Vor der Front

Von Freiherr von Schlicht,
in: „Im Barackenlager und anderes”


Die Leibkompagnie steht auf dem Kasernenhof zum Exerzieren bereit, die Herren Offiziere sind bereits zur Stelle und alle sehen nach dem Herrn Hauptmann aus.

Der läßt denn auch nicht lange auf sich warten und kaum hat er die dienstliche Meldung entgegengenommen, so sagt er, ohne sich lange mit der Vorrede aufzuhalten: „Meine Herren, Sie tun heute zum ersten Mal Dienst vor der Front und ich möchte mir von Ihnen Ihren Zug vorexerzieren lassen. Bitte, Herr Leutnant der Reserve Martens, wollen Sie damit den Anfang machen.”

„Angesichts des gestern recht reichlich genossenen Alkohols kann von einem Wollen bei mir garnicht die Rede sein,” denkt der Herr Leutnant, „höchstens von einem Nichtwollen, aber da beim Militär die Untergebenen gar keinen eigenen Willen haben, sondern lediglich das tun müssen, was sie sollen, aus diesen und aus anderen Gründen werde ich schon wollen müssen, einerlei ob ich will oder nicht.”

Und das Resultat seiner philosophischen Betrachtungen ist, daß er die Hand an die Mütze legt und „Zu Befehl” sagt. Das sagt man als Soldat immer und selbst wenn im Lazarett der Oberstabsarzt an einen soeben verstorbenen Musketier die Frage richtet: „Meier sind Sie nun wirklich tot?” Dann richtet der sich noch einmal in der Leichenstarre auf, legt beide Hände vorschriftsmäßig an jene Stelle seiner Beine, an der, als er noch lebte, die Hosenbiese saß und antwortet mit lauter Stimme: „Zu Befehl.” Und dann fällt er von neuem hintenüber und ist nun töter als tot.

„Also dann fangen Sie bitte an, Herr Leutnant, und denken Sie bitte daran, klare, deutliche Anführungs­kommandos(1) und das Ausführungs­kommando dann ganz kurz, scharf, knapp, energisch.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.” Dann läßt er seine Leute stillstehen und kommandiert: „Das Gewehr —”

Jetzt macht er vorschriftsmäßig eine kleine Pause. Nun kommt das Ausführungs­kommando: „über”. Das soll ganz kurz, scharf, knapp und energisch sein, das muß ebenso klingen, wie gestern das „O-O”. Na, er wird es schon machen.

Und so kommandiert er denn mit heller und scharfer Stimme, das Anführungs­kommando nochmals wiederholend: „Das Gewehr — O-O.”

Der Leiter des Gesangs vom gestrigen Liebesmahl hätte an diesem „O-O” seine helle Freude gehabt und voller Begeisterung gerufen: „Donnerwetter tadellos. Bravo. Da capo.”

Der Herr Hauptmann aber, der einer Familientrauer wegen an dem Liebesmahl nicht teilnahm und dieses „O-O” absolut nicht versteht, ist über dieses neue ihm bisher völlig fremde Kommando absolut nicht erfreut und der Herr Leutnant selbst ist einem Schlaganfall nahe. Er hat nur den einen Gedanken: „Das verfluchte Gesaufe! Das hört von heute an nun aber wirklich auf.”

Eine ganze Weile herrscht tiefes Schweigen, der Hauptmann muß sich erst das, was er da eben zu hören bekam, überlegen, dann aber sagt er: „Herr Leutnant, gewiß ließ die Art, in der Sie das Ankündigungs­kommando aussprachen, sehr viel zu wünschen übrig, aber daß Sie selbst vor Schrecken über Ihre mangelhafte Leistung „O-O” ausstießen, ich meine, daß Sie Ihre Leistung auf der Stelle sofort selbst kritisierten, das ist mir neu, so etwas ist mir denn doch noch nicht vorgekommen und ich möchte Sie bitten, das Kritisieren doch lieber mir zu überlassen.”

„Darauf, daß der Vorgesetzte das „O-O” so auffassen würde, wäre ich in meiner Todesstunde nicht gekommen,” dent der Herr Leutnant, „aber das kann mir ja auch gleich sein, es kommt nur darauf an, was er sagt, und da bin ich ja noch ganz gut davongekommen. Nun aber schnell das richtige Kommando und vor allen Dingen will ich jetzt noch mal von vorne anfangen.”

