Vielliebchen.

Militärhumoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Vielliebchen”


Geheimrat Bauer gab eine seiner so sehr beliebten Gesellschaften — man setzte seinen Stolz darin, in dem gastfreien Hause verkehren zu dürfen, zu den Diners herangezogen zu werden, und selbst der mataeriellste Gast gab zu, daß es nicht die hervorragende Küche allein sei, die die Anziehungskraft ausübe, diese lag vielmehr in der Liebenswürdigkeit der Gastgeber, in dem Geschmack und Verständnis, mit dem sie ihr Haus mit Schätzen aus aller Herren Länder angefüllt hatten. Man fühlte sich in einer anderen Welt, wenn man das Haus betreten hatte, das einem Museum glich, und auch die Unterhaltung, die hier geführt wurde, war eine andere, als sie sonst auf Gesellschaften gang und gäbe ist. Nicht als ob die Wirte sich gleichsam als Lehrer aufgespielt und sich bemüht hätten, von ihrem reichen Wissen, von ihre reichen Erfahrungen in belehrender Form mitzuteilen, o nein, aber sie besaßen die Gabe, die Interessen, die ein jeder besaß, zu erkennen, auf diese einzugehen, den Gast zum Sprechen, zum Erzählen zu veranlassen, und sie interessierten sich für alles, was ihre Gäste interessierte, die sie sich aus der großen Zahl derer, die bei ihnen Besuch machten, auswählten.

„Wollte ich alle einladen, so könnte ich jeden Abend eine Gesellschaft geben,” sagte der Geheimrat, „und daraus wird nichts. Wer mir unsympathisch ist, wer von uns weiter nichts wissen will, als nur gut essen und trinken, der findet nicht, was er sucht, der mag ins Restaurant gehen — ich lade nur solche, die um unserer selbst willen kommen.”

Zu diesen letzteren gehörte der Oberleutnant von Goeben. Er war von großer, schlanker Gestalt; dichtes, schwarzes Haar umrahmte das klug und scharf geschnittene Gesicht, aus dem die lebhaften, dunklen Augen häufig schalkhaft lächelnd in die Welt sahen. Er war ein kluger, befähigter Offizier, der mit Auszeichnung die Kriegsakademie besucht hatte und nun voll Ungeduld auf die Einberufung in den Generalstab wartete. Es war ein offenes Geheimnis, daß er sich um die Gunst der einzigen Tochter des Geheimrats bewarb, und auch heute saß er als Tischherr an der festlich geschmückten Tafel zu ihrer Linken. Mita, das einzige Kind ihrer Eltern, zählte zwanzig Jahre, sie war mittelgroß, schlank und graziös, lebhaft und ausgelassen lustig, klug und gebildet und von wahrem Interesse für alles Schöne und Edle erfüllt. Sie besaß einen großen, natürlichen Verstand, den sie durch fleißiges Studium entwickelt hatte, sie liebte es, sich über ernste, gewichtige Dinge zu unterhalten, mit jedem konnte sie, wie sie sich ausdrückte, vernünftig reden, nur nicht mit Goeben. Sobald sie beide neben­einander­saßen, kam bei beiden nur der in ihnen wohnende Humor zum Vorschein und sie scherzten und lachten miteinander, solange sie zusammen waren.

Auch heute war noch kein vernnftiges Wort über ihre Lippen gekommen, und doch näherte sich das Diner seinem Ende, eben wurden die Kristallschalen mit Obst und die Teller mit den Krachmandeln und Rosinen herumgereicht.

„Darf ich Ihnen eine Birne schälen, Herr von Goeben? Die Herren der Schöpfung besitzen ja meist in dergleichen Dingen eine beneidenswerte Ungeschicklichkeit.”

„Warum beneidenswert?”

„Aus dem einfachen Grunde, weil sie dadurch der Versuchung entgehen, sich die Finger zu beschmutzen. Aber wie ist es, darf ich Ihnen eine Birne schälen?”

„Sie sind sehr liebenswürdig, mein gnädiges Fräulein, ich werde mich für Ihre Freundlichkeit dadurch revanchieren, daß ich Ihnen einige Walnüsse und Krachmandeln aufmache.”

„Aber kein Vielliebchen,” bat sie.

„Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, nein.”

Er griff auf gut Glück in die vor ihm stehende Schale, nahm eine Krachmandel, öffnete sie und fand ein Vielliebchen.

„Vielliebchenesser,” neckte sie ihn.

„Mein gnädiges Fräulein,” bat er, „Sie sollten mich wirklich mit diesem Spitznamen, den ich der Bosheit boshafter Menscher versanke, nicht necken. Ein jeder hat bekanntlich sein Kismet, das ihn von der Wiege an begleitet und gegen das er vergebans ankämpft. Mein Kismet ist nun einmal, daß ich stets ein Vielliebchen finde — ich glaube selbst, wenn ich in einen Sack mit Reis hineingriffe, würde ich eine doppelte Krachmandel hervorziehen.”

„Sie sind wirklich zu bedauern,” neckte sie schelmisch.

„Sogar sehr,” bestätigte er ensthaft, „wenn man ein Vielliebchen findet, muß man es auch essen — man ruiniert sich dabei den Magen und den Geldbeutel.”

„Aber Sie gewinnen doch immer?” fragte sie verwundert. „Sie sind doch dafür berühmt, fast hätte ich gesagt berüchtigt, daß Sie jedes, aber auch jedes Vielliebchen gewinnen?”

„Aber man revanchiert sich doch durch einen Blumenstrauß oder etwas Ähnliches, gnädiges Fräulein sollten einmal meine Gärtnerrechnung sehen, von deren Betrag kann eine Familie mit acht Kindern ganz bequem leben.”

„Wie lange?” fragte sie belustigt, „ein Jahr?”

„Na, das nun gerade nicht — aber einen Tag sicher.”

„Sie Armer,” tröstete sie ihn, „aber warum gewinnen Sie denn immer, verlieren Sie doch auch einmal.”

„Ich kann es nicht, gnädiges Fräulein, ich hab's versucht, aber es geht nicht — einmal verlor ich absichtlich, aber statt Dank erntete ich den schnödesten Undank. ,Wenn Sie nicht ernsthaft essen, brauchen Sie überhaupt nicht zu essen', rief mir die junge Dame, die meine Absicht merkte und nach berühmtem Muster verstimmt wurde, zu. Von dem Tage an esse ich wieder ernsthaft und gewine.”

„Leider, leider,” bestätigte sie, „nachgerade weiß man überhaupt nicht mehr, was man Ihnen schenken soll.”

„Am liebsten gar nichts,” gab er zur Antwort, „wenn Sie die Sammlung meiner Vielliebchen­geschenke sehen könnten, Sie würden mich bemitleiden — ich habe mehr bemalte Aschbecher, als mein Bursche in einem Jahr entzwei werfen kann. Seit dem letzten amerikanisch-spanischen Kriege gibt es gar nicht mehr so viel Importzigarren, wie ich in meine Zigarrentaschen stecken kann, selbst einem Rothschild würde es schwerfallen, alle Brieftaschen, die ich besitze, mit Banknoten zu füllen. Um die zahllosen, mit den herrlichsten Blumen und Ranken bemalten Photographierahmen verwerten zu können, habe ich mir einige Dutzend Bilder aus einem Kunstverlag gekauft, und ich müßte nicht wie ein gewöhnlicher Leutnant einen Kopf, sondern wie die Hydra tausend Köpfe haben, wollte ich alle die kleinen ,Wonnepummel', Kopfkissen und Schlummerrollen gebrauchen, die zarte Hände für mich arbeiteten.”

„So sind die Männer,” schalt sie, „statt dankbar zu sein, mokieren sie sich. Ihre Worte bestärken mich aber in meinem Vorhaben, dies Vielliebchen an Sie unter keinen Umständen zu verlieren, ich will gewinnen, verstehen Sie, Herr von Goeben, ich will.”

„Dann muß ich absichtlich verlieren,” gab er zur Antwort.

