in: Leipziger Illustrierte Zeitung, Nr. 3947, 20. Februar 1919
„Ach Gott, ach Gott, das soll nun unser Weimar sein. Überall wird gebuddelt, überall fällt man über herumliegende Kabel und Telephondrähte, und vor der Gefahr, von einem Auto überfahren zu werden, ist man keine Minute mehr sicher.” So jammerte letzthin eine alte Dame, die ich im letzten Augenblick vor einem Sturz bewahrte, und die mir, als sie sich von mir verabschiedete, zurief: „Schlimmer als das Leben jetzt hier ist, kann es doch auch in Berlin nicht sein.” Das war natürlich stark übertrieben, aber ein gut Teil Großstadtleben ist mit der Nationalversammlung und mit den vielen Fremden in das sonst so stille Weimar gekommen. Weit mehr als zweitausend Fremde galt es unterzubringen, nicht nur die Mitglieder der Nationalversammlung selbst, nicht nur alle zu den vielen Bureaus gehörenden Beamten, sondern auch die Abgesandten Deutsch-Österreichs, die vielen Vertreter der großen deutschen, amerikanischen, schwedischen, dänischen und der anderen auswärtigen neutralen Zeitungen. Dazu die Operateure der großen Filmgesellschaften, die natürlich Weimar im Zeichen der Nationalversammlung kurbeln müssen. Und zu den vielen Fremden kamen schließlich auch noch die Mitglieder des diplomatischen Korps aus Berlin, soweit der Krieg sie übriggelassen hat, die Gesandten Dänemarks, Schwedens, der Schweiz, Finnlands, Ungarns, Litauens, der Türkei und sogar der Gesandte des fernen Persiens. Auch diese Herren wollten der Eröffnung der Nationalversammlung beiwohnen, die unter der allgemeinen Teilnahme der Bevölkerung Weimars, aber dennoch, der Neuzeit entsprechend, ohne jede äußere Feierlichkeit und ohne jeden Prunk stattfand.
An einstige Zeiten erinnerte nur die vor dem Sitzungsgebäude der Nationalversammlung, dem jetzigen Nationaltheater, aufgestellte Ehrenkompagnie mit klingendem Spiel, deren Front, wohl zum erstenmal in Deutschland, als Hauptperson ein Zivilist abschritt, Herr Noske, gefolgt von dem General v. Maercker, dem Kommandeur des Freiwilligen Landjägerkorps, dem im Verein mit den weimarischen Truppen der Schutz der Nationalversammlung anvertraut ist. Große Truppenmengen aller Waffengattungen sind in Weimar selbst und in dessen nächster Umgebung, die einem kleinen Heerlager gleicht, untergebracht, und alles Erdenkbare ist getan, um der Nationalversammlung jede gewaltsame Störung von außen fernzuhalten. Das konnte man schon am Eröffnungstage der Nationalversammlung selbst bemerken, denn von den Balkonen der in der Nähe des Theaters gelegenen Häuser blickten Soldaten, mit dem Stahlhelm auf dem Kopfe, mit dem Gewehr in der Hand, auf die Straße herunter, und Maschinengewehre stehen überall bereit, meistens allerdings so versteckt, daß Uneingeweihte sie nicht bemerken. Selbst auf der Bühne des Nationaltheaters hinter den hohen grünen Blattpflanzen, die anscheinend dort nur zur Dekoration im Hintergrunde aufgestellt sind, stehen Maschinengewehre nebst ihrer Bedienungsmannschaft bereit. Es können also alle die vielen hier weilenden Fremden und die Weimarer selbst ruhig schlafen, es wird ihnen schon nichts geschehen; dafür bürgt auch schon der gute militärische Geist des Freiwilligen Jägerkorps, dessen Mannschaften wie einst im Mai ihre Vorgesetzten auf der Straße grüßen, die stillstehen, wenn diese mit ihnen sprechen, und die keine Zigarre oder Zigarette im Munde haben, wenn sie Patrouille gehen oder sonst ihren Dienst tun.
Weit mehr als zweitausend Fremde sind in Weimar untergebracht, und was zuerst unmöglich schien, gelang dennoch, denn die hohe Obrigkeit fand den Sesam-Schlüssel, der in allen Privathäusern, da die wenigen Gasthöfe natürlich nicht ausreichten, plötzlich die leerstehenden Fremdenzimmer öffnete, und dieser Sesam-Schlüssel hieß: Entlötung der wegen Kohlenmangels bisher zugelöteten Gasbadeöfen und Bevorzugung bei der Kohlenverteilung. Ach, und wer badet nicht gern, wenn auch nur, wie Wilhelm Busch es so schön besang, am Samstagabend, und wer hätte in dieser Zeit nicht gern mehr Kohlen, als ihm nach der Kohlenkarte zustehen? So wurden die Fremden denn überall mit offenen Armen aufgenommen, und sie fühlen sich nach allem, was man hört, hier sehr wohl, wenngleich manchem von ihnen Weimar auch jetzt noch klein und kleinstädtisch vorkommt. Und dabei ist Weimar in mancher Weise wirklich beinahe Großstadt geworden. Die elektrische Bahn hat ihren Verkehr nicht, wie in anderen Städten, verringert, sondern trotz der Kohlennot vergrößert; die Straßenlaternen brennen so hell, daß man die kaum entschwundenen Wochen bereits wieder vergessen hat, in denen man, namentlich in den Villenvierteln, sich des Abends seinen Weg mit der elektrischen Taschenlampe, vorausgesetzt, daß sie funktionierte, suchen mußte. Und in den Straßen herrscht beinahe so etwas wie ein Menschengewoge. Man hört die verschiedensten Sprachen und Dialekte, und vor Beginn der Sitzungen staut sich die Menge vor dem Theater, um sich die Hälse nach den bekanntesten Persönlichkeiten, wie Ebert, Scheidemann, Noske, Erzberger, Dernburg, dem Präsidenten David und vielen anderen, auszurecken. Um die wenigen dem Publikum zur Verfügung stehenden Eintrittskarten aber entspinnt sich ein Wettstreit, wie in früheren Zeiten um die Billetts zu einem Caruso-Abend.
In einer Hinsicht aber ist Weimar wirklich Großstadt geworden, denn Weimar ist die erste Stadt, nach der ein regelmäßiger Luftpostverkehr eingerichtet ist. Zweimal täglich kommen die Luftfahrzeuge mit beinahe militärischer Pünktlichkeit, morgens um halb elf Uhr und nachmittags um halb vier Uhr, nach kaum zweistündigem Flug aus Berlin in Weimar an, das eine Flugzeug bisher geführt von dem bekannten Tsingtauflieger, Kapitänleutnant Plüschow, und kaum nachdem das Flugzeug auf dem Flugplatz gelandet ist, bringen die Autos die Postsachen zur Stadt. Gleich darauf aber ertönt in allen Straßen der Ruf der Zeitungsverkäufer: „Die neuesten Berliner Zeitungen, soeben in Berlin ausgegeben, frisch mit der Flugpost eingetroffen!” Ja, wir haben sogar einen neuen originellen Gasthof bekommn, wie ihn selbst Berlin nicht hat: auf dem Bahnhof steht auf einem toten Geleise ein gutgeheizter D-Zug, in dem Passanten für Stunden und Tage ein Wagenabteil I., II. oder III. Klasse als Zimmer mieten können und in dem Speisewagen auch vollständig beköstigt werden.
Und großstädtisch sind auch die vielen Vergnügungen, die es jetzt zu Ehren der Fremden hier gibt. Im Nationaltheater selbst können natürlich die nächsten Monate hindurch keine Vorstellungen stattfinden; dafür veranstalten die Mitglieder des Nationaltheaters in dem Saal der alten „Armbrustgesellschaft” literarische Kammerspiele, Kammermusikabende und auch die Aufführungen kleiner Opern. Der Nationalversammlung zu Ehren ist in dem etwas abseits am Brühl gelegenen Residenztheater die sehr gute Operettengesellschaft geblieben, die schon den Herbst hindurch hier gespielt hat. In dem Stadthaus am Markt hat ein bekannter Leipziger Schriftsteller unter dem Pseudonym Dr. Allos Künstlerspiele, ein Überbrettl im Stile Wolzogens, eröffnet; ein neues Weinhaus, nach Berliner Art „Rheingold” getauft, ist plötzlich erstanden. In dem Saale der „Erholung” findet fast täglich das Konzert hiesiger oder auswärtiger Künstler satt, und selbstverständlich hat Weimar auch seine Kientöppe, bisher allerdings nur zwei. In dem einen, dem Reformlichtspielhaus von Held in der Marienstraße, läßt die „Ufa” die mit Unterstützung großer Banken neugegründete Universalfilm-Verleihanstalt, den Vertretern des deutschen Volkes ihre neuesten, mit großen Kosten aufgenommenen und von den ersten Künstlern dargestellten Filme vorführen, um zu beweisen, daß wir auch in der Hinsicht nicht mehr vom Auslande abhängig sind.
Aber trotz dieser, fast hätte ich gesagt, modernen Vergnügungen zieht natürlich auch heute noch in erster Linie die Fremden das an, was schon früher hier als Sehenswürdigkeit galt: Weimars historische Stätten und Weimars historische Umgebung, Belvedere, Tiefurt und der Ettersberg. Vielbesucht wird auch Weimars neuer Flugplatz Nohra, der Ausgangspunkt einer zweiten Luftverbindung, die Weimar nach Berlin, aber auch nach München, Frankfurt a.M. und anderen Städten Süddeutschlands erhalten soll. Weimar hat sich wirklich außerordentlich verändert. In den Straßen herrscht ein Leben und Treiben wie nie zuvor, alle Lokale sind überfüllt, die Autos hupen vom Morgen bis zum Abend, militärische Proviant- und Fouragekolonnen ziehen fast ununterbrochen, vom Bahnhof kommend, ihres Weges, Militärpatrouillen streifen auf und ab, und Weimars Geschäfte sind nicht nur solche, sondern sie machen auch welche, denn alle die vielen Dinge, die die Fremden an ihrem Heimatsort nicht mehr bekommen, hoffen sie nun hier zu finden, finden sie aber meistens nicht, weil die auch hier ausverkauft sind; aber dennoch finden sie vieles andere, das ihnen gefällt, und das sie vielleicht auch einmal gebrauchen können. Weimar hat jetzt sogar Cafés, in denen ganz wie in Berlin nachmittags und abends Konzerte stattfinden. Nur bis zu einer „Diele” hat Weimar es trotz der Nationalversammlung noch nicht gebracht, aber das ist auch kein Unglück, getanzt wird natürlich trotzdem überall, wenngleich ich persönlich es auch nicht verstehe, wie man in der jetzigen Zeit tanzen mag.
So ist das Weimar von heute. Überall Leben und Verkehr, aber auch überall Vergnügungen und Zerstreuungen. Und viele wünschen sich, daß es hier immer so bleiben möchte. Auch ich hätte nichts dagegen, denn wie ein Landsmann mir sagte, als ich vor Jahren hierherzog, so hübsch Weimar auch ist, bannig lütt ist es doch man. Da hat er recht, lütt, klein, ist Weimar nur, aber trotzdem, wäre es anders und würde es hier immer so bleiben, wie es jetzt ist, dann würde Weimar sehr bald aufhören, das zu sein, was es war — Weimar.