Eine Ehehumoreske von Freiherr v. Schlicht
in: „Westungarischer Grenzbote” vom 12.11.1911,
in: „Dortmunder Zeitung” vom 15.11.1911,
in: „Münsterischer Anzeiger” vom 25.11.1911,
in: „Ohligser Anzeiger” vom 27.11.1911,
in: „Deutsches Volksblatt (Wien)” vom 24.12.1911
Wenn man den Frauen glauben darf — und man muß ihnen ja sogar oft glauben, besonders wenn man verheiratet ist — wenn man also den Frauen glauben darf, dann sind die Frauen „nie so”, wir aber, wir bösen Männer, sind „immer gleich so — —”.
Die Frauen „nie”, wir Männer „immer gleich”.
Ich wollte mich an den Schreibtisch setzen, um zu arbeiten. Das heißt, von einem Wollen meinerseits konnte gar nicht die Rede sein, denn ich war eben von einer langen Sommerreise zurückgekehrt und nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene ist der erste Tag nach den Ferien gräßlich, die Arbeit schmeckt nicht und geht nicht von der Hand und bei unsereins nicht aus dem Kopfe. Aber ich mußte arbeiten, es galt ein Versprechen einzulösen, ich mußte für eine Zeitschrift einen längst zugesagten Beitrag abliefern, ich mußte arbeiten, ob mir etwas einfallen würde oder nicht.
Ich setzte mich an den Schreibtisch, aber gleich darauf stand ich wieder auf, um nachzuholen, was ich vergessen hatte: die strengste Anweisung an alle im Hause, mich unter keinen Umständen zu stören. Nicht einmal der Geldpostbote sollte vorgelassen werden. Ich wollte allein sein.
Und als ich die Mädchen instruiert hatte, wendete ich mich an meine Frau:
„Nicht wahr, Betten(1), du tust mir den Gefallen, mich heute morgens nicht zu stören?”
Zu den vielen vortrefflichen Eigenschaften meiner Frau gehört es, daß sie mich nach ihrer gewissenhaften Ueberzeugung niemals stört, wenn ich zu arbeiten habe. Aber wenn sie spazieren geht, klopft sie regelmäßig an meine Tür und ruft mir von draußen zu:
„Ich gehe jetzt fort und wenn es dir recht ist, treffen wir uns dann und dann und dort und dort.”
Wenn der Himmel trügerisch aussieht, klopft sie an meine Tür und unterhält sich von draußen mit mir eine Viertelstunde und länger darüber, ob sie nicht doch lieber einen Schirm mitnehmen solle, oder ob ich glaube, daß es nicht regnen würde. Meine Frau klopft jeden Tag aus einem anderen Grunde an meine Tür und wenn sie nicht weiß, warum sie klopfen soll, dann klopft sie und ruft mir zu:
„Ich wollte dir nur sagen, daß ich heute nicht bei dir anklopfen werde, ich gehe jetzt fort.”
Es ist die gewissenhafte Ueberzeugung meiner Frau, daß sie mich niemals stört, und so sah sie mich auch jetzt ganz verwundert an:
„Wie kommst du nur darauf, mich zu bitten, dich in Ruhe arbeiten zu lassen? Habe ich dich in den drei Jahren, die wir nun verheiratet sind(2), bisher auch nur ein einzigesmal gestört?”
Jeder Ehemann muß an dem Hochzeitstage seiner Frau schwören, ihr stets die Wahrheit zu sagen, sie nie zu belügen und immer gegen sie so offen und ehrlich zu sein, wie sie es selbst fort gegen ihren über alles geliebten Mann sein will.
Es ist nur ein wahres Glück, daß die Frauen sehr schnell vergessen, was sie in dieser Hinsicht dem Mann versprochen haben. Das erleichtert es dem Manne ungemein, auch seinen Schwur nicht zu halten, und der Mann darf ihn auch gar nicht halten, wenn er den Frieden seiner Ehe nicht zerstören will.
So gestand ich denn meiner Frau, sie hätte mich noch nie gestört, noch nicht ein einzigesmal, und wenn ich sie trotzdem gebeten hätte, es auch heute nicht zu tun, so wäre das nur deshalb geschehen, daß es doch immerhin möglich wäre, daß sie mir ausnahmsweise einmal etwas zu sagen hätte, bevor sie spazieren ginge.
Meine Frau sah mich völlig verständnislos an.
„Ich begreife nicht, wie du nur auf solchen Gedanken kommen kannst. Ist das bis heute, wie du selbst zugibst, noch nie geschehen, dann wird es auch heute erst recht nicht geschehen.”
Da zog ich beruhigt von dannen, setzte mich an den Schreibtisch und wartete auf den Augenblick, in dem meine Frau bei mir anklopfen würde.
Aber es geschah ein Wunder, meine Frau klopfte wirklich nicht an, statt dessen stand sie aber plötzlich, ohne angeklopft zu haben, mitten in meinem Zimmer, unmittelbar neben mir. In die Arbeit versunken, hatte ich ihren Eintritt überhört, nun aber sah ich sie ganz erstaunt und mehr als erschrocken an:
„Um Gottes willen, was ist denn nur geschehen? Du zitterst ja an allen Gliedern, komm, setze dich zu mir.”
