Warum nicht?

Von Freiherr von Schlicht.
in: Schöne Frauen. Bibliothek pikanter Erzählungen und Gedichte. Band 2, Seite 171
Budapest, H.L.Schroeter, (1905), 208 S. und
in: „Treulose Frauen”


Herr von Deloche befand sich in einer Stimmung, in der er die ganze Welt vor Glückseligkeit hätte umarmen mögen. Er sass in seinem mit wahrhaft fürstlicher Pracht ausgestattetem Arbeitszimmer(1) an seinem Schreibtisch und las immer und immer wieder das Billet, das ihm die Post vor einigen Minuten gebracht hatte und das nur die wenigen Worte enthielt: „Ich erwarte Sie heute Nachmittag fünf Uhr.”

Also doch! Er vermochte sein Glück immer noch(2) nicht zu fassen. Seit vielen, vielen Wochen warb er um die Gunst der jungen Frau von Simaise, seit vielen Wochen galt sein ganzes Sinnen, Denken und Trachten nur ihr, seit Wochen bemühte er sich, ihre Gunst zu erringen — er hatte sie ausgezeichnet, wo immer er nur konnte, er hatte sie mit Aufmerksamkeiten überhäuft, er hatte gethan, was er nur immer vermochte, um ihre Liebe zu erringen. Er war ein schöner Mann, er wusste es sehr wohl, seine Frau sagte es ihm oft, und auch andere Damen hatten es ihm gesagt. Er war verwöhnt und an keinen Widerstand gewöhnt — Frau von Simaise aber kämpfte für ihre Tugend, denn sie war ihrem Mann noch nie untreu gewesen, und sie hatte auch die feste Absicht, es nie zu werden. Aber an bösen Menschen, die uns daran verhindern, die guten Vorsätze, die wir gefasst haben, auszuführen, fehlt es ja nie, und so hatte Herr von Deloche denn der Frau von Simaise ausführlich auseinandergesetzt, dass ihre Absicht ja im höchsten Grade lobenswert sei, dass er aber absolut nicht begreifen könne, warum gerade er unter ihrem Entschluss leiden solle; einmal sei keinmal, sie sei jung und hübsch, viel zu hübsch, um nur von einem Mann geliebt zu werden, noch dazu von einem Gatten, der fast immer auf Reisen sei.

Er hatte ihr gestern Nachmittag seine Aufwartung gemacht und sie in einer Erregung zurückgelassen, dass er sich sagte: „Wenn Du heute nicht gesiegt hast, siegst Du nie.”

Und er hatte gesiegt, er hielt den Beweis in Händen; ihr Gatte war verreist, erst nach fünf Tagen erwartete sie ihn zurück, und er hatte die feste Absicht, ihr über die Einsamkeit ihres Strohwitwentums hinwegzuhelfen. Er dachte nicht daran, sich mit einer flüchtigen Zusammenkunft zu begnügen, er wollte die Zeit gehörig ausnutzen.

Er überlegte, wie er die Sache am praktischsten einrichten könnte: „Am bequemsten wäre es für beide Teile, wenn ich ganz bei ihr wohnen könnte, aber ich fürchte, das geht nicht, schon der Domestiquen wegen nicht, aber halt, so wird es gehen.”

Er ergriff die Feder und schrieb ein Billet: „Ich küssen Ihnen die kleinen Hände und die grossen dunklen Augen, die mich, wenn ich zu Ihnen komme, hoffentlich mit einem freundlichen Blick willkommen heissen werden. Ich zähle die Stunden, bis ich bei Ihnen bin, denn ich habe Ihnen viel, unendlich viel zu sagen, so viel, dass ich fürchte, heute nicht damit fertig zu werden. Und darum beschwöre ich Sie: verreisen Sie auf ein paar Tage, sagen wir vorläufig auf drei. Besuchen Sie eine Freundin auf dem Lande und gestatten Sie mir, Sie zu begleiten. Ich werde Sie um fünf Uhr heute Nachmittag in dem Wartezimmer erster Klasse des Gare du Nord erwarten — das Weitere lassen Sie meine Sorge sein.”

Er klingelte seinem Kammerdiener, um das Billet sofort besorgen zu lassen, und kaum war dieser gegangen, als Frau von Deloche zu ihrem Gatten in das Zimmer trat: sie war weniger eine schöne, als eine zierliche, graziöse, anmutige Frau. Sie war mittelgross, sehr gut gewachsen und mit ebenso viel Geschmack wie Chic gekleidet. Sie war noch jung, kaum fünfundzwanzig Jahr, und da ihre Ehe kinderlos war, hatte sie in ihrem ganzen Aeusseren noch etwas Mädchenhaftes.

Sie reichte ihm die kleine, wohlgepflegte Hand mit den rosaroten Fingenägeln, und zärtlich küsste er sie auf die Stirn. Er liebte seine Frau, er liebte sie wirklich, aber das hinderte ihn nicht, auch andere zu lieben.

„Ich störe Dich doch nicht?” fragte sie, „ich habe mir den Wagen bestellt, in einer halben Stunde fahre ich, ich muss einige notwendige Besorgungen machen. Willst Du mich begleiten? Wir könnten ja dann noch durch die Champs des Elysees und das Bois fahren.”

Sie wusste, er liebte es, sich an ihrer Seite in seinem tadellosen Gespann in diesen belebtesten Gegenden zu zeigen, die vorüber rollenden Equipagen zu mustern, die eleganten Reiterinnen zu bewundern und das Leben der Pariser Welt auf sich einwirken zu lassen.

Sein Gesicht nahm den Ausdruck des tiefsten Bedauerns an: „Es geht nicht, Beatrice, es geht nicht, heute nicht — ich habe sehr unangenehme geschäftliche Nachrichten erhalten. Ich wollte Dir eigentlich noch nichts davon sagen, denn ich erwarte noch ein Telegramm, aber ich glaube, es wird nichts ändern können — ich werde wahrscheinlich heute Nachmittag auf einige Tage nach London zu meinem dortigen Banquier fahren müssen. Es ist mir sehr unangenehm, aber es muss sein.”

„Ach, das thut mir aber sehr leid, auch Deinetwegen, denn ich weiss, Du liebst London nicht,” gab sie zur Antwort, „und wie lange wirst Du fortbleiben? Wünschst Du, dass ich Dich begleite?”

„Das wäre reizend,” gab er zur Antwort, „aber nein,” setzte er nach einigem Nachdenken hinzu, „die Reise würde Dich unnötig anstrengen, es wird so wie so eine Hetzpartie werden. Morgen früh bin ich in London, spätestens in fünf, nein in vier Tage bin ich wieder zurück.”

Sie war es gewohnt, dass ihr Mann, der einen nicht unbedeutenden Teil seines grossen(3) Vermögens in englischen Unternehmungen stecken hatte, häufig nach London fuhr, um dort mit den Herren zu konferieren — so war ihr auch diese Reise in keiner Hinsicht auffallend.

„Wie Du meinst,” gab sie zur Antwort, „anstrengend werden diese Tage wohl für Dich werden.”

„Sehr anstrengend,” erwiderte er, „und da ist es mir, offen und ehrlich gestanden, ebenso lieb, wenn ich dann nach den Zusammenkünften mich ausruhen und schlafen kann.”

Sie stimmte ihm bei: „Du hast recht — wenn ich mit Dir wre, würden wir doch ausgehen, Theater besuchen und uns sonst amüsieren. Es ist ebenso gut, ich bleibe hier. Aber ich sehe Dich doch noch, ehe Du fährst?”

„Selbstverständlich,” gab er zur Antwort, „ich gehe nicht aus, ich erwarte, wie gesagt, ein Telegramm, von dem hängt alles ab, vielleicht reise ich überhaupt nicht.”

Aber er reiste doch, — am Nachmittag erhielt er ein Billet: „Ich erwarte Sie auf dem Gare du Nord!”

Zärtlich schloss er zum Abschied seine kleine Frau in die Arme, um eine kleine halbe Stunde später Frau von Simaise, als er mit ihr in einem geschlossenen Wagen durch die Strassen von Paris fuhr, heiss und innig zu küssen.