So kommandiert er denn: „Stillgestanden.”

Das hat er vorhin auch schon kommandiert und stiller als still können die Leute nicht stehen. Das sieht er leider zu spät ein und ganz erschrocken über den Fehler, den er da eben machte, sagt er halblaut vor sich hin „O-O”

Dieses Mal ist es wirklich eine Selbstkritik und von neuem meint der Herr Hauptmann: „Wenn Sie beständig kritisieren, Herr Leutnant, anstatt zu exerzieren, wird es Abend werden, bevor die Leute Gewehr über haben.”

„Wetten, daß nicht?” denkt der Herr Leutnant, dann kommandiert er sofort: „Das Gewehr über” und gleich darauf exerziert er seinen Zug vor: „Front marsch, ab- und einschwenken, Aufmärsche — das ganze Repertoire gibt er zum besten und als er mit seinen Kindlein an die Stelle zurückkommt, von der er mit ihnen abmarschiert ist, glaubte er seine Sache sehr gut gemacht zu haben.

Aber der Vorgesetzte ist darüber anderer Ansicht: „Sie haben zwar kommandiert und exerziert, Herr Leutnant, aber Sie haben nicht korrigiert. Weder die Gewehrlage, noch den Vordermann, noch die Seitenrichtung, noch sonst irgend etwas und doch ist das Korrigieren die Hauptsache, wenn die Leute bei dem Exerzieren auch etwas lernen sollen.”

„Ganz meine Ansicht,” denkt der Herr Leutnant, „aber mein sehr verehrter Herr Hauptmann, ich dachte, du wolltest sehen, was ich kann, und nicht, was die Leute leisten. Aber das Unglück ist ja nicht so groß und kann ja wieder gutgemacht werden. Das Versäumte wollen wir gleich nachholen, da fange ich gleich noch einmal von vorne an.”

So kommandiert er denn mit heller, scharfer Stimme: „Stillgestanden!”

Aber zu spät sieht er ein, daß das Kommando überflüssig war, denn da er vorhin vergessen hatte: „Rührt Euch” zu kommandieren, stehen die Leute sowieso schon still und stiller als still können sie nicht stehen.

„Stillgestanden, schein Ihr Lieblingskommando zu sein, Herr Leutnant,” meint der Hauptmann ein klein wenig spöttisch, „lassen Sie lieber rühren, das wäre richtiger, die Leute müssen sich doch auch erst wieder ausruhen. Ich möchte jetzt den zweiten Herrn sehen — Herr Leutnant Berka, wenn ich bitten dürfte.”

„Auf eine liebenswürdige Frage gehört auch eine liebenswürdige Antwort,” denkt der Herr Rechtsanwalt und so sagt er denn: „Aber gewiß Herr Hauptmann, mit Vergnügen.”

„Das freut mich,” meint der Vorgesetzte, „aber wenn Sie zu Befehl geantwortet hätten, dann wäre das auch genug gewesen.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

„Jetzt war es eigentlich völlig überflüssig,” sagt der, „aber gleich viel, fangen Sie jetzt bitte an.”

Herr Leutnant Berka hat gehört, daß der Hauptmann an der Leistung seines Kameraden auszusetzen hatte, so sagt er sich denn jetzt: „Na, Häuptling, paß' mal auf, nun kannst du was erleben. Ich werde dir das Blaue vom Himmel herunter kritisieren und korrigieren und wenn dir das dann noch nicht genug ist, hole ich auch noch die Wolken herunter. Ich korrigiere, wenn es auch noch so gut ist und wenn es schlecht ist, erst recht.”

So kommandierte er denn: „Das Gewehr — über!” und er hat Glück, der Griff ist miserabel; da kann er gleich mit dem Korrigieren beginnen, aber als er gerade damit beginnen will, wird er selbst korrigiert, denn so liebenswürdig wie nur möglich sagt der Vorgesetzte zu ihm: „Wäre es nicht vielleicht richtiger gewesen, die Leute zuerst stillstehen und dann erst Gewehr über nehmen zu lassen.” Und dann setzt er hinzu: „Es ist ja richtig, daß Herr Leutnant Martens das Kommando „Stillgestanden” etwas reichlich abgab, aber das darf Sie natürlich nicht dazu verleiten, es überhaupt nicht abzugeben.”

