Wie Doktor Westerholt tobsüchtig wurde.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.

(aus: Weimarisches Sonntagsblatt,
Unterhaltungs-Beilage zur Allg. Thür.Landesztg. Deutschland vom 7. und 14.Juni 1925)

Noch früher als sonst war Dr. Westerholt, der sich durch seine ebenso feinsinnigen wie gehaltvollen Arbeiten unter den modernen Schriftstellern schnell einen großen Namen gemacht und ein gesuchter Mitarbeiter der besten Zeitschriften geworden war, aufgestanden und hatte sich nach flüchtig eingenommenem Frühstück gleich an seinen Schreibtisch gesetzt, um eine Novelle zu schreiben, um die er gestern von einem sehr angesehenen Journal telegraphisch gebeten worden war, deren Sujet ihm gestern abend bei einer guten Zigarre und einem Glas Moselwein, das seine Phantasie belebte, gekommen war und dessen Ausführung ihn die ganze Nacht hindurch beschäftigt hatte, so daß er die Entwicklung und die Durchführung der Novelle bei dem Aufstehen so klar vor sich sah, daß es sich für ihn bei der Niederschrift nur noch um eine rein mechanische Arbeit handelte.

Aber als der Doktor sich nun in der denkbar besten Stimmung an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, da war mit einemmal nicht nur jede Arbeitsfreudigkeit, sondern auch jede Arbeitsmöglichkeit verflogen und entschwunden, denn er sah vor sich auf seiner großen Schreibunterlage einen Zettel liegen: „Ick habe Ihnen heute vormittag um 11 Uhr dringend zu sprechen und ick erwarte von Ihnen, dat Sie auch für mich zu sprechen sind, wenn nicht, dann sprechen wir uns vor das Mietseinigungsamt weiter. Und weil ick dat wohl drunter schreiben muß, begrüße ick Ihnen bis dahin mit der Ihnen gebührenden Hochachtung, worauf Sie sich aber man auch nicht zu ville einbilden dürfen, als Ihre Frau Konstanze Piepemann, von Sie auch heute immer noch man bloß Ihre Zwangsmieterin genannt, obgleich ick Ihnen nächstens beweisen lassen werde, dat ick hier in der von Sie auch man nur gemieteten Villa datselbe Recht und genau soviel zu sagen habe wie Sie.”

Jäh herausgerissen aus der Dichterstimmung, in der er sich befunden, war dem Doktor nun zumute, als habe ihm jemand zu seiner Ernüchterung plötzlich zehn nasse Handtücher gleichzeitig um die Ohren geschlagen. Dann aber sprang er auf, um festzustellen, wie der Zettel auf seinen Schreibtisch gelangt sei. Aber danach zu forschen, hatte wenigstens im Augenblick nicht viel Zweck, denn zwei Möglichkeiten gab es ja nur, entweder hatte die Zwangsmieterin, die mit ihrer Tochter in dem oberen Stockwerk der Villa wohnte, ihm, als er noch schlief, den Zettel selbst in sein Zimmer gelegt, oder die hatte seine Wirtschafterin, die ihm, dem kinderlosen Witwer, den Haushalt führte, gebeten, ihm den Wisch in sein Zimmer zu bringen.

Ja, wie der dahin gekommen, war wirklich ganz gleichgültig, es genügte die entsetzliche Tatsache, daß der da war und daß ihm nun wieder eine Auseinandersetzung, bei der es sich sicher wie immer um eine ganz unbedeutende Sache handelte, mit seiner Zwangsmieterin bevorstand, deren ungebildete Sprechweise ihn, den feinsinnigen Aestheten, schon allein jedesmal zur Verzweiflung brachte und deren freches, anmaßendes Wesen sein Blut zuweilen derartig aufwallen ließ, daß er sich alle Gewalt antun mußte, um sich zu beherrschen und um Frau Piepemann nicht derartig anzubrüllen, daß ihr sämtliche Knochen im Leibe knackten.

Der Ton, der aus dem heute an ihn gerichteten Zettel hervorklang, bewies ja abermals zur Genüge ihre Bildung und alles, was sie sich gegen ihn herauszunehmen wagte. Und was hatten die Mutter und die Tochter ihm damals nicht alles gelobt und versprochen, als nach dem plötzlichen Tod seiner Frau zwei Zimmer in der von ihm gemieteten Villa frei und durch das Wohnungsamt beschlagnahmt worden. Gar nicht merken sollte er sie beide, hatte Frau Piepemann ihm erklärt, „und dat werden Sie auch nicht, Herr Doktor, denn wat meine Tochter ist, das Lieschen, das arbeitet vom frühen Morgen bis zum späten Abend in einem Büro und abends ist sie auch nicht zu Hause, denn dat Mächen kann ohne Geselligkeit nicht leben und dat ist soviel eingeladen und hat so viele Freundinnen, dat sie ihr gar nicht leibhaftig sichtbar werden, und ick werde auch unsichtbar und unhörbar sein, denn schon von wegen meiner Hühneraugen gehe ick immer nur auf Filzpantoffeln. Hören werden Sie mir überhaupt nicht, wenigstens nicht gehen, sondern höchstens dann und wann mal ganz leise schleichen.”

Schon damals hatte ihre Unbildung ihm körperliche Schmerzen bereitet, aber er hatte sich gesagt, lieber ungebildete Leute, die leise sind und die man nicht hört und nicht sieht, als gebildete Mitbewohner, die so laut sind, daß du bei denen keine Ruhe zur Arbeit findest.

In einen sauren Apfel mußte er ja leider Gottes damals doch beißen, so biß er in diesen, ohne zu ahnen, daß es einen derartig sauren Apfel überhaupt geben könne und gäbe, denn von allem, was Frau Piepemann ihm versprochen und erzählt, hatte sich nur zweierlei als wahr erwiesen, daß ihre Tochter Lieschen den ganzen Tag in einem Büro arbeitete und daß sie ohne Freundinnen nicht leben könne, abe die besuchte sie nicht selbst, sonden die kamen des Abends zu ihr, so daß er oft glaubte, in irgendwelcher fremden Pension, aber nicht in seiner bisher so ruhigen Villa zu wohnen. Und noch eins erwies sich als wahr, daß Mutter Piepemann nicht ging, sonden wirklich auf ihren Filzpantinen schlich, aber sie schlich dafür auch immer, und schlich und spionierte und horchte im ganzen Hause herum, ob sie nicht irgend etwas sähe, höre oder fände, was sie auf ihren Klatschspaziergängen und Klatschbesuchen brühwarm weitererzählen könne.

Der Doktor sah endlich ein, er mußte sich zusammen nehmen und arbeiten. Er hatte auf die gestrige telegraphische Anfrage telegraphisch erwidert, daß die Schriftleitung mit Bestimmtheit innerhalb zweiundsiebzig Stunden auf den gewünschten Beitrag rechnen könne, aber wenn er Wort halten sollte, dann durfte er keine Zeit verlieren, dann durfte er nicht untätig stundenlang dasitzen und auf den Besuch der Frau Piepemann warten. Dann aber sah er doch ein, daß ihm jetzt ein Arbeiten ganz unmöglich wäre, schon weil er jetzt bei dem Gedanken an alle Frechheiten, die er nachher wieder zu hören bekommen würde, zitterte, so klingelte er denn jetzt nach seiner Wirtschafterin und als diese gleich darauf erschien, erklärte er ihr: „Ich habe da vorhin auf meinem Schreibtisch einen Zettel der Frau Piepemann gefunden. Darüber, wie der dorthin gekommen ist, unterhalten wir uns ein andermal, die Frau will mich um 11 Uhr sprechen, jetzt ist es 8 Uhr, solange kann ich also nicht warten. Bitte gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr, sie möchte entweder sofort oder gar nicht zu mir kommen, ich hätte zu arbeiten.”

Die Wirtschafterin verschwand und als sie zurückkam, wollte sie zuerst mit dem, was Frau Piepemann erwiderte, nicht herausrücken, bis sie dann auf die drohende Frage des Doktors: „Was hat die alte Hexe gesagt? Ich will es wissen und zwar Wort für Wort, sonst gibt es ein Unglück.” doch schließlich mit der Sprache herausrückte: Frau Piepemann ließe den Herrn Doktor schön grüßen und sie käme, wann es ihr paßte, der Herr Doktor solle sich man nicht einbilden, er könne sie kommandieren, sie käme um 11 Uhr, keine Minute eher, es müßte denn sein, daß sie doch schon früher zur Stadt ginge, dann wolle sie ausnahmsweise mal eine Ausnahme machen und dem Herrn Doktor entgegenkommen, aber auf irgendwelche Versprechungen ließe sie sich nicht ein.

Die Wirtschafterin ging hinaus und der Doktor übte sich in seiner ohnmächtigen Wut in der schweren Kunst, die Wände hoch zu klettern aber er hatte es damit noch nicht allzu weit gebracht, als es plötzlich an die Tür klopfte und als ganz gegen seine Erwartung doch schon Frau Piepemann bei ihm eintrat, sichtbar im Begriff, zur Stadt zu gehen, denn sie trug wie immer bei dieser Gelegenheit ihre schwarze Samtmantille und ihren alten Federhut, der vor zweitausend Jahren einmal Mode gewesen war.

Und als er diese ihre schwarze Samtmantille sah, da fiel ihm ganz plötzlich, wie schon so oft wieder ein, daß er einer solchen die größte Tracht Prügel verdankte, die er jemals in seiner Jugend bekommen hatte. Er war damals noch ein Knirps und spielte mit gleichaltrigen Kameraden auf der Straße, als eine einfache Frau, die sich für irgend einen Kaffeebesuch sehr fein angezogen hatte, in einer schwarzen Samtmantille an ihnen vorüberging, und die hatte für ihn etwas derartig Verlockendes und Aufreizendes, daß er seine jungen Freunde plötzlich fragte: „Soll ich der mal auf die Samtmantille spucken?” Und ohne die Antwort der anderen abzuwarten, hatte er schon gespuckt. Die Frau aber war empört zu seinem Vater gelaufen, der unglücklicherweise gerade zu Hause war und anscheinend nichts Besseres zu tun hatte, denn nachdem die Frau ihm ihr Leid geklagt und sich bei dem über ihn beschwert, da hatte der Vater ihn über das Knie gelegt, und ihn mit dem Rohrstock derartig bearbeitet, daß er die nächsten drei Tage, um überhaupt sitzen zu können, beständig auf dem Bauch sitzen mußte.

In der Erinnerung an diesen seinen Jugendstreich wollte nun ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht huschen, aber das erstarrte, als er nun Frau Piepemann ansah, denn deren Mienen verrieten so wenig Gutes, daß er es beinahe mit der Angst wegen der bevorstehenden Szene bekam. Aber schon, um das nicht zu verraten, warf er sich in Positur und fragte sehr von oben herab: „Sie wünschen mich zu sprechen, Frau Piepemann?”

„Nennen Sie dat wünschen, wenn ick Ihnen schreibe, dat ick Ihnen zu sprechen habe? Na, dat kann mir einerlei sein, ick nenne dat anders,” gab Frau Piepemann ihrerseits sehr selbstbewußt zur Antwort, bevor sie fortfuhr: „Bevor ick Ihnen aber sage, wat ick Ihnen zu sagen habe, erlauben Sie wohl erst mal, daß ick mir hinsetze, wobei ick die Bemerkung nicht unterdrücken kann, dat es wohl eigentlich Ihre Sache gewesen wäre, mir 'ne Sitzgelegenheit anzubieten, denn Sie sind doch ein gebildeter Mann, da müßten Sie doch alleine wissen, wat sich einer Dame wie mir gegenüber gehört. Und wat ick auch verlangen kann, denn wat meine Tochter ist, das Lieschen, die sagt immer zu mir: Lasse dir man nur nichts gefallen, Mamaaa. Jawohl, das Lieschen sagt immer Mamaaa zu mir, wie sich dat in einer feinen Familie auch so gehört, und die hat mir gesagt, wenn sie erst mal einen Mann so weit hat, der bei ihr anbeißt und sich mit ihr verloben tut, dann muß er mich zuerst immer gnädige Frau nennen und mir die Hand küssen, und wat mein verstorbener Mann ist, von dem soll ick dann immer später selbst als von meinem hochseligen Herrn Gemahl reden. Ja, mein Lieschen ist ein sehr feingebildetes junges Mädchen, offen gestanden, mir ist sie sogar manchmal zu fein, aber die weiß, wat sich gehört.”

Der Doktor wußte aus trauriger Erfahrung, daß es ganz zwecklos war, einen Redeschwall der Frau Piepemann unterbrechen oder aufhalten zu wollen. So hatte er sie denn auch so ruhig, wie er es nur vermochte, ausreden lassen, jetzt aber, wo sie endlich einen Punkt und eine kleine Atempause machte, fragte er rasch: „Um mir das alles von Ihrer Tochter zu erzählen, sind Sie wohl doch nicht zu mir gekommen? Und deshalb bitte ich Sie, sagen Sie mir nun endlich, was Sie wollen.”

„Jawohl, dat will ick auch,” und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: „Ick wollte Ihnen man bloß in aller Höflichkeit und Bestimmtheit erklären, dat lasse ick mir mit meinem Mülleimer nun aber nicht länger so gefallen.”

„Was geht mich denn Ihr Mülleimer an?” brauste der Doktor auf.

„Dat möchte ick man auch gerne wissen, Herr Doktor. Gar nichts geht er Ihnen an, denn er hat dieselben Rechte hier im Hause wie Ihr Eimer und dat gibt es in Zukunft nicht mehr, dat der ausgeschlossen wird.”

„Wenn er ausgeschlossen war, dann schließen Sie ihn doch zum Donnerwetter gefälligst wieder ein!” fing der Doktor an zu toben.

„Aber dat is es ja gerade,” meinte Frau Piepemann mit unerschütterlicher Ruhe, „er war doch ingeschlossen.”

Der Doktor fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf: „Sie haben mir doch aber eben erklärt, er wäre ausgeschlossen gewesen.”

„Na ja, dat war er doch auch,” ließ Frau Piepemann sich nicht aus ihrer Ruhe bringen, „und weil er ingeschlossen war, deshalb war er doch gerade ausgeschlossen.”

Der Doktor stöhnte auf: „Wollen Sie mir das nicht näher erklären?”

Frau Piepemann machte ein ganz erstauntes Gesicht: „Ick denke, Sie haben studiert, Herr Doktor, aber da sieht man es mal wieder, alles lernen die Herren auf der Universität doch nicht und für die einfachsten Sachen hapert es mit der nötigen Weisheit. Da muß ick Ihnen also die Sache klar machen.”

Der Doktor rang die Hände: „Aber bitte kurz, Frau Piepemann, ganz, ganz kurz, ich habe zu arbeiten.”

„Ick Gott sei Dank nicht,” triumphierte Frau Piepemann, „wat dat Arbeiten anbelangt, dat besorgt bei uns meine Tochter, dat Lieschen, alleene. Die verdient ein schönes Stück Geld, von dem wir sehr gut leben könnten, wenn dat Mächen nicht soviel für ihre Kledaschen und für die Konditoreien ausgeben würde, aber wenn ick ihr deswegen schelte, sagt sie: Mamaaa, dat verstehst du nicht, dat gehört dazu, um bald einen Mann zu finden, und dat Mächen will doch natürlich gerne bald heiraten und dazu sind die Mächen doch schließlich auch da,”

„Aber Sie wollten mir doch von Ihrem Mülleimer und nicht von Ihrer Tochter erzählen,” jammerte der Doktor.

Frau Piepemann sah ihn verwundert an: „Sind Sie denn so begierig dadrauf, dat Sie dat nicht abwarten können? Aber meinetwegen, dann will ick Ihnen dat nun erklären. Also der Eimer war ingeschlossen, weil die Jartentür zugeschlossen war und er war ausgeschlossen, weil er ingeschlossen war, weil er durch die zugeschlossene Jartentür von den Leuten nicht abgeholt werden konnte und nu werden Sie hoffentlich selbst begriffen haben, dat ingeschlossen und ausgeschlossen manchmal datselbe ist.”

„Und was geht mich Ihr eingeschlossener, oder wie Sie sagen, Ihr ingeschlossener und ausgeschlossener Mülleimer an?” erkundigte sich der Doktor, ohne von der frechen Impertinenz ihrer letzten Worte irgendwelche Notiz zu nehmen.

„Dat will ick Ihnen sagen, Herr Doktor, denn dethalb bin ick ja mit hier; ick muß verlangen, dat an den Tagen, wo die Müllfuhrleute kommen, die Jartentür offen ist.”

„Verlangen können Sie ja viel,” meinte der Doktor spöttisch.

Frau Piepemann, eine große, starke Frau, warf sich in ihren immer noch stattlichen Busen: „Gott sei Dank, Herr Doktor, dat kann ick auch!”

„Aber ob Ihr Verlangen erfüllt wird,” dämpfte er ihren Triumph, versuchte es wenigstens, aber Frau Piepemann ließ sich nicht dämpfen, sondern meinte: „Dat werden wir ja sehen.”

„Da haben Sie ganz recht,” versuchte er ihr mit einer Ruhe, zu der er sich gewaltsam zwang, zu imponieren. „Die Gartentür bleibt wie immer verschlossen, und deshalb werden Sie in Zukunft, ebenso wie meine Wirtschafterin es tut, Ihren Mülleimer nicht in den Vordergarten, sonden auf die Straße stellen.”

„Dat werde ick nich,” verlor nun Frau Piepemann zum erstenmal ihre Ruhe, „und so wat können Sie von mir als von einer späteren gnädigen Frau mit der geküßten Hand nicht verlangen, wat sollten da wohl die anderen Leute, die dat mit ansehen, von mir denken? Es ist schon mehr als traurig genug, dat ick mir ohnehin mit dem Mülleimer herumschleppen muß und dat Ihre Wirtschafterin dat ruhig mit ansieht, ohne mir alten Frau dabei zu helfen.”

„Meine Wirtschafterin ist für mich da, aber nicht für Sie, Frau Piepemann,” brauste der Doktor auf.

„Dat habe ick leider Gottes auch schon gemerkt,” stimmte Frau Piepemann ihm bei, „und da habe ick mir ohnehin schon oft genug gefragt, wat Sie mit 'ner Wirtschafterin eigentlich wollen, wo Sie dat doch ohne die nicht nur ebenso gut, sondern noch viel besser haben könnten, wenn Sie nur wollten.”

„Und was wäre dann, wenn ich man wollte?” erkundigte sich der Doktor, plötzlich neugierig darauf geworden, was Mutter und Tochter sich da ausgedacht haben mochten.

„Dat will ick Ihnen sagen, Herr Doktor, und vielleicht überlegen Sie sich dat zu Ihrem eigenen Besten mal in aller Ruhe. Also wenn Sie auf mir hören täten, dann ließen Sie Ihre Wirtschafterin gehen und ick und mein Lieschen führten Ihnen den Haushalt, und nicht nur dat. Dann hätten Sie auch immer gleich ein gebildetes junges Mädchen bei der Hand, dem Sie Ihre Arbeiten diktieren könnten, und brauchten nicht immer darauf zu warten, bis dat andere junge Mädchen, dat zu Ihnen in das Haus kommt, für Sie mal Zeit hat. Und wenn Sie dann erst mit meinem Lieschen zusammen arbeiten, und bei der Gelegenheit näher sehen werden, wat dat für ein gebildetes, feines, kluges junges Mädchen ist, na wer kann dat wissen, ob dann nicht noch mal aus Ihnen beiden ein Paar wird. Meinen Segen würde ick schließlich dazu geben, obgleich mir natürlich ein Beamter mit festem Gehalt und mit Pensionsberechtigung lieber wäre, denn ob Sie mit Ihrer Schreiberei so viel verdienen und ersparen können, dat Sie mein Lieschen später bei Ihrem Tode in gesegneten finanziellen Verhältnissen zurücklassen, dat möchte ick denn vorläufig wenigstens noch sehr bezweifeln.”

Guck mal an, dachte der Doktor, daß ihr es so gut mit mir meint, hätte ich euch gar nicht zugetraut, dann aber meinte er, obgleich es ihm nicht ganz leicht wurde, ernsthaft zu bleiben: „ Ihr freundlicher Antrag, vielleicht einmal Ihr Schwiegersohn zu werden, ehrt mich außerordentlich, Frau Piepemann, aber sprechen wir lieber vorläufig von Ihrem Mülleimer, den Sie fortan auf die Straße setzen werden.”

„Wat ick nich tun werde,” widersprach Frau Piepemann, die nach außen hin so tat, als berühre sie der Korb, den sie eben erhalten, gar nicht, vielleicht weil sie sich im stillen sagen mochte: Wenn ich den Doktor weiter so ärgere wie bisher, dann werde ick ihn mit der Zeit schon noch kirre kriegen.

„Was Sie aber doch tun werden!” donnerte der Doktor.

„Wat ick aber von allen anderen schon angeführten Gründen ganz abgesehen schon deshalb nicht tun werde, damit er mir nich geklaut wird.”

Ob er wollte oder nicht, jetzt mußte der Doktor doch lachen, bis er nun fragte: „Haben Sie schon mal etwas davon gehört, Frau Piepemann, daß jemand einen alten vollen Mülleimer stahl?”

„Den Menschen von heute traue ick jede Gemeinheit zu,” beharrte Frau Piepemann bei ihrer Meinung, „und dat die Menschen ja auch zu jeder Schlechtigkeit fähig sind, dat sehe ick heute wieder an Ihnen, sonst würden Sie meinen Mülleimer nicht erst der Gefahr aussetzen wollen, vielleicht doch mal geklaut zu werden, noch dazu wo ick 'ne arme Frau bin und kein Geld habe, um mir 'nen neuen zu kaufen.”

Der Doktor erhob sich von seinem Platz: „Machen wir der Unterredung ein Ende, Frau Piepemann, es bleibt bei dem, was ich sagte, die Gartentür bleibt zugeschlossen.”

„Da irren Sie sich aber sehr bedenklich, Herr Doktor, und ick glaube, Sie haben Zugluft ins Gehirn bekommen, dat Sie mir immer noch nicht begreifen. Dat Tor bleibt offen.”

donnerte der Doktor, daß die Scheiben klirrten.

„Offen,” meinte Frau Piepemann ganz gelassen.

Der Doktor fiel auf seinen Stuhl zurück und riß sich ein Büschel Haare aus, bis er nun mit weicher, versöhnlicher Stimme fragte: „ Sagen Sie mal, Frau Piepemann, wissen Sie eigentlich, wie die Worte Mitleid und Erbarmen geschrieben werden?”

„Nein,” bekannte Frau Piepemann ehrlich, „da muß ick erst meine Tochter, dat Lieschen, fragen, denn mit dat Schreiben is dat bei mir man schwach bestellt, wenigstens mit der neuen Orthographie. Aber meine Tochter weiß dat, und die wird Ihnen darüber heute abend gern Bescheid geben, wenn Sie dat auch nicht wissen.”

„Ich habe mich vielleicht falsch ausgedrückt, Frau Piepemann, oder Sie haben mich falsch verstanden,” schnappte der Doktor nach Luft, „ich meinte mit meiner Frage, ob Sie wissen, was Mitleid und Erbarmen ist.”

„Und ob ick dat weiß,” triumphierte Frau Piepemann, „ick gehe doch jeden Sonntag in die Kirche, wo immer über sowat und Nächstenliebe gepredigt wird, aber Mitleid und Erbarmen mit Ihnen, Herr Doktor? Nee, dat kenne ick nich, und ick glaube, wie dat geschrieben wird, dat weiß meine Tochter auch nicht, obgleich sie ja ein so gebildetes Mädchen ist, wie Sie das selten finden. Aber nun ist meine Zeit um, ick muß gehen, und da freue ick mir, dat wir uns einig geworden sind. Dat Jartentor bleibt also fortan, wenn die Mülleute kommen offen.”

„Zu!” brüllte der Doktor, daß seine Stimme vor Erregung überschnappte.

„Na ja, Herr Doktor, ick habe es ja schon gesagt, offen,” meinte Frau Piepemann so liebenswürdig, wie es ihr bei ihrem Charakter nur möglich war, dann aber machte sie schnell, daß sie hinauskam, denn sie bemerkte, daß der Doktor sich suchend nach irgend einem Gegenstand umsah, den er ihr, wie sie erriet, an den Kopf werfen wollte.

Frau Piepemann ging schnell hinaus, der Doktor aber schlich, ein gebrochener Mann, an seinen Schreibtisch und setzte ein Telegramm auf: „Kann versprochene Arbeit in absehbarer Zeit leider nicht liefern, fühle deutliche Anzeichen herannahenden Nervenzusammenbruchs.”

Und der kam auch viel schneller und viel stärker, als der Doktor es befürchtet hatte, denn schon drei Tage später mußte er in eine Anstalt überführt werden.

Als Frau Piepemann das erfuhr, erklärte sie ihrem Lieschen, als das am Abend nach Hause kam: „Nu tut der Doktor mich doch beinahe leid, obgleich er das ja eigentlich nicht um mich verdient hat, wo er uns immer schikanierte und Stink und Stank machte und wo ick es doch so gut mit ihm meinte, dat ick dir sogar mit ihm verheiraten wollte, nur damit er endlich mal wieder in ordentliche, gute Hände käme und seine Ruhe hätte. Wie gesagt, der Doktor tut mir beinahe leid, aber eins freut mich bei der ganzen Geschichte doch, und weißt du, wat dat ist?”

„Nein, Mamaaa,” flötete Lieschen, „das weiß ich wirklich nicht und das kann ich auch nicht raten.”

„Dann will ick dir dat man sagen, mein Kind. Da es ja ganz unbestimmt ist, wann und ob der Doktor überhaupt mal wieder gesund nach Hause kommt, will die Wirtschafterin, wie ick dat von der Milchfrau weiß, in den nächsten Tagen unten alles abschließen und auf Urlaub zu ihren Eltern gehen. Da sind wir, wie sich dat ja auch so für uns gehört, hier die alleinigen Herren im Hause,” und triumphierend schloß sie: „Und nun bleibt dat Jartentor, wie ick dat dem Doktor ja gleich erklärte, aber wat er mir natürlich nicht glauben wollte, doch offen.”

(Vergleiche dazu die Angaben über das Haus Berkaer Straße 21.)


zurück zu

Schlicht's Seite

© Karlheinz Everts