„Sie sind ein Engel, Nina,” beteuerte er und führte ihre kleine Hand zärtlich an seine Lippen, während sein Fuss mit dem ihrigen, der in einem äusserst zierlichen hohen lila Knopfstiefel steckte, heimliche Zwiesprache hielt. „Sie sind ein Engel, dass Sie meinen Wunsch erfüllen!”

Sie schmiegte sich an ihn, aber dennoch sprach wirkliche Angst aus ihren Worten, als sie nun sagte: „Wenn mein Mann, wenn Léon nun etwas erfährt?”

„Aber Liebste,” bat er, „wie soll er davon etwas erfahren? Der sitzt in Bordeaux, und wir sind in Paris. Ich werde ihm schon nichts erzählen, und Sie vermutlich auch nicht.”

„Und wohin führen Sie mich?” fragte sie.

„Ich kenne ein ebenso elegantes wie verschwiegenes kleines Hotel,” gab er zur Antwort, „dort sind wir ganz sicher; wir werden als Herr und Frau von Viviers dort absteigen, ich werde eine der kleinen, aus mehreren Zimmern bestehenden Dépendancen mieten, wir haben unseren eigenen Eingang von der Strasse aus, und jede Gefahr, dass uns jemand sehen könnte, ist vollständig ausgeschlossen. Aber noch eine Frage gestatten Sie mir: wohin haben Sie befohlen, dass Ihnen etwaige Briefe nachgesandt werden?”

„Ich kann mich auf meine Zofe verlassen,” gab sie zur Antwort, „sie ist verschwiegen, ich versprach, ihr Nachricht zu senden. Aber wie machen Sie es mit ihrer Post.”

Er lachte lustig auf, dann fragte er: „Glauben Sie, dass die Verschwiegenheit allein das Vorrecht der Kammerzofen ist? Mein Kammerdiener ist unterrichtet, der besitzt in solchen Sachen die nötige Routine. Also deswegen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.”

Der Wagen fuhr vor dem Hotel vor, die Koffer wurden abgeladen, und wenig später standen sie sich in dem Salon allein gegenüber; die Thür nach dem Schlafzimmer stand offen.

Sie wurde dunkelrot und wandte sich um: „Bitte, schließen Sie die Thür,” sagte sie.

Er that, als hätte er ihre Worte nicht gehört. „Darf ich Ihnen behülflich sein?” fragte er.

Er nahm ihr den Schleier und den Hut ab und zog ihr sodann das Jacket aus.

„Und nun einen Kuss,” bat er.

Da lag sie an seinem Hals, und während er sie mit der Linken zärtlich an sich drückte, öffnete er mit der Rechten die Haken, die die rosa-seidene Taille auf dem Rücken zusammenhielten.

„Georges,” flehte sie vorwurfsvoll.

Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust, und er küsste sie auf das Haar und auf den Nacken, auf die kleinen Ohren und die Wangen, die sich vor Scham dunkelrot gefärbt hatten.

„Georges,” flehte sie zum letzten Mal — es klang wie der Hilferuf eines Weibes, das sich in der Gewalt eines geliebten Mannes weiss, und doch, bevor sie sich ihm ergiebt, noch einen Versuch macht, ihm zu entfliehen, und doch hofft, dass dieser Versuch nicht gelingen möge.

Und noch einmal klang es hinsterbend und ergebend: „Georges.”

Wie im Taumel gingen die Tage für sie dahin, sie kamen sich vor, wie ein junges Ehepaar, das sich auf der Hochzeitsreise befindet.

Nach vier Tagen nahmen sie Abschied von einander, er trocknete ihre Thränen und küsste ihre Augen: „Sei verständig, Liebling,” bat er, „mach mir das Herz nicht schwer. Wir nehmen ja nicht Abschied für immer — wie lange wird es dauern, dann bist Du einmal wieder allein, und sobald Du mir Nachricht schickst, fahre ich wieder nach London, und von Dir allein hängt es ab, wie lange meine Reise dauert.”

Er klingelte nach dem Hausdiener, um das Gepäck besorgen zu lassen, und während Nina weinend auf dem Sopha sass, trat er an das Fenster und blickte hinab auf die Strasse. Auch er war traurig, und er wollte nicht, dass Nina die Thräne sah, die sich heimlich in sein Auge stahl.

