Der freche Untertan.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Hamburger Nachrichten”, Belletristisch-Litterarische Beilage, vom 11.1.1903 und
in: „Der Lügenmajor”


Seit einem Vierteljahr führte der neue Oberst nun schon das Regiment, und nach Ansicht seiner Untergebenen war er ein merkwürdig verständiger Beamter, der nur einen einzigen Vogel hatte, nämlich den, keinen Urlaub zu geben. Das war zwar sehr unangenehm, aber da der Kommandeur dienstlich seinen Untergebenen das Leben sehr angenehm machte, so sah man über seine Schwäche hinweg und fand sich ein für allemal mit ihr ab.

Um so größer war das allgemeine Erstaunen, als Leutnant von Wachwitz bei dem Frühstück im Kasino mit lauter Stimme verkündete: „Ich fahre morgen sieben Tage auf Urlaub.”

Alle waren starr, die Botschaft klang so unglaublich, so märchenhaft, daß sie sie nicht zu fassen, nicht zu begreifen vermochten.

Der Oberstleutnant, der als Junggeselle ausschließlich im Kasino verkehrte, hatte sich, wie das ja auch seiner Stellung zukam, als Erster gefaßt und wandte sich nun an den Sprecher: „Sagen Sie mal, Wachwitz, wir sind ja ganz unter uns, und schließlich erfordert es ja auch die Kameradschaft, daß Sie mir die Frage beantworten — wie haben Sie das Kunststück fertig gebracht, Urlaub zu bekommen?”

Wachwitz streifte die Asche seiner Zigarre langsam ab und sagte dann: „Ich habe noch gar keinen Urlaub.”

Ein wahres Hohngelächter erhob sich, aber Wachwitz ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen. „Wer zuletzt lacht, lacht am besten, morgen mittag fahre ich sieben Tage fort, wie ich das Kunststück fertig bringe, weiß ich in diesem Augenblick noch nicht, aber ich bringe es fertig.”

Das klang so ruhig, so siegesgewiß, daß das Lachen verstummte. Man kannte Wachwitz, der führte im Regiment den Beinamen, „der freche Untertan”, und nicht ohne Grund. Er ließ sich nicht nur nicht das Geringste gefallen, sondern er war auch sonst den Vorgesetzten gegenüber von einer Kühnheit, die oft dicht die Grenze der Insubordination streifte.

Wieder herrschte tiefes Schweigen.

„Imstande sind Sie,” meinte endlich ein Kamerad.

„Bin ich auch. Sobald ich meine Zigarre aufgeraucht habe, steige ich in die Gefilde der Seligen. Wenn die Herren hier meine Rückkehr abwarten wollen, werde ich mich freuen, nachher mit Ihnen eine Urlaubsflasche trinken zu können; wir können den Sekt schon kalt stellen lassen.”

Zehn Minuten später stieg Wachwitz die Treppen zum Regimentsbureau hinauf, kühl bis an Herz hinan. Es war eigentlich eine verrückte Idee, auf Urlaub zu fahren; er wußte nicht einmal so recht, bei welchem seiner Verwandten er die bevorstