er Geister oder Gespenster? Er wollte der Sache auf den Grund kommen, und abermals hielt sein Schlitten wenige Minuten später vor dem Wachthaus.
Als der Zar das Offizierswachtzimmer betrat, saß Nikolajeff Andreewitsch in derselben Stellung wie vorhin an seinem Tisch, und mit großen Augen sah er verwundert seinen Kaiser an. Der ließ seine Blicke lange und forschend auf seinem Untergebenen ruhen, dann wandte er sich wortlos ab und fuhr wieder zum Schloß. Als er sich aber durch die Reihen seiner Gäste wand, um sich seiner Gemahlin zu nähern, glaubte er ganz deutlich, Nikolajeff Andreewitsch mit seiner Dame zum Tanz antreten zu sehen.
Und noch einmal fuhr der Zar zur Wache: wie rasend stürmten die Pferde dahin, in kürzester Zeit war der Herrscher am Ziel seiner Fahrt. Er wollte Klarheit haben; aber als er das Offizierszimmer betrat, saß Nikolajeff Andreewitsch an seinem Tisch, das Haupt ruhte auf dem aufgestützten Arm, die noch glimmende Cigarette lag auf der Erde, das Buch auf den Knien des Schläfers, dessen Atemzüge ruhig und regelmäßig gingen.
Leise, wie er gekommen, ging der Zar von dannen. Lange noch wohnte er dem Feste bei, immer wieder glaubte er die Gestalt des jungen Offiziers zu sehen — der nächste Tag sollte und mußte Aufklärung bringen.
Früher noch als sonst erhob sich Zar Nikolaus von seinem Lager. Der Schlaf hatte ihn geflohen, vergebens hatte er stundenlang über die Lösung des Rätsels nachgedacht. Schnell kleidete er sich an und gab dann einem seiner Adjutanten den Befehl, den wachthabenden Offizier der Hauptwache herbeizurufen.
Wenig später stand der junge Offizier vor dem Zaren.
„Ihr habt die Wache bis heute Mittag?” fragte der Herrscher.
„Zu Befehl, Eure Majestät.”
„Und Ihr waret gestern Abend auf meinem Ball?”
Drohend klang die Stimme des Gewaltigen, und der Offizier, der fühlte, wie jähe Blässe seine Wangen bedeckte, senkte den Blick zu Boden; er hatte nicht den Mut, den Zaren anzusehen, der allein durch die Macht seiner Erscheinung jeden zu demütigen verstand. Vor kurzem erst hatte er dies wieder bewiesen. In dem gewaltigen Reiche drohte eine Hungersnot auszubrechen; die Ernte, die Hoffnung der Landbewohner, war durch Unwetter vernichtet, die Lebensmittel stiegen in schwindelnde Höhe, und alle stöhnten unter der Teurung. Von falschen Priestern angestachelt, begann die Bevölkerung zu murren und zu klagen und dem Zaren und seinen Beamten schuld an dem über das Land hereingebrochene Unglück zu geben. Auch die ärmere Bevölkerung Moskaus empörte sich gegen ihren Herrn; auf den Straßen und dem Markt sammelte sich die Menge, Verwünschungen ausstoßend und drohend die Faust gegen den Kreml erhebend, in dessen Prunkgemächern der Kaiser im Überfluß lebte, während sie selbst nichts zu essen hatten. Immer wilder wurden die Reden, immer erregter die Drohungen, und man riet dem Zaren, das Militär gegen die wütende Menge einschreiten zu lassen. „Das bleibt mir immer noch,” hatte er zur Antwort gegeben, „erst laßt mich sehen, ob ich nicht allein mit ihnen fertig werde.” Er hatte seinen Wagen vorfahren lassen, in demselben ganz allein, sich jede Begleitung verbittend, Platz genommen und war dann nach dem Marktplatz gefahren. Mitten unter den Aufrührerischen hatte er halten lassen, sich in seiner ganzen mächtigen Erscheinung im Wagen aufgerichtet und funkelnden Auges die Menge gemustert.
„Auf die Knie!” hatte er ihnen mit donnernder Stimme zugerufen — und sie alle hatten demütig vor ihm die Knie gebeugt, die Arme auf der Brust gekreuzt und mit ihrer Stirn den Boden berührt.
„Betet zu Gott, der allein kann uns helfen,” hatte er ihnen noch zugerufen, dann hatte er den Wagen wenden lassen und war zum Kreml zurückgefahren. Der Aufstand aber war einzig und allein durch seine machtvolle Erscheinung im Keim unterdrückt worden.
Hieran mußte der junge Offizier denken in diesem Augenblick, er fühlte den Blick des Herrschers auf sich ruhen, und ihm war, als müsse er unter der Gewalt desselben zusammenbrechen.
„Nun, waret Ihr auf dem Ball? Fehlt es einem Offizier meiner Leibwache an Mut, die Wahrheit zu sagen?”
„Nein, Eure Majestät!” Stolz erhob der Leutnant den Kopf und sah seinem kaiserlichen Herrn offen und frei in die Augen: „Wenn Eure Majestät mich fragen, ja, ich war auf dem Ball.”
„So habe ich mich also doch nicht getäuscht,” fuhr der Zar auf, „aber wie war es Euch möglich, gleichzeitig auch auf der Wache zu sein? Was veranlaßte Euch, den Ball zu besuchen, Euern Posten zu verlassen? Ich will alles wissen, alles.”
Der Zar schwieg, und auch der junge Leutnant beobachtete einen Augenblick Schweigen, dann sagte er: „Wie Eure Majestät befehlen. Gestern Nachmittag, kurz nachdem ich die Wache bezogen, brachte mein Diener mir einen Brief, der in meiner Wohnung abgegeben sei. Der Brief war von einer Dame, die ich sehr liebe und die ich dereinst heimzuführen hoffe.”
„Und darf man den Namen der Dame wissen?”
Einen Augenblick zögerte der Sprecher, dann sagte er: „Zu Befehl, Eure Majestät, aber ich schwöre, daß die junge Dame nichts von meinem Vergehen weiß, daß sie nicht mitschuldig ist. Ihr Name ist Malka Paulowna Iwanoff.”
„Doch nicht die Tochter des strengen Kommandanten meiner Residenz?”
„Zu Befehl, Eure Majestät, dieselbe. Wir lieben uns schon lange, ohne daß es uns bisher gelungen ist, die Zustimmung des Vaters zu erhalten. Gestern nun schrieb mir Malka Paulowna, ihr Vater sei durch Krankheit verhindert, den Hofball zu besuchen, sie selbst aber werde hingehen, und sie freue sich um so mehr, mich nun ungestört sprechen zu können, da sie mir Wichtiges mitzuteilen habe. Sie nahm an, daß auch ich das Fest besuchen würde, da die sämtlichen Offiziere der Garnison geladen waren und sie von meinem Kommando nichts wußte. Als ich den Brief gelesen, war mein erster Gedanke, ihr Nachricht zu senden, daß ich am Kommen dienstlich verhindert sei, aber ich verwarf den Plan, da ich keine Möglichkeit sah, ihr unbemerkt ein Billet senden zu können. Stunde auf Stunde verrann, immer näher rückte der Beginn des Balles, immer mächtiger wurde in mir der Wunsch, die Geliebte, wenn auch nur für einen Augenblick, zu sehen und zu sprechen, immer mächtiger wurde die Sehnsucht, zu erfahren, was Malka Paulowna mir mitzuteilen habe. In meinem Innern tobte der Kampf zwischen Liebe und Pflicht — ich unterlag und ging auf den Ball.”
„Und hattet Ihr keine Furcht, von mir erkannt zu werden?”
„Furcht? Nein Majestät, meine Liebe ließ mir alle Gefahren gering erscheinen. Ich betrat die festlichen Räume und fand bald die Geliebte. Mit hastigen Worten erzählte sie mir, was vorgefallen sei: Ihr Vater hatte ihr gedroht, sie in ein Kloster zu schicken, wenn sie nicht innerhalb dreier Tage sich entschlösse, dem von ihrem Vater erwählten Bewerber die Hand zu reichen. Ich sollte ihr raten und helfen, ihr sagen, was sie thun sollte.
„Da fühlte ich die Blicke Eurer Majestät auf mir ruhen — in der Sorge um die Geliebte hatte ich an mich selbst, an meine eigene Sicherheit nicht mehr gedacht. Ich wußte, daß Eure Majestät mich erkannt hatten. Ich las das Erstaunen in Eurer Majestät Antlitz, mich hier zu sehen, obgleich mein Name auf dem Wachtrapport gestanden hatte.
„,Du bist verloren,' sprach eine innere Stimme zu mir, vergebens sann ich auf Rettung, denn ich sagte mir: ,Wenn du verhaftet wirst, schwindet dir jede Möglichkeit, der Geliebten zu helfen.'
„Da durchfuhr mich der Gedanke: ,Es giebt nur eins: Seine Majestät muß in dem Glauben, daß ich ohne Erlaubnis hier bin, daß ich mit dem wachthabenden Offizier identisch bin, irre werden.' So mied ich nicht die Nähe Eurer Majestät, sondern ich suchte sie, bewegte mich möglichst frei und ungezwungen, beobachtete aber sehr scharf jede Eurer Bewegungen. Da sah ich, wie Eure Majestät sich dem Ausgang näherten, ich wußte, Sire, daß Sie die Wache revidieren, mich auf frischer That ertappen wollten. Ich hätte vor Freude laut aufjubeln mögen, denn nun war ich gerettet.”
Erstaunt blickte der Zar in das jugendliche Gesicht des Sprechers. „Ihr sagt ,gerettet'? Erklärt Euch deutlicher.”
„Wir alle kennen,” fuhr Nikolajeff Andreewitsch fort, „die Angewohnheit Eurer Majestät, die Wachen heimlich zu revidieren, und wir wissen, daß zu diesem Zweck stets eine Kibitka bereit steht. Vorsichtig folgte ich Euch die Treppen hinunter, ich ging hinter Euch her in den inneren Schloßhof, verbarg mich in einer dunkeln Ecke, bis Euer Schlitten an mir vorbeifuhr, dann sprang ich hinten auf die Kufe und hielt mich an dem Euch schützenden Verdeck, das Euch die Möglichkeit raubte, mich zu sehen, fest.”
„Das hättet Ihr gewagt?” fuhr der Zar auf. Zorn und Wut verzerrten seine Züge und es schien, als ob er den Sprecher zermalmen wollte.
Aber ruhig sah ihm dieser ins Gesicht. „Eure Majestät befahlen die Wahrheit. Ja ich habe es gewagt; wollte ich die Wache rechtzeitig erreichen, so mußten Sie selbst, Sire, mich dorthin fahren.”
„Und wie kam es, daß ich Euch im Wachtzimmer vorfand, als ich dort eintrat?”
„Der Schlitten Eurer Majestät mußte, um vor dem Wachtlokal halten zu können, hinter der Wache vorbeifahren, dann in die Straße links hinauffahren und dann wieder noch eine gute Strecke nach links abbiegen. Für mich war der Weg näher — als der Schlitten die Rückfront der Hauptwache passierte, sprang ich schnell ab und eilte durch eine kleine Thür von hinten in mein Zimmer. Ich hatte vollauf Zeit, Licht anzuzünden, ein Buch zu ergreifen und eine Cigarette in Brand zu setzen. Da kamen Eure Majestät, und ich las in Ihren Zügen, Sire, das Erstaunen, mich hier zu sehen, das Bedauern, mich, wie Sie glaubten, ungerechterweise im Verdacht gehabt zu haben. Ich wollte auf die Knie stürzen und Euch alles gestehen, aber es durfte nicht sein, ich mußte den Betrug fortsetzen, ich mußte wieder zurück auf den Ball. Hättet Ihr mich dort nicht mehr angetroffen, so hätten Sie gewußt, daß ich ohne Erlaubnis die Wache verlassen hätte, daß es mir aber auf rätselhafte Weise gelungen sei, dieselbe wieder vor Euch zu erreichen. Der Gedanke durfte in Eurer Majestät nicht wach werden, wenn ich mich damit nicht harter Strafe, Malka Paulowna aber der Verbannung in das Kloster aussetzen wollte. So wartete ich, nach dem ich durch die kleine Thür wieder in die Straße getreten war, bis Euer Gefährt vorbeikam. Wieder schwang ich mich schnell auf die Kufen, und als Sie, Sire, den Ballsaal wieder betraten, war ich schon dort. Ich sah, wie Eure Majestät bei meinem Anblick zusammenfuhren, als stände eine Geistererscheinung vor Ihnen; ich erriet, was in Ihrem Innern vorging, wieder folgte ich Eurer Majestät — zweimal noch, Sire, fuhren Sie selbst mich zur Wache, und ebenso oft fuhren Sie mich zurück. Dreimal, Sire, fanden Sie mich auf meinem Posten, ich glaubte, daß es mir gelungen sei, Eurer Majestät Mißtrauen zu verscheuchen, es ist mir nicht gelungen — ich erwarte meine Strafe,”
Der junge Offizier schwieg, und jetzt erst erhob er seine Augen und blickte dem Herrscher ins Antlitz. Totenblässe bedeckte sein Gesicht; er wußte, daß schwere, schwere Strafe seiner harrte, daß vielleicht sein Leben verwirkt war, aber aus seinen Zügen sprach keine Furcht, sondern ruhige, feste Entschlossenheit.