Ein Wagen war vor dem Hotel vorgefahren, der Page hatte die Wagenthür geöffnet und stand nun in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld mit der Mütze in der Hand und wartete auf die Gäste.

Und dann kamen sie: ein sehr grosser, eleganter Herr und eine kleine, sehr zierliche, graziöse Dame — er taumelte zurück, er fasste sich mit der Hand an die Stirn, nein, nein, er täuschte sich nicht, er erkannte die Dame an dem mit echtem Zobel besetzten grauen Kostüm, das er ihr selbst kürzlich geschenkt hatte, es war Beatrice, seine Frau.

„Aber, Georges, was hast Du nur?” fragte Nina.

„Nichts, nichts,” gab er zur Antwort, „ich glaubte einen Bekannten auf der Strasse zu sehen und wollte mich hier nicht gern erkennen lassen. Aber wenn es Dir recht ist, gehen wir jetzt, ich habe mir meinen Wagen nach dem Bahnhof bestellt und möchte die Pferde nicht gerne warten lassen.”

Sie schieden von einander mit einem heissen Kuss und einem frohen: „Auf Wiedersehen,” und eine kleine Stunde später sassen Herr und Frau von Deloche sich beim Diner gegenüber: er bleich bis an die Lippen, sein schlechtes Aussehen mit den Folgen einer schrecklichen Seekrankheit erklärend, sie lustig, frisch, munter und scherzend.

„Aber denke Dir nur,” rief sie plötzlich, „die Hauptsache habe ich Dir ja noch garnicht erzählt. Als Du eben abgereist warst, suchte mich meine Freundin Marguérite auf, und als ich ihr erzählte, dass ich allein sei, bat sie mich, sie doch zu besuchen — ich packte schnell das Nötigste zusammen und bin vier Tage bei ihr in Auteuil gewesen, vor einer halben Stunde bin ich erst nach Haus gekommen. Es war ganz reizend, ich habe mich herrlich amüsiert.”

„Du siehst etwas angegriffen aus,” sagte er, sie scharf ansehend, „vier Tage waren vielleicht etwas zu viel für Dich.”

„Oh nein, garnicht,” gab sie zur Antwort, „ich habe fest versprochen, wenn Du das nächste Mal nach London fährst, wieder zu Marguérite nach Auteuil zu kommen.” — „Das sollte mir gerade noch fehlen,” dachte er, „das schlechte Gewissen, das ich selbst mit mir herumtrage, zwingt mich, dieses Mal den Mund zu halten.”

„Vorläufig werde ich nicht wieder verreisen,” gab er zur Antwort, „ich habe alles erledigt, sogar besser, als ich hoffte.”

„Wie war es denn sonst?” fragte sie, „hast Du Dich gut amüsiert?” Er erzählte von gemeinsamen Bekannten, die er gesehen haben wollte, bestellte ihr Grüsse, erzählte von einem grossen Frühstück, das er mitgemacht und anderen schönen Dingen.

Aber während er sprach und sein(4) Märchen erzählte, sah er Beatrice immer an und dachte: „Wie ist es nur möglich, dass eine Frau sich so verstellen kann?”

Und Beatrice dachte: „Der arme Junge, er thut mir so leid, es war eigentlich sehr unrecht von mir, dass ich ihm nicht treu blieb. Nun, ich will heute Abend doppelt zärtlich mit ihm sein und mein Unrecht wieder gut zu machen suchen. Aber Schuld hat er ja selbst, ich habe ihn ja gebeten, warum nahm er mich nicht mit nach London? Warum nicht?”


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Treulose Frauen” fehlen hier die Worte: „in seinem mit wahrhaft fürstlicher Pracht ausgestattetem Arbeitszimmer”. (zurück)

(2) In der Fassung von „Treulose Frauen” heißt es hier: „noch immer nicht”. (zurück)

(3) In der Fassung von „Treulose Frauen” fehlt hier das Wort: „grossen”. (zurück)

(4) In der Fassung von „Treulose Frauen” heißt es hier: „seine Märchen”. (zurück)


zurück zur

Schlicht-Seite
© Karlheinz Everts