Aber meine Frau widersprach:
„Du hast zu arbeiten, da will ich dich nicht stören, aber das muß ich dir doch sagen: Lina hat von den wunderschönen großen Meißener Tellern wieder drei kaput geschlagen.”
„Na, wenn schon,” versuchte ich meine Frau zu beruhigen, „hin ist hin, zerschlagen ist zerschlagen. Ich kaufe dir drei andere Teller und damit ist die Sache erledigt. Das ist doch jedenfalls kein Grund, dich gleich so zu erregen.”
Meine Frau glaubte, nicht recht gehört zu haben: „Ich soll erregt sein? Du weißt doch, im Gegensatz zu dir errege ich mich nie. Ich bleibe immer ruhig, während du bei der geringsten Veranlassung „immer gleich” so heftig wirst. Ich errege mich nie, am allerwenigsten über das, was die Dienstboten tun, und wenn du mir drei neue Teller schenken willst, oder noch besser gleich neun, damit ich dann nicht nur ein halbes, sondern ein ganzes Dutzend habe, brauche ich mich ja auch weiter nicht zu ärgern, aber daß ich mich im ersten Augenblicke rasend geärgert habe, darf dich nicht weiter wundern.”
Der Mann, der sich bei einer Frau überhaupt noch verwundert, verdient gar nicht, daß es Frauen auf der Welt gibt. Und so verwunderte ich mich denn auch nicht weiter über die unlogische Logik meiner Frau, sondern warf nur verstohlen einen Blick auf die vor mir stehende Schreibtischuhr. Ich hatte zu arbeiten und die Zeit drängte. Aber so leise und verstohlen mein Blick auch gewesen war, meine Frau hatte ihn doch bemerkt und sagte jetzt: „Du brauchst doch nicht so ostentativ auf die Uhr zu sehen, ich gehe sowieso gleich wieder, denn ich will dich absolut nicht stören, aber wenn ich so erregt bin, dann muß ich mich dir gegenüber aussprechen, ich habe doch sonst niemand auf der Welt.”
In stiller Ergebung faltete ich die Hände vor dem Leibe und sagte so liebevoll wie nur möglich: „Du hast recht, mache deinem kleinen Herzen nur Luft und sprich dich aus.”
Und meine Frau sprach sich aus, und während sie sprach, rauchte ich eine Zigarre nach der anderen. Bei der dritten Zigarre war mein Bedarf an morgentlichem Tabak gestillt, aber meine Frau sprach noch immer. Immer noch.
Und die Uhr, die ½10 gewesen war, als meine Frau in das Zimmer trat, zeigte jetzt ½12.
Und öde und leer wie die Wüste Sahara lag vor mir das Manuskriptpapier, das vollgeschrieben werden sollte; die Redaktion und die Druckerei warteten.
Und meine Frau sprach sich immer noch aus.
Da fing ich plötzlich langsam, aber sicher an, nervös zu werden, ich merkte, wie die Nerven im Kopfe zuckten und schmerzten, wie in dem Schädel ein Kribbeln und Krabbeln begann, als wenn dort Ameisen herumliefen. Die Fingerspitzen zitterten und die Füße klopften unruhig auf den Teppich.
Aber ich wollte nicht nervös werden, mit eiserner Energie zwang ich mich zur Ruhe, zwei Stunden hatte ich mich in der Gewalt gehabt, warum sollte ich mich da nicht noch zwei Stunden beherrschen können?
Und während meine Frau noch immer weiter sprach, spielte ich den „Beherrscher”. Sich selbst besiegen ist der schwerste Sieg. Napoleon und Friedrich der Große kamen mir plötzlich wie Waisenknaben vor. Die hatten nur andere besiegt, ich aber — — —.
Bis ich dann doch einsah, daß ich die Schlacht mit mir verlieren würde. Aber daran war ich nicht schuld, sondern nur die Uhr, die plötzlich zwölf schlug. Was half es, daß ich sie in der ingrimmigsten Wut, die über ich kam, mit aller Gewalt gegen die Wand warf — sie hatte doch schon zwölf geschlagen.
Und dann sprach ich mich aus. Alles, was sich in den letzten zweieinhalb Stunden in mir angesammelt hatte, mußte herunter von der Seele, wenn ich nicht ersticken wollte.
Zweieinhalb Stunden sind eine lange Zeit, da kann sich viel Explosivstoff bilden, und die Spannung wird um so größer, je länger man den Augenblick der Entscheidung hinausschiebt.
Zweieinhalb Stunden hatte ich mich beherrscht, das sind 150 Minuten oder 9000 Sekunden. Aber als ich dann endlich mit einem lauten Knall explodierte, da sah meine Frau mich mit ihren großen, blauen Kinderaugen, in denen Tränen schimmerten, auf den Tod erschrocken an, und mit einer Stimme, der man es deutlich anhörte, daß sie mich wirklich nicht verstand, rief sie mir zu: „Ich begreife dich nicht, wie kannst du nur „immer gleich so” heftig sein?” — —
(1) „Betten” ist offensichtlich wohl eine Abkürzung für den Vornamen seiner zweiten Frau, Elisabeth, so wie „Pappen”, wie Schlicht von seinem Sohn gerufen wird, die Abkürzung für Papa ist. (Zurück)
(2) Schlicht heiratete seine zweite Frau Elisabeth ver. Hammer geb. Flössel am 8.9.1908. Diese Erzählung spielt also im Herbst des Jahres 1911. (Zurück)