Von Freiherr von Schlicht.
in: „Aachener Anzeiger” vom 2.7.1914,
in: „Die Ehestifterin”
Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit war meine Frau nicht zu bewegen gewesen, mich am Nachmittag auf dem Spaziergang zu begleiten und daran war ein neuer Roman schuld, der so wahnsinnig spannend war, daß meine Frau sich nicht von dem loszureißen vermochte. Ehe meine Frau wieder für irgend etwas anderes auf der Welt Interesse bekam, mußte sie wissen, wie das Buch endete und ob sie sich kriegten. Daß sie sich kriegten, wußte meine Frau natürlich ganz genau, denn wozu war sie eine Frau, wenn sie nicht längst den Schluß des Buches hätte lesen wollen. Natürlich kriegten sich die Leute in dem Roman und sie mußten sich ja auch kriegen, weil sonst das Buch mit vier Mark viel zu teuer bezahlt gewesen wäre, aber meine Frau wußte noch nicht, wie sie sich kriegten. Für die beiden Liebenden waren noch große Hindernisse zu überwinden, die Sache war verwickelter, komplizierter und aufregender, als ein Kientoppdrama, in dem egal Zigaretten geraucht und Briefe geschrieben werden. Meine Frau mußte erst wissen, wie die beiden Liebenden mit Hilfe des Verfassers über die Hindernisse hinweg kamen und darum und deshalb hatte ich meinen Spaziergang allein machen müssen.
Um meiner Frau Zeit zu lassen, das Buch zu Ende zu lesen, dehnte ich meinen Weg weiter aus als sonst, aber als ich dann endlich zurückkam und zu meiner Frau in das Zimmer trat, erfuhr ich sehr bald, daß meine Frau gar nicht weitergelesen hatte: „Weißt du, es ist doch immer dasselbe und diese Hindernisse für die Liebenden bestehen doch gar nicht in Wirklichkeit, die werden von den Verfassern doch nur erfunden. Wie die Leute sich kriegen, ist ja schließlich auch ganz gleichgültig und außerdem fand ich bei dem Durchblättern auf Seite 322 die Lösung. Die hat mich so enttäuscht, daß ich das Buch beiseite legte.”
„Da hättest du mich nur lieber auf meinem Spaziergang begleiten sollen,” warf ich ein. „Es war so schön draußen und statt dessen bleibst du im Zimmer sitzen. Was hast du denn nur die ganze Zeit gemacht?”
„Gott, was man so macht,” meinte meine Frau leichthin, „zuerst habe ich mich geärgert.”
„Wie machst du denn das?” erkundigte ich mich halb belustigt, halb ernsthaft.
„Ich setze mich in meine Sofaecke und ärgere mich,” gab meine Frau zur Antwort, „anders kann man sich doch nicht ärgern.”
„Und wie lange hast du dich geärgert?”
„Vielleicht eine Viertelstunde, dann hatte ich keine Lust mehr.”
„Das war sehr verständig von dir,” pflichtete ich meiner Frau bei, „und was hast du hinterher gemacht?”
„Gar nichts, ich habe zuerst im Halbdunkeln und dann ganz im Dunkeln in meiner Sofaecke gesessen und nachgedacht.”
„Darf man auch wissen, worüber?” fragte ich, aber man schien das nicht wissen zu dürfen, wenigstens blieb mir meine Frau die Antwort schuldig, bis sie mich dann nach einer Weile plötzlich und unvermittelt fragte: „Weißt du, was ich möchte?”
Es gibt in meinem Leben Stunden, in denen ich mir allen Ernste einbilde, die Frauen zu kennen und so durchschaute ich denn auch jetzt nach meiner Ansicht meine Frau. Die hatte das Alleinsein benutzt, um sich einen Wunsch auszudenken und um mir den nicht gleich zu verraten, sollte ich den nun erraten. Das war zwar eine schwierige, aber trotzdem keine unlösbare Aufgabe, denn schließlich kommen die Wünsche und das, was eine Frau möchte, doch immer auf dasselbe hinaus. Und an jenem Tage wurde mir das Rätselraten noch dadurch erleichtert, daß es Frühling werden wollte und so meinte ich denn nach kurzem Besinnen: „Sicher möchtest du noch einen neuen Hut?”
Aber meine Frau widersprach: „Erstens habe ich soviel Hüte, daß ich unter Kuratel gestellt werden müßte, wenn ich mir auch nur noch einen neuen kaufen wollte. Zweitens kauft man sich als Dame niemals einen neuen Hut, sondern mindestens drei neue Hüte auf einmal und drittens habe ich mir heute morgen noch sechs neue Hüte bestellt, die spätestens in drei Wochen aus Wien eintreffen.”
„Da möchtest du also, daß ich die bezahle?” fragte ich, wenn auch nicht gerade frohen Herzens.
Aber meine Frau widersprach: „Wenn ich nichts anderes möchte, hätte ich doch gar nicht erst nachzudenken brauchen. Außerdem beruhige dich, die Hüte werden schon bezahlt werden und darüber, wer sie von uns beiden bezahlt, werden wir uns schon einigen.”
Das hieß mit anderen Worten, meine Frau sei sich schon darüber einig, daß ich derjenige sein würde, welcher — — aber gerade deshalb sagte ich: „Siher werden wir uns darüber einig und wenn du dich entschlossen hast, sie diesesmal selbst zu bezahlen, dann wirst du da bei mir auf keinen unüberwindlichen Widerstand stoßen.”
Kam es mir nur so vor, oder hatte meine Frau bei meinen letzten Worten wirklich leise gelacht? Auf jeden Fall hütete ich mich, danach zu fragen und um meiner Frau zu beweisen, daß ich selbst nicht daran dächte, in die Tasche zu greifen, meinte ich leichthin: „Wenn du also keinen neuen Hut möchtest, dann vielleicht ein neues Kleid?”
Diesesmal widersprach meine Frau nicht nur, sondern sie hielt sich sogar beide Ohren zu: „Um Gottes willen, sprich mir nicht von neuen Kleidern. Meine Schränke sind so voll, daß bei dem besten Willen nichts mehr hineingeht, ich habe ohnehin schon viel fortschenken müssen, nur um für die neuen Frühjahr- und Sommerkleider Platz zu bekommen, die gestern endlich abgeliefert worden sind. Ich habe soviel Sachen, daß ich, wenn ich vor den Schränken stehe, tatsächlich nicht weiß, was ich anziehen soll. und außerdem sind doch noch fünf Kleider in Arbeit. Ich brauche die eigentlich gar nicht, aber die Stoffe waren so hübsch und schließlich kann man doch nicht tagaus, tagein dasselbe Kleid anziehen, dann bekommt man das doch bald über, ganz abgesehen davon, daß ihr Männer es ja auch nicht liebt, wenn man immer in ein und demselben Fummel herumläuft. Ihr seid doch überhaupt ganz allein daran schuld, daß wir soviel Sachen brauchen, denn wenn ihr unseretwegen nicht immer so eitel wäret, könnten wir Frauen unendlich viel Geld sparen und hätten nicht nötig, immer wieder zur Anprobe zu gehen.”
Was meine Frau mir da alles erzählte, glaubte sie ganz gewiß — selber nicht, oder vielleicht glaubte sie es doch. Der Mann soll erst noch geboren werden, der da jedesmal aus den Worten einer Frau den Schluß ziehen kann, ob es ihr ernst ist mit dem, was sie sagt oder nicht. Das weiß kein Mann, es kann auch keiner wissen, schon weil die Frauen es in den meisten Fällen selbst nicht wissen, denn wüßten die es, dann hätten sie längst aufgehört, eine Frau zu sein. Ich aber tat, als wenn ich meiner Frau glaubte und rief ihr jetzt zu: „Wenn du auch kein neues Kleid möchtest, dann vielleicht einen Schmuck? Ich wüßte allerdings nicht, wie ich den im Augenblick bezahlen sollte, aber wenn er dich glücklich macht — —”
„Ach ja, Schmuck,” rief meine Frau glückstrahlend, „den möchte ich. Erinnerst du dich noch an die wundervolle Perlenkette, die wir heute morgen bei dem Juwelier sahen? Sie ist einfach märchenhaft schön und sicher gar nicht übertrieben teuer. Mehr als 40 000 Mark kostet sie auf keinen Fall und von dem Preis gehen bei Barzahlung sicher noch 5 Prozent Rabatt ab. Rechne mal, wieviel das ist. Bei 1000 gleich 5 Mark, nein, bei 100 gleich 5 Mark, das gibt bei 1000 Mark tausendmal soviel, nein doch nicht, hundertmal soviel. Also fünfmal 100 gleich 500 Mark, auf 1000 also bei 40 000 — — 40 mal 5 gleich 200, 40 mal 50 gleich 2000 und 400 mal 50 — — dann 4000 mal 50 und dann noch eine Null daran, nein, das kann ich nicht, das mußt du für mich ausrechnen.”
„Muß das sein?” fragte ich, „die Rechnung ist zwar nicht schwierig, aber sie würde nicht ganz stimmen. Hättest du recht mit dem, was du dir da zusammenmultiplizierst, dann würden wir an Rabatt zweimal hunderttausend Mark bekommen, während die Kette nach deiner Schätzung nur 40 000 Mark kostet.”
„Und was würden wir in Wirklichkeit an Rabatt erhalten?” erkundigte meine Frau sich.
„Im besten Falle zweitausend Mark,” rief ich ihr zu.
Meine Frau machte ein ganz entsetztes Gesicht, dann meinte sie: „Mehr nicht? Und um die lumpigen zweitausend Mark zu verdienen, sollen wir erst für vierzigtausend Mark Perlen kaufen? Ich denke ja gar nicht daran. Und überhaupt Perlen! Gewiß, die Kette ist wunderschön, aber Perlen bedeuten Tränen. Nein, keine Perlen, dann lieber Diamanten und Brillanten, aber du weißt, die liebe ich nicht, die sehen leicht zu protzenhaft aus und ich persönlich liebe ja überhaupt keinen Schmuck. Deshalb wäre es geradezu ein Wahnsinn, wenn wir welchen kauften, noch dazu, wo wir an Prozenten nicht annähernd soviel verdienen, wie der Schmuck kostet.”
„Was möchtest du denn, wenn es kein Schmuck sein soll?” fragte ich. „Alles, was ich bisher erriet, ist falsch. Es bleibt nur noch eins, du möchtest reisen?”
„Ach ja, reisen,” stimmte meine Frau mir glückselig bei, „die Welt ist doch so schön und wenn es bei uns zu Hause ja auch sehr hübsch ist, man sehnt sich trotzdem einmal hinaus nach einer anderen Gegend und unter andere Menschen. Ach ja, laß uns reisen, es ist nur die Frage: Wohin um diese Jahreszeit? Für Abbazia ist es leider schon zu warm und dann diese entsetzlich weite Reise. Wir müßten schon in der Nähe bleiben, aber wo da? In der Schweiz ist jetzt nichts los, in Montreux beginnt die Saison erst im Herbst, und wenn ich auf der Reise dorthin an die entsetzlich vielen Tunnels denke — nein, keine Tunnels und überhaupt kein Eisenbahnfahren. Das hasse ich und nun erst das Leben in den Hotels. Von dem Tage der Ankunft bis zur Stunde der Abfahrt ärgere ich mich über die zahllosen Angestellten, die nur auf den Augenblick warten, in dem man ihnen das Trinkgeld in die Hand drückt und je mehr man gibt, desto unzufriedener sind sie. Und dann die großen Speisesäle, mit den entsetzlich vielen Menschen, mit dem Tellergeklapper, der ewigen Tafelmusik, dem Stimmengewirr — nein, das ist nichts für mich, das halte ich mit meinen Nerven höchstens vierundzwanzig Stunden aus. Und das eigene Bett hat man auf Reisen auch nicht, da fehlt einem auch sonst soviel von dem, was man sonst gewohnt ist. Gewiß ist das Reisen an und für sich sehr schön, aber man müßte zu Hause reisen können, oder wenigstens mit seinem eigenen Hause, nein, reisen möchte ich auch nicht.”
„Aber um Gottes willen, was möchtest du denn?” fragte ich nun mehr als ungeduldig. „Alles was es nur gibt, habe ich dir aufgezählt, nun mußt du mir schon selber sagen, was du möchtest.” Und da kam es heraus. Als meine Frau in dem Buche las, das noch viel spannender war als ein Kientoppdrama, in dem fortwährend Zigaretten geraucht und Briefe geschrieben werden, da war meine Frau auf eine Stelle gestoßen, in der die Heldin einer Freundin zuruft: „Weißt du, was ich möchte?”
Und anstatt in dem Buch weiter nachzulesen, was die Heldin möchte, hatte meine Frau den Roman beiseite gelegt und in ihrer Sofaecke, leider vergebens, darüber nachgedacht, was sie selber möchte.
Da meine Frau es nicht wußte, sollte ich es wissen und sie war mir mehr als böse, als ich es nicht wußte. Ich aber wußte nur eins: Wenn meine Frau mich wieder einmal mit dieser Frage quält, dann gehe ich allein auf Reisen und bleibe selbst dann noch fort, wenn sie mir eines Tages telegraphiert: „Weißt du, was ich möchte? Daß du wiederkommst!”