„Nein, das sollen Sie nicht, versprechen Sie mir, daß Sie sich bemühen werden, zu gewinnen, wie auch ich es tue.”

„Wie Sie befehlen, mein gnädiges Fräulein. Hier sind die beiden unglücklichen Nüsse, wenn denn gegessen werden soll. Was gilt's? ,J'y pense' oder ,Guten Morgen, Vielliebchen?'”

„Was können Sie am besten?” fragte sie lachend.

„Beides gleich gut,” gab er zur Antwort.

Einen Augenblick überlegte sie noch, dann sagte sie: „Das letztemal verlor ich auf ,J'y pense', dieses Mal gewinne ich auf ,Guten Morgen'.”

„Wenn's nur wahr ist,” scherzte er, und auf gegenseitiges Gewinnen stießen sie mit ihren Gläsern an.

*           *           *

Es war, wie gewöhnlich, wieder spät geworden bei Geheimrats, erst nach Mitternacht hatte man sich getrennt, und auch dann waren die Junggesellen noch nicht nach Hause gegangen, sondern hatten noch in einem Restaurant ein Glas Bier getrunken. Als der Bursche des Leutnants von Goeben am nächsten Morgen in das Schlafzimmer seines Herrn trat, um diesen zu wecken, hatte dieser die Empfindung, noch gar nicht geschlafen zu haben.

„Wie spät ist es denn?” fragte er schlaftrunken.

„Fünf Uhr, Herr Leutnant, es ist die höchste Zeit, in einer Stunde marschiert das Regiment ab.”

„Noch fünf Minuten, Peter, nur noch fünf Minuten laß mich schlafen, steck' inzwischen die Kaffeemaschine an.”

„Brennt schon, Herr Leutnant, der Kaffee ist gleich fertig.”

„So hol' die Semmeln und weck' mich, wenn du wiederkommst.”

„Sie sind auch schon da,” gab Peter zur Antwort, „es hilft nichts, Herr Leutnant müssen aufstehen.”

Und Goeben stand auf, widerwillig zwar und scheltend, aber er stand auf, und eine später(1) marschierte er im Regiment zum Tor hinaus zu einer großen Gefechtsübung.

Der Herr Oberst liebte es, sich an der Spitze seines schönen Regiments zu zeigen, und so richtete er es so ein, daß die Rückkehr von der Übung um die Mittagsstunde, in der die Straßen am belebtesten waren, erfolgte. Vor dem Tore erwartete die Kapelle die Truppe, für einen Augenblick wurde noch haltgemacht und der Anzug in Ordnung gebracht, dann hieß es „Regiment antreten”, das Kommando „Bataillon — marsch” erfolgte, die Spielleute schlugen das Locken, die Musik fiel mit einem Marsch ein, und es ging zur Stadt hinein.

Unmittelbar hinter den berittenen Stabsoffizieren und dem Hauptmann der ersten Kompagnie marschierte Leutnant von Goeben am rechten Flügel der ersten Sektion. Er freute sich, daß seine Kompagnie als erste kam, und er hatte den Kapellmeister gebeten, daß die Musik kurz vor dem Hause des Geheimrats, bei dem sie vorbei mußten, mit dem Radetzkymarsch einsetzen sollte. Er wußte, daß Fräulein Mita diesen Marsch liebte, und er wollte ihr eine Aufmerksamkeit erzeigen.

Den ganzen Morgen hatten seine Gedanken mehr bei ihr als bei der Übung geweilt, und immer und immer wieder hatte ihn die Frage beschäftigt: „Wie gewinne ich mein Vielliebchen?” Er wollte, er mußte gewinnen, das sollte ihre Strafe dafür sein, daß sie ihn gestern „Vielliebchenesser” genannt hatte. Er konnte sonst sehr unangenehm werden, wenn man ihn so nannte, ihr gegenüber aber war es etwas anderes, da war er, den man wegen seines Jähzorns oft fürchtete, zahm und sanft wie eine Taube.

Immer weiter ging der Marsch, gleich mußte man das Haus des Geheimrats erreichen, Goeben faßte seinen Säbel, um salutieren zu können, wenn sich einer der Hausbewohner zeigen sollte.