Durchdringend sah der Zar ihn an, es war, als wenn er mit seinen Augen in der Seele des Offiziers lesen wollte. Lange schwieg er, dann sagte er:
„Und Malka Paulowna Iwanoff?”
Freudig leuchteten die Augen des Leutnants auf: „Sie ist in Sicherheit. Sie hat meinen Rat befolgt und hat heute Nacht das elterliche Haus verlassen, sie ist auf dem Wege zu guten Menschen, die sich ihrer annehmen werden, bis der Sinn des Vaters sich geändert hat.”
Wieder blitzte es in den Augen des Zaren zornig auf: „Wie kommt Ihr dazu, dem Mädchen solchen Rat zu geben? Wohin ist sie geflohen? Ich will es wissen.”
„Eure Majestät, das ist ein Geheimnis, das ich nur mit Malka Paulowna Iwanoffs Erlaubnis verraten darf — ich habe zu schweigen geschworen gegen jedermann, auch gegen Eure Majestät.”
„Und wenn ich Euch nun zwinge, mir den Aufenthalt zu nennen?”
„Eure Majestät können mich töten — aber auch dann stirbt das Geheimnis mit mir. Und an demselben Tage, da Malka Paulowna erfährt, daß ich gestorben bin, wird auch sie zu sterben wissen, auch das haben wir uns geschworen, und was eine Iwanoff und ein Andreewitsch schwören, das halten sie auch!”
Hochauf richtete sich die Gestalt des Sprechers, und so stolz und selbstbewußt klangen seine Worte, daß der Zar mit Wohlgefallen seine Blicke auf ihm ruhen ließ. Die Zornesader auf seiner Stirn glättete sich mehr und mehr, der Groll, die Erbitterung schwanden dahin, er sah in dem Offizier nicht mehr den seiner Strafe harrenden Schuldigen, sondern nur den Mann, der für seine Liebe kämpft uhd ihr alles, selbst sein Leben freudig opfern will. Nicht gering war die Gefahr gewesen, in die der Leutnant sich begeben hatte — die Stimme des Sprechers verriet durch ihr Zittern und Beben die Angst, die er gestern während der kühnen Fahrt ausgestanden hatte. Wie mochte sein Herz vor Furcht gezittert haben! Nicht jeder hätte den Mut zu einem so tollkühnen Wagestück gehabt, und daß Nikolajeff Andreewitsch diesen Mut gehabt hatte, das gefiel dem Kaiser.
In leidenschaftlichen Naturen, wie in der des Zaren, pflegen die Gesinnungen oft mit Gedankenschnelle zu wechseln, und so umspielte jetzt ein freundliches, gütiges Lächeln seine Züge, als er sagte:
„Und wenn ich nun Malka Paulownas Aufenthalt wissen möchte, damit ich sie für Euch zurückholen lassen und mit Euch zusammen bei ihrem Vater für Euch bitten kann, dürft Ihr das Geheimnis auch dann nicht preisgeben?”
Da stürzte der junge Offizier auf die Knie und küßte die Hand seines kaiserlichen Herrn.
Lächelnd hob der Zar ihn empor: „Ich will für Euch werben, wie ich es sagte. Strafe aber muß für Euer Verlassen der Wache sein — Ihr werdet sofort zum Kommandanten gehen und Euch auf vierundzwanzig Stunden zum Arrest melden. Er wird wissen, warum seine Tochter geflohen ist, und er wird Euch liebevoll aufnehmen. Erzählt ihm nicht, was wir gesprochen haben, und nun geht.”
Noch einmal küßte Nikolajeff Andreewitsch die Rechte seines Kaisers, dann ging er, die Brust von Glückseligkeit erfüllt, seiner Strafe entgegen.
Das gleiche Thema behandelt eine Erzählung von Adolf Thiele, abgedruckt im „Bielefelder General-Anzeiger” am 24.7.1903: