Erinnerungsbilder vom Weihnachtsfeste

1. Unter der Maske — 2. In der Kaserne. — v. Sch.
in: „Pittsburger Volksblatt” vom 29.12.1898


1. Unter der Maske.

Ein kurzer Schlag mit dem Schlüssel an die Zellenthür des Gefängnisses am Plötzensee, das ist das Zeichen für den Gefangenen, sich zum Kirchgang zurechtzumachen.

Vorn an der Brust das Schild mit der Nummer — hier gibt es nur Nummern, keine Namen — das Gesicht mit der schwarzen Tuchmaske bedeckt, treten sie in Abständen heraus, die Unglückseligen, denen man heute am heiligen Abend den Weihnachtsbaum entzündet, um auch ihnen, den Ausgestoßenen, das Evangelium von der Geburt des Heilandes zu verkünden.

Die Isolirung der Gefangenen ist auch in der Kirche streng durchgeführt. Die Sitze sind amphitheatralisch eingerichtet, zwischen den Plätzen ragen hohe Wände. Niemand ist im Stande, seinen Nachbar zu beobachten.

In kurzer Zeit sind die Stühle besetzt. Eine unheimliche Stille herrscht in dem weiten, dämmerigen Raum. Da leuchtet es auf zu beiden Seiten des Altars. Zwei mächtige Tannen, im Festschmuck prangend, werden entzündet. Die Augen sind wie gebannt auf die strahlenden Kerzen gerichtet. Und nun durchbrausen die Klänge der Orgel den Raum. Wie mit einem Zauberschlag ist der starre, finstere Ausdruck aus den Gesichtern der Versammelten verschwunden. Klingt es nicht wie ein gewaltiger Schrei, dieser Seufzer aus tiefster Seele dieser Unglücklichen! Wir hören den Schrei ganz deutlich, und ein Schauer des Mitgefühls durchzittert auch uns.

Wie die Töne des Präludiums fortquellen, klagend, das Herz so eindringlich bewegend, da zuckt es schmerzlich in den Gesichtern, und, nicht beachtet von dem Nächsten, nur allein, und nur mit Gott allein, da bricht ein großer, gewaltiger Schmerz hervor, der Schmerz der Verzweiflung und der Reue.

Der Geistliche hatte inzwischen die Kanzel bestiegen. Auch seine Stimme ist heute bewegter denn sonst. Weiß er doch ganz gut, daß seine Worte heute wenigstens einen fruchtbaren Boden finden, weiß er doch auch, daß die Thränen, die da unten fließen,, Thränen der aufrichtigen Reue sind.

Dort jener bejahrte Mann, der sich in seinen Stuhl zurücklehnt und nassen Auges in das Kerzenlicht starrt — was ist es, das ihn so bewegt? Es ist wohl das erste Mal, daß er fern von Weib und Kind den heiligen Abend verbringt. Er sieht daheim ein vergrämtes Weib, nur an ihn denkend, ihn vertheidigend und den schweren Kampf um die Existenz der Kinder allein führend.

Nicht weit von dem Sitz dieses Mannes fällt uns das wehmüthige Antlitz eines jugendlichen Sträflings auf. Es ist nicht der fast wahnsinnige Ausdruck des Schmerzes eines Vaters, der es weiß, wie sehr sein eigen Fleisch und Blut sehnsuchtsvoll seiner harrt. Der Ausdruck dieses Gesichts ist ein ungleich milderer. Dieser Jüngling, der vielleicht noch gar nicht das volle Bewußtsein der That, die ihn an diesen Ort gebracht, hat, ist auch in seinen Gedanken zu Hause bei den Eltern, diesen Eltern, die freudig ihr Herzblut hingegeben hätten, wenn sie dadurch ihren einzigen Sohn vor der Schande hätten bewahren können. Er sieht, wie die alten Leute in diesem Jahr nur mechanisch die Vorbereitungen zum Fest getroffen haben. Er sieht in Gedanken den Vater am Abend nach Hause kommen und still den Baum anzünden. Er sieht, wie sich die Beiden still hinsetzen, er weiß, wie ihre Gedanken zu ihm fliegen, zu ihm, der den guten Alten so viel Herzeleid angethan durch einen leichtsinnigen Streich.

Der Geistliche hat seine zu Herzen gehende Predigt beendigt.

Stille Nacht! Heilige Nacht! Feierlich klingt das Weihnachtslied, welches wie kein anderes die Herzen bewegt und die Erinnerung wachruft an die seligen Tage der Kindheit. Unter den sanft verklingenden Orgelklängen erhebt sich Einer nach dem Anderen. Geräuschlos, wie sie gekommen, verschwinden sie wieder. Die Kerzen der Weihnachtsbäume sind erloschen, aber ihr Glanz leuchtet fort und erleuchtet in den dunklen Zellen die Herzen der Unglücklichen.

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2. In der Kaserne.

Das Weihnachtsfest geht auch nicht ohne weihevolle, sinnige Empfindung an unseren braven Kriegern vorüber. Schon die wochenlangen Vorbereitungen zu der Feier des Weihnachtsabends und der ganzen Festzeit bringen Jung und Alt in Bewegung. Die wichtige Frage des Weihnachts-Urlaubs, welcher als Vergünstigung nur den besten Soldaten zu Theil wird, beschäftigt lebhaft alle Gemüther. Der Rekrut zeigt den größten Eifer, um seine Ausbildung soweit zu fördern, daß er sich „Muttern” als proprer Soldat zum ersten Male zeigen kann. Der fürsorgliche Vater der Kompagnie nimmt inzwischen Kenntniß von dem Stande des Weihnachts-Bescheerungsfonds und bestimmt darnach den Umfang, welchen die Feier nehmen soll, vereinbart mit dem Bataillons-Kommandeur die Einrichtungen des Bescheerungslokals, trifft Abmachungen mit der Menage-Kommission wegen Lieferung eines leckeren Mahles für die Festzeit und entscheidet, wer für die Feiertage zum Wachtdienst zurückbehalten werden soll. Der junge, musikalisch beanlagte Lieutenant schult mit Beihülfe einiger tüchtiger Musiker der Regiments-Kapelle den Singchor der Kompagnie. Ein kaufmännisches Genie oder der besonders gewitzigte Kammer-Unteroffizier besorgt nach einer ihm eingehändigten Liste den Einkauf der verschiedenen Geschenke für die Weihnachtslotterie, der Bäume u. s. w.

Reichen die Mittel des Bescheerungsfonds zu einer der Weihe des Tages angemessenen Feier des Festes nicht aus, so wird wohl auch mit allerhöchster Genehmigung des Regiments­kommandeurs zu einer Wohlthätigkeits-Vorstellung geschritten, bestehend aus Zithervorträgen, Turn- und Jongleur­kunststücken, Taschenspielerkünsten, Waffenspielen, Kriegstänzen der Samoaner, Schnellmalerei, Dressur-Vorstellungen mit Hunden und Katzen u. s. w., welche den in jeder Kompagnie befindlichen Spezialitäten Gelegenheit bietet, sich in ihrem Glanze zu zeigen, und ein abwechslungsreiches Programm sichern. Gern reicht ein jeder der Hunderten von Zuschauern am Eingange der Exerzierhalle dem martialisch ausschauenden Pförtner im historischen Kostüm den gering bemessenen Wegezoll. Mit dieser Vorstellung wird oft auch ein kleiner Verkaufsbazar männlicher Handarbeiten verbunden, wozu jeder Künstler und Handwerker der Kompagnie einen Beitrag liefert.

In Rücksicht darauf, daß die Mehrzahl der Leute schon einige Tage vor dem heiligen Abend ihren Urlaub antritt , wird zur Bescheerung ein früherer Termin angesetzt und dieselbe gewöhnlich bataillonsweise in der größten Räumlichkeit der Exerzirhalle — nach Anordnung des Bataillons-Kommandeurs abgehalten.

Endlich ist der ersehnte Tag erschienen! „Heute Abend um 5 Uhr wird in der Exerzirhalle die Weihnachts­bescheerung für das erste Bataillon stattfinden” — so lautet der Parolebefehl. Im Laufe des Nachmittags werden die geputzten Bäume an den Längsseiten der Halle aufgestellt, davor die Bescheerungstische, auf welchen die Masse der Geschenke sorgsam ausgebreitet wird.

Die Mitte des Raumes nimmt der vom Bataillon gespendete, vier bis fünf Meter hohe Christbaum, reichgeschmückt, mit Christschnee überdeckt, ein. Der Eingang zur Halle und die Wände sind mit harzduftendem Tannenreisig verziert. Ueber dem Bataillonsbaum ist der Weihnachtsgruß befestigt, welchen schwebende Engel über der Spitze halten: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!” Wo sonst laute Kommandos ertönen, hallen heute die Wände von feierlichen, andächtigen Weihnachtsliedern wieder. In einer freien Ecke sind die Tafeln zur Abendmahlzeit, welche hier auch eingenommen werden soll, aufgestellt und dafür vorbereitet. Vor dem Bescheerungstische des Bataillonsbaumes (für den Bataillonsstab) ist ein einfacher Altar errichtet. Zu beiden Seiten desselben befinden sich einige kriegerische Embleme, Gewehrpyramiden, Trommeln, Signal-Instrumente.