Nun schlugen die Spielleute abermals das Locken, damit der Kapelle das Zeichen zum Einsetzen gebend, der Radetzkymarsch ertönte, und in demselben Augenblick wurden in der Etage die Fenster geöffnet und Mita sah auf die Starße hinab. Freundlich erwiderte sie die Grüße der berittenen Offiziere, nun sah sie auch Goeben und nickte auch ihm zu, aber in derselben Sekunde rief Goeben, mit seiner Stimme die Musik übertönend: „Guten Morgen, Vielliebchen!”

Mita taumelte nicht, sie fiel beinahe vor Schreck zurück, als sie diesen Ruf von der Straße her vernahm, aber sie war nicht die einzige, die erschrak. Als Goeben zur Besinnung dessen kam, was er getan, wie unmilitärisch er sich benommen, wurde ihm gar sonderbar zumute: Alle Stabsoffiziere wandten sich auf ihren Pferden um und sahen ihn an, und diese Blicke weissagten nichts Gutes — aber daß es so schlimm kommen würde, wie es kam, dachte Goeben denn doch nicht.

„Meine Herren!” sagte der Herr Oberst bald darauf auf dem Kasernenhof zu den um ihn versammelten Offizieren, „meine Herren! Vieles habe ich schon erlebt, aber so etwas wie das Benehmen des Herrn Leutnants von Goeben ist denn doch noch nicht dagewesen, solange die Armee besteht, und sie besteht wahrlich nicht erst seit gestern! Herr Leutnant, ich bestrafe Sie mit drei Tagen Stubenarrest, treten Sie den Arrest sofort an.”

Da saß er nun daheim in seinen vier Wänden und dachte über sein Geschick nach — schön war die Sache ja nicht, aber zu ändern war sie ja auch nicht. Der verzeifelten Stimmung, in der er sich zuerst befand, folgte bald ein gewisser Galgenhumor, und in dieser Anwandlung schrieb er an Fräulein Mita nachstehende Zeilen:

Mein sehr verehrtes gnädiges Fräulein!

Ich sagte es ja, daß ich das Vielliebchen gewinnen würde, und ich habe es gewonnen, leider unter für mich traurigen Folgen. Der Oberst hat mich wegen meines Benehmens drei Tage eingesperrt — so kann ich nicht selbst zu Ihnen kommen, um mich zu entschuldigen, daß ich Ihnen so vor aller Augen und Ohren das Vielliebchen abgewann. Immer und immer wieder das Wort ,Vielliebchen', das ich nachgerade hasse! Und nun die Hauptsache, mein gnädiges Fräulein. Sie versprachen, mir keine Handarbeit machen zu wollen, dankbarst erkenne ich das an und bitte Sie flehentlich: schenken Sie mir als Vielliebchen Ihre Hand. Sie müssen es schon lange gemerkt haben, daß ich Sie liebe, und ich glaube nicht fehlzugehen in der Annahme, daß auch ich Ihnen nicht der unsympathischste aller Erdbewohner bin. Sollte meine Annahme richtig sein, so bitte ich Sie: sprechen Sie mit Ihrer Mutter, sprechen Sie mit Ihrem Vater, ich selber kann's ja augenblicklich nicht, und wenn Sie alle drei sagen: ,ja, der soll es sein, kein anderer wird unser Schwiegersohn, kein anderer wird mein Verlobter; dann bin ich der glücklichste aller Menschen, dann hat es sich doch wenigstens einmal gelohnt der Vielliebchenesser zu sein und zu heißen.

Es harrt der Antwort

Ihr ergebenster von Goeben.”

Drei Tage später wurde die Verlobung veröffentlicht, und auch als Ehemann hielt Goeben das Versprechen, das er am Verlobungstage seiner Braut gegeben hatte: er aß nie wieder Vielliebchen.


Fußnote:

(1) Hier fehlt offensichtlich eine Zeitangabe, wahrscheinlich „Stunde” (zurück)


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© Karlheinz Everts