Der Herr Leutnant wird etwas verlegen, er weiß nicht recht, was er auf diesen berechtigten Vorwurf erwidern soll. So tut er denn das Klügste, was er tun kann, er sagt garnichts, sondern denkt sich nur sein Teil und zwar: „Na, denn noch mal von vorne.”

Aber er denkt es so laut, daß der Vorgesetzte es hört, und daß der seine Gedanken und seine Worte verstanden hat, beweist er dadurch, daß er mit der größten Liebenswürdigkeit sagt: „Sie haben ganz recht, dann noch mal von vorne, aber das richtige militärische Kommando dafür heißt: „Gewehr ab.”

Am liebsten bisse der Herr Leutnant sich in sein Gehirn, um nicht wieder so laut zu denken, aber da er das nicht kann, beißt er sich auf die Zunge, aber er beißt zu spät und vor allen Dingen zu stark, denn er empfindet plötzlich einen starken Schmerz und würde am liebsten „au” rufen. Das aber ist kein militärisches Kommando und so schluckt er denn das „au” mit samt seinen Schmerzen herunter.

„Bitte, Herr Leutnant, fangen Sie an,” ermahnt der Vorgesetzte.

„Zu Befehl, Herr Hauptmann,” aber während der Herr Leutnant vorhin völlig normale Sprache besaß, lispelt er jetzt ein klein wenig, als er „Gewehr über” nehmen läßt.

Trotzdem ist der Griff gut, aber natürlich nicht so gut, daß er nicht hätte noch viel besser sein können.

„Na, nun wird der Herr Hauptmann aber an meinem Korrigieren wirklich seine helle Freude haben,” denkt der Herr Leutnant, aber gerade als er damit beginnen will, wird er selbst korrigiert, denn so liebenswürdig wie nur möglich sagt der Vorgesetzte zu ihm: „Wäre es nicht vielleicht richtiger gewesen, Herr Leutnant, Sie hätten, bevor Sie Gewehr über nehmen ließen, zunächst einmal Richtung, Fühlung und Vordermann geprüft. Das ist sehr wichtig, denn wenn die Leute zu eng stehen, können Sie keinen guten Griff machen und wenn der Vordermann und die Richtung nicht stimmen, kann die Gewehrlage unmöglich eine gleichmäßige sein.”

„Da hat er recht,” denkt der Leutnant und wenn ein Vorgesetzter recht hat, dann hat er recht, obgleich er ein Vorgesetzter ist.

Der Hauptmann sieht seinem Leutnant an, daß den wieder irgend welche Gedanken beschäftigen, erraten kann er die natürlich nicht, aber trotzdem oder gerade deshalb sagt er: „Das richtige militärische Kommando heißt auch in diesem Falle, Gewehr ab, Herr Leutnant.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

Dann läßt er Gewehr ab nehmen und korrigiert Richtung, Fühlung und Vordermann. Das dauert endlos lange, aber je länger es dauert, desto mehr freut sich der Herr Leutnant, denn desto mehr Lob wird er nachher für seine gründliche Korrektur erhalten.

Endlich stehen die Leute wirklich tadellos da, aber anstatt für seine Leistung Lob zu ernten, sagt der Vorgesetzte so liebenswürdig wie nur möglich: „Glauben Sie nicht, Herr Leutnant, daß es mit dem Ausrichten des Zuges bedeutend schneller gegangen wäre, wenn Sie vorher: „Richt — Euch!” kommandiert hätten, anstatt die Kerls die ganze Zeit hindurch geradeaus starren zu lassen? Sie hätten sich selbst und den Mannschaften die Sache dadurch wesentlich erleichtert und das Kommando Richt Euch ist auch im Reglement für diesen Fall besonders vorgesehen.”

Der Herr Leutnant begreift nicht, daß er nicht selbst daran gedacht hat, aber die Aufregung, zum ersten Mal wieder vor der Front zu stehen, läßt nur zu leicht die einfachsten Sachen vergessen.

Nun ist der Zug allerdings schon ausgerichtet, aber so gut ist keine Richtung, daß sie nicht noch viel besser sein könnte und so kommandiert er denn jetzt noch hinterher: „Richt Euch!”