Um 5 Uhr werden die Gasflammen und die Weihnachtskerzen angezündet. Das Bataillon nimmt dann Aufstellung im offenen Viereck, Front gegenden Altar.

Die Halle strahlt im hellsten Glanze, als Punkt 5 Uhr der Bataillons-Kommandeur, umgeben von seinen Offizieren, gleichzeitig mit dem Garnison­geistlichen erscheint und das Bataillon begrüßt. Das Gesangschor desselben, begleitet von der Regimentskapelle, stimmt das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht!” an, welches dann von allen Versammelten kräftigst mitgesungen wird, und darauf folgt die Rede des Geistlichen.

Darauf hält der Kommandeur eine Ansprache, die mit einem Hoch auf den obersten Kriegsherrn endet. Nach dieser Ansprache tritt der rangälteste Unteroffizier des Bataillons vor, spricht im Namen des Bataillons dem Kommandeur den besten Dank für die schönen Worte aus und bittet die Offiziere als kleine Gegengabe nach der Bescheerung eine Weihnachts­aufführung in lebenden Bildern geneigtest entgegennehmen zu wollen.

Nachdem der Bataillons.Kommandeur dem Unteroffizier seinen Dank für das sinnige Angebinde ausgesprochen hat, beginnt die Bescheerung.

Die einzelnen Kompagnien sind zu ihren Tischen geeilt, vor den flimmernden Weihnachtsbäumen, worauf die hunderterlei nützlichen Gegenstände, sauber in buntes Papier gehüllt, ausgebreitet sind, mit welchen sie durch die Fürsorge des Vaters der Kompagnie überrascht werden sollen. Diejenigen Geschenke, welche nicht haben auf dem Tische Platz finden können, sind, in farbiges Papier gewickelt, an den Zweigen des Baumes aufgehängt. Schon vor Beginn der Feier haben die Leute die Nummern der Lotterie gezogen und harren nun gespannt des Aufrufes ihrer Nummer, was sie durch lautes Hier-Rufen anzeigen. Es entwickelt sich ein buntes, bewegtes Bild.

Doch auch der Leute, welche der unerbittliche Dienst von der Feier fernhielt, hat der fürsorgliche Kompagnie-Chef gedacht. An einer Ecke des Tisches hat er für jeden Einzelnen, den verschiedenen kundgegebenen Wünschen folgend, eine kleine Extrabescheerung aufgebaut. An der entgegengesetzten Seite sind die Geschenke für die Unteroffiziere ausgebreitet, welche noch größere Mannigfaltigkeit aufweisen . Alles ist in bester Stimmung.

Die allgemeine Lustigkeit wird plötzlich durch ein Signal unterbrochen — es ruft zu der Weihnachtsaufführung.

In einer Ecke der weiten Halle, ganz im Grünen verborgen, von dem Weihnachtssterne überstrahlt, ist eine kleine Bühne errichtet. Den begleitenden Text zu den Bildern spricht ein Unteroffizier an der Vorderseite der Bühne. Der Inhalt der Bilder ist meist ein ernst patriotischer, oft aber tritt auch der Humor in sein Recht. Jedenfalls ist das Publikum das denkbar dankbarste.

Inzwischen haben die Köche des Bataillons auf den bereitgestellten Tischen das Lieblingsgericht der Mannschaften — Schinken mit Klößen — wie mit Zauberschlag aufgetragen.

Ehe die Soldaten aber an den Tischen Platz nehmen, führen sie unter den Klängen des Regimentsmarsches einen strammen, flotten Parademarsch vor den Offizieren aus und geben sich nach dessen Beendigung erst dem Genusse des leckeren Mahles hin.

Der Bataillons-Kommandeur hat zur Feier des Tages einige Faß Bier gespendet, welches soeben von einigen Gefreiten angestochen wird.

Während des Abendessens erhebt sich ein älterer Unteroffizier und bringt mit einigen kernigen Worten ein Hoch auf das Offizierkorps aus, welches so viel zur Verschönerung des heutigen Festtages beigetragen habe.

Den Schluß der Feier bildet ein kleines Tänzchen der Soldaten untereinander. Während desselben verabschiedet sich der Bataillons-Kommandeur mit den Offizieren von den Leuten, indem er ihnen noch ein „Plünderungsfest” des Bataillonsbaumes für Sylvester in Aussicht stellt, was mit donnerndem Hurrah aufgenommen wird.

v. Sch.


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