Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Scranton Wochenblatt”, Scranton, Pa, vom 25.6.1903,
in: „Bataviaasch Nieuwsblad” vom 8.7.1903,
in: „Die Fahnenkompagnie” und
in: „Meiers Hose”
Kurt von Bergwitz stand in seinem Wohnzimmer vor dem großen Spiegel und konnte sich an seinem eigenen Bild nicht satt sehen. Vor einer Stunde war er Leutnant geworden, Leutnant in einem der vornehmsten Kavallerieregimenter, und er konnte das Glück noch nicht fassen. Der große Tag, den er herbeigesehnt hatte, seitdem er vor zehn Jahren in das Korps trat, war da, und mit ihm die glänzende Uniform, die er sich natürlich schon als Kriegsschüler hatte machen lassen, und die bisher wohlverwahrt in seinem Schrank gehangen hatte. Nur jeden Sonntag hatte er sie heimlich bei verschlossenen Türen einmal angezogen. Er war sich dann jedesmal beinahe wie ein Sünder vorgekommen, der auf verbotenen Pfaden wandelte, aber jetzt durfte er die Uniform nicht nur tragen, jetzt mußte er sie sogar tragen und zum ersten Mal in seinem jungen Leben, das sich stets nur nach den Befehlen der Höheren gerichtet hatte, empfand er das „Muß” als eine Wohltat, wie eine besondere Gnade des Himmels. Und von neuem betrachtete er sein Bild: die hohen Lackstiefel mit den glitzernden Sporen, die Beinkleider mit der Silberstickerei, die Attila mit dem umgehängten Dolman, und an dem Säbel das silberne Portepee — es war zu schön. Sein jugendfrisches Gesicht, seine schlanke, elastische Figur machten sich in der Paradeuniform ausgezeichnet, und ebenso schön, wie er sich selbst vorkam, lag auch das Leben vor ihm. Einundzwanzig Jahre alt, Offizier, monatlich sechshundert Mark Zulage, im Stall zwei herrliche Pferde, selbst die unsterblichen Götter mußten nach seiner Meinung mit Neid und Mißgunst auf ihn herabblicken. Er gelobte sich im stillen, sich der Auszeichnung, die ihm heute widerfahren, für alle Zeiten würdig zu erweisen, dem Regiment ein tüchtiger Leutnant, seinen Eltern aber ein guter Sohn zu sein, der sparsam mit seinem Geld umging und nie Schulden machte, wenigstens nie mehr, als sein sehr reicher Vater schmerzlos bezahlen würde.
Was Rita wohl sagen würde, wenn sie ihn so sah?
Und von neuem überkam ihn ein heißes Glücksgefühl, er streckte die Arme verlangend und begehrend in die Luft — nur noch kurze Zeit, nur noch wenige Stunden, dann ruhte sie an seiner Brust als seine liebe, kleine Braut, denn heute war nicht nur der Tag, der ihm den Leutnant brachte, heute war auch sein Verlobungstag. Seiner schönen Cousine Rita und sich selbst hatte er es tausendmal geschworen: an dem Tag, an dem ich Offizier werde, halte ich offiziell um deine Hand an, und dann heiraten wir spätestens in einem Vierteljahr. Worauf wollen wir warten? Nur darauf, daß wir älter werden? Ist ja Unsinn, jung gefreit, hat noch niemand gereut. — —
Und heute war nun der große Tag.
Kurt hatte der schwarzäugigen Rita von Anfang an auf Teufelsholen den Hof gemacht. Als er in das Korps nach Lichterfelde kam, hatte sein Vater seinen in Berlin lebenden Vetter gebeten, sich seines Jungen anzunehmen, ihm zu erlauben, sich an den Sonntagen bei ihm satt zu essen, und ihn möglichst so lange bei sich zu behalten, bis er am Abend nach Lichterfelde zurück müsse. Der Vetter war früher selbst Offizier gewesen und wußte aus eigener Erfahrung, wie dankbar Kadetten sind, wenn sich ihnen ein gastliches Haus öffnet. Und so hatte er den Jungen mit offenen Armen und offenem Herzen bei sich aufgenommen. Das war nun schon viele Jahre her, aber Kurt wußte doch noch, daß er schon am ersten Tag sein Herz an Rita verloren hatte. Er glaubte sie zuweilen noch vor sich zu sehen, in einem hellen Sommerkleid, das dichte schwarze Haar aufgelöst, wie sie mit gtoßen Augen den neuen Vetter verwundert anblickte. In ihren Händen hatte sie einen großen Teller belegter Butterbrote gehalten und ihm diese angeboten.