Mit einem hörbaren Ruck fliegen die Soldatenschädel nach rechts.

„Na, lassen Sie es jetzt nur gut sein,” wehrt der Vorgesetzte ab. „Wir wollen uns nun nicht länger mit der Richtung abgeben, sonst kommen wir überhaupt nicht weiter, lassen Sie bitte Gewehr über nehmen.”

„Zu Befehl, Herr Hauptmann,” und gleich darauf erfolgt das Kommando „Das Gewehr über”. Einen so miserablen Griff hat der Herr Leutnant noch nie gesehen, der war 50% unter jedem Schweinehund, und wie die Gewehre liegen — garnicht zum Ansehen. Aber anstatt sich darüber zu ärgern, freut er sich, denn nun wird sich der Herr Hauptmann endlich wirklich über sein Korrigieren freuen können.

Aber gerade als er mit dem Korrigieren beginnen will, wird er schon wieder selbst korrigiert, und zwar so liebenswürdig wie nur möglich sagt der Vorgesetzte zu ihm: „Glauben Sie nicht, Herr Leutnant, daß es richtiger gewesen wäre, bevor Sie das Gewehr über kommandierten, die Leute erst wieder geradeaus sehen zu lassen, denn mit rechts gestelltem Kopf kann kein Soldat, und wäre er der allerbeste, einen auch nur halbwegs vernünftigen Griff machen. Glauben Sie nicht auch?”

„Ich Ochse,” denkt der Herr Leutnant, „wie konnte ich aber auch nur das Kommando „Augen geradeaus” vergessen. Das muß einzig und allein die Aufregung machen, zum ersten Mal wieder vor der Front zu stehen. Da ergeht es einem ebenso wie im Examen, man weiß alles mögliche, nur nicht das, was man gerade wissen soll. Na, mit der Zeit wird es schon besser werden. Wir sind doch nicht umsonst im Barackenlager ausgebildet und die Fehler, die wir heute machen, entspringen ja nicht unseren mangelnden Kenntnissen, sondern lediglich einer gewissen Nervosität.”

„Das richtige militärische Kommando, Herr Leutnant, heißt in diesem Falle Gewehr ab,” unterbricht der Hauptmann den Gedankengang seines Offiziers.

Der fährt aus seinem Grübeln empor und kommandiert „Gewehr — ab!”

Donnerwetter, war das ein schneidiges Kommando. Der Herr Leutnant ist ganz stolz darauf, das hätte selbst er sich garnicht zugetraut, aber da sieht man es ja am deutlichsten, man ist doch nicht umsont im Lager gewesen. Aber trotz alledem, der Griff, den die Kerls da machen, ist einfach sauig, ein anderes Wort gibt es dafür garnicht.

Aber gerade als er mit dem Korrigieren beginnen will, wird er selbst korrigiert, denn so liebenswürdig wie nur möglich sagt der Vorgesetzte zu ihm: „Glauben Sie nicht, Herr Leutnant, daß es richtiger gewesen wäre, vor dem Kommando Gewehr ab die Leute erst die Augen geradeaus nehmen zu lassen, denn mit rechts gestelltem Kopf kann man ebensowenig Gewehr ab, wie Gewehr über nehmen. Sind Sie damit nicht auch meiner Ansicht?”

Der Herr Leutnant will sich aus Ärger darüber, daß er nun doch wieder etwas vergessen hat, auf die Zunge beißen, aber die ist schon so zerbissen, daß es dort keine heile Stelle mehr gibt, und durch einen neuen Biß die kaum vernarbten Wunden der früheren Bisse wieder aufreißen, nee, lieber nicht, oder wie der Berliner sagt, „nich rühr an.”

Und der Herr Hauptmann, der nicht nur seinen Leutnant, sondern auch dessen Gedankengang aus der Ferne beobachtet hat, sagt in diesem Augenblick so liebenswürdig wie nur möglich: „Das richtige militärische Kommando, Herr Leutnant, heißt in diesem Falle „Rührt Euch!”


Fußnoten:

(1) Statt „Anführungskommando” muß es in diesem Text immer heißen: „Ankündigungs­kommando” (Zurück)


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