„Cousine, die soll ich alle essen?” hatte er glückstrahlend gefragt. Und als sie ihm dann erzählte, daß sie dem Mädchen geholfen hätte, die Butterbrote für ihn zu machen, da hatte er gesagt: „Das will ich dir nie vergessen, und wenn ich erst Leutnant bin, dann heirate ich dich, und wenn ich dann vom Dienst nach Haus komme, dann machst du mir auch immer belegte Butterbrote, aber ebenso viele wie heute, nicht wahr?”
Es war ihm heiliger Ernst gewesen mit seinen Worten, und er begriff nicht, warum Rita, die allerdings ein Jahr älter war als er, so lustig auflachte. Für einen Augenblick wurde er verlegen, dann aber bot er ihr ritterlich seinen Arm, um sie in eine Laube zu führen, und dort saßen sie lange zusammen und plauderten, und als er endlich abends nach Lichterfelde zurück mußte, hatte er sein Herz definitiv an Rita verloren. Von da an sahen sie sich fast alle acht Tage, er wurde fleißiger, als er es sich je zugetraut hatte, nur um am Sonntag nicht „festzusitzen” und Rita dann nicht sehen zu können, und wenn er einmal eine andere Einladung erhielt, die er absolut nicht abschlagen konnte, dann bat er sie schriftlich in heißen Worten, ihm nicht zu zürnen. Auch in den Ferien schrieb er ihr fleißig und schilderte ihr, wie er sich danach sehnte, sie wiederzusehen — — aber daß die Ferien deswegen schneller zu Ende gingen, wünschte er sich doch nicht.
Die Jahre vergingen, aus dem kleinen Kadetten wurde ein großer Fähnrich, aus dem kleinen Mädchen in den kurzen Kleidern eine auffallend hübsche junge Dame, die auf allen Gesellschaften gefeiert und umschwärmt wurde. Kurt verzehrte sich in Eifersucht, er bat und beschwor sie, alle Einladungen abzulehnen oder wenigstens jedem, der sie anredete, den Rücken zuzukehren. Rita lachte ihn aus, aber wenn sie dann in sein todestrauriges Gesicht sah und ihm anmerkte, wie er mit den Tränen kämpfte, dann nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte: „Du weißt ja, ich habe dich lieb.” Und sie duldete es, daß er dann glückselig die Arme um sie schlang und ihren Mund mit heißen Küssen bedeckte.
Ja, sie hatte ihn lieb, den stolzen, ritterlichen Vetter, der keinen anderen Gedanken hatte, als sie, der ihr wie einer Königin huldigte, der nie kam, ohne ihr eine Blume oder eine kleine Aufmerksamkeit mitzubringen, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Aber es kam doch die Stunde, in der sie erkannte, daß das, was sie für Liebe gehalten hatte, mehr verwandtschaftliche Zuneigung, mehr Freundschaft und Kameradschaft gewesen war. Vor einem Vierteljahr, kurz bevor Kurt von der Kriegsschule zurückkam, hatte sie auf einem Ball einen Ulanenoffizier kennen gelernt — sie hatte ihn früher nie gesehen, nie etwas von ihm gehört, aber als er ihr zum erstenmal gegenüberstand, und als seine hellen Augen mit aufrichtiger Bewunderung auf ihrer Schönheit ruhten, als er sie zum erstenmal ansprach, als sie seine weiche, wohlklingende Stimme hörte, die ihr gegenüber fast demütig klang, da war plötzlich ein ihr bisher unbekanntes Gefühl der Glückseligkeit über sie gekommen, und es war ihr wie ein Traum gewesen, als der Offizier seinen Arm um sie legte und nach den leisen Klängen der Geigen mit ihr dahintanzte. Von dem Augenblick an wußte sie erst, was wirkliche Liebe war, und als Kurt dann eines Tages nach glänzend bestandenem Examen zurückkehrte und sie fragte: „Rita, hast du mich noch lieb?” da hatte sie ihm wie eine Sünderin gegenübergestanden und nicht den Mut gehabt, ihm alles zu gestehen. Um nicht sprechen, um nicht antworten zu müssen, hatte sie den Kopf an seine Brust gelehnt und es geduldet, daß er ihr Haar und ihre Stirn immer von neuem küßte. Auch in Zukunft hatte sie vor ihm Komödie gespielt, und in ihrem Glück — denn sie wußte, daß auch der Offizier sie liebte — quälte sie nur der eine Gedanke, was wird Kurt sagen, der ist imstande, sich ein Leid anzutun.
Ja, wenn Kurt es gewußt hätte, daß Rita sich in der gleichen Stunde, in der er selbst bewundernd vor seinem Spiegel stand, mit dem großen blonden Unlanenoffizier verlobte! Er hätte es ebensowenig geglaubt, als Rita selbst ihr Glück schon hätte fassen können. Sie saß an der Seite des Geliebten und fragte ihn immer und immer wieder: „Ist es wirklich wahr, hast du mich lieb?” Wie im Fluge verging ihnen die Zeit, bis der Diener eintrat und Herrn Kurt von Bergwitz meldete. Erschrocken fuhr Rita empor: „Haben Sie gesagt, daß Besuch hier ist? Nein? So sagen Sie es auch nicht. Bitte, führen Sie den Herrn Leutnant hier herein,” und zu ihrem Verlobten gewandt fuhr sie fort: „Laß mich, bitte, so lange allein, geh zu den Eltern; ich habe dir erzählt, wie ich mit Kurt stehe, ich muß es ihm schonend beizubringen versuchen, daß er mich für immer verloren hat!”
Noch ein flüchtiger Kuß, dann ging Rita dem Eintretenden entgegen. Sie war blaß und zitterte bei dem Geanken an das, was kommen würde. Aber noch blasser als Rita war Kurt, alle Siegesfreudigkeit und alles Selbstbewußtsein war aus seinem Gesicht gewichen.
„Um Gottes willen, wie siehst du denn aus, was ist geschehen?”
Sie erschrak so bei seinem Anblick, daß sie sogar vergaß, ihm zu seiner Beförderung zu gratulieren.
Er wagte sie gar nicht anzusehen, nur flüchtig drückte er ihre Hand, die sie ihm zum Willkommen bot, dann ging er fast wie ein alter Mann mit schweren, müden Schritten zu einem Sessel und ließ sich dort nieder.
„Aber Kurt, so sprich doch — was ist denn geschehen?”
Er begrub das Gesicht in seine Hände und starrte vor sich hin, dann sagte er endlich mit gebrochener Stimme: „Rita, ich hatte mir vorgenommen, es dir schonend beizubringen, ich hatte mir eine lange Rede einstudiert, auf der Treppe wußte ich sie noch, Wort für Wort, aber jetzt in deiner Nähe habe ich sie vergessen. So will ich es kurz machen, ich weiß, du wirst mich verachten, daß ich es dir heute sage, an dem Tag, an dem wir uns verloben wollten — Rita, ich kann dich nicht heiraten.”
„Kurt!”
Sie rief es jubelnd und glückselig, sie sprang auf, um ihn zu umarmen und zu küssen, aber er hatte ihren Ruf falsch gedeutet, er glaubte aus ihrem Aufschrei einen schweren Vorwurf herauszuhören, und er wies sie sanft zurück, als sie sich nach seiner Meinung jetz an ihn klammern wollte, um ihn nicht für immer zu verlieren.
„Rita, hör' mich an, ehe du mich verurteilst! Du weißt, wie ich dich liebe, und wie ich keinen anderen Gedanken hatte, als dich glücklich zu machen. Noch heute morgen, als ich vor dem Spiegel stand, dachte ich nur an dich, nur deinetwegen freute ich mich, daß mir die Uniform so gut stand, und gut steht sie mir, Rita, wenn du gerecht bist, mußt du das auch jetzt eingestehen, obgleich ich dir diesen Kummer bereite.”
„Sehr gut,” sagte sie mit leiser Stimme; sie fürchtete, sich durch ihr Sprechen zu verraten.
Er wagte es immer noch nicht, sie anzusehen. „Rita, ich fühle es dir ja nach, daß es dir unendlich schwer wird, mich zu verlieren, aber es geht nicht anders. Als ich mich vorhin bei dem Oberst meldete, bat ich zugleich um Erlaubnis, mich verloben zu dürfen —”
„Das hast du getan?” fragte sie erschreckt.
„Gewiß, es war meine Pflicht, mein dir gegebenes Wort einzulösen. Das habe ich dem Herrn Oberst auch gesagt, natürlich nannte ich deinen Namen nicht.”
„Und was sagte dein Oberst?”
Kurt wurde glühend rot. „Das — das kann ich dir nicht alles wiedersagen, er hat mich behandelt, als wäre ich ein dummer Junge, er hat mir Dinge gesagt, Dinge, ich hab's bis heute gar nicht gewußt, daß es so etwas überhaupt auf der Welt gibt.”
Er tat ihr aufrichtig leid, wie er ihr so an Leib und Seele gebrochen gegenübersaß, aber sie wollte alles wissen, was die plötzliche Änderung seines Entschlusses herbeigerührt hätte. So sagte sie denn: „Und dadurch hast du dich einschüchtern lassen?”
„Rita, kennst du mich so wenig?” verteidigte er sich stolz, „ich bin Offizier und kein Feigling!”
„Dann verstehe ich dich wirklich nicht.”
„Höre mich weiter,” bat er. „Zuerst hat der Oberst als Vorgesetzter zu mir gesprochen, und ich muß sagen, da habe ich ihn gehaßt, dann aber sprach er als älterer Kamerad zu mir, und da muß ich gestehen: die Art und Weise, wie er zu mir sprach, so herzlich und so freundlich, hat mich beschämt und gerührt. Er sagte mir, ich wäre noch so jung, sowohl als Mensch, wie als Offizier, da dürfte ich nicht in der Übereilung einen solchen Schritt tun, den ich später sicher bereuen würde, ich dürfte mich nicht so früh in Fesseln schlagen lassen, die mich später sicher drücken würden, ich dürfte meine jungen Jahre nicht schon als Ehemann vertrauern, sondern ich müßte erst das Leben genießen, mich austoben, mir die Hörner ablaufen und ein frischer, flotter Reiteroffizier sein, nicht aber ein würdiger Ehemann. Wohl eine halbe Stunde hat er auf mich eingesprochen, dann hat er mir das Versprechen abgenommen, mir seine Worte zu überlegen. Das habe ich auch getan, und ich bin zu der Erkenntnis gekommen, der Oberst hat recht, Rita, ich kann mich nicht so früh binden, ich kann dir meine Jugend nicht opfern, goldene Jahre des Leichtsinns und des Übermuts liegen noch vor mir, laß mich meine Jugend nicht an deiner Seite vertrauern — dies Wort des Kommandeurs will mir nicht aus dem Sinn. Ich habe dich noch genau so lieb, wie früher. Auch du hast mich lieb über alles — gib mir den größten Beweis deiner Liebe und entsage, und ich werde es dir ewig danken. Willst du?”
Wie vorhin er, so hatte sie jetzt das Gesicht in den Händen begraben, sie wagte nicht, ihn anzusehen.
„Willst du?” fragte er noch einmal.
„Ich will,” sagte sie endlich mit leiser Stimme.
Da stand er auf, schloß sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirn.
„Zum letztenmal,” sagte er mit trauriger Stimme.
„Zum letztenmal,” wiederholte sie.
Noch einmal küßte er sie, zum allerletztenmal, dann ging er langsam zur Tür, auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um: „Bist du mir böse?”
„Ich bin nicht böse,” klang es leise zurück, dann schloß sich hinter ihm die Tür.
Am nächsten Tag erfuhr er Ritas Verlobung. „In ihrem Schmerz hat sie sich mit dem ersten Besten verlobt, der gekommen ist,” dachte er. Sie tat ihm aufrichtig leid, aber es verletzte doch ein ganz klein wenig seine Eitelkeit, daß sie sich so schnell für einen anderen entschieden hatte. Das schrieb er ihr auch, und er schloß mit den Worten: „Wenn du mich auch schon vergessen zu haben scheinst, ich werde dich nie vergessen, du warst meine erste, aber auch meine letzte Liebe, und nie, das schwöre ich dir, wird die Stunde kommen, in der ich mein Herz einer anderen schenke.”
Er fand den Brief sehr schön, und es war ihm mit seinen Worten heiliger Ernst, aber nach reiflichster Überlegung riß er den Brief doch wieder durch: man konnte am Ende nicht wissen, wie es noch kam. Und so schickte er Rita denn ein Stadttelegramm: „Werde mit dem anderen so glücklich, wie du es mit mir sicher geworden wärst.”
„Bataviaasch Nieuwsblad” vom 8.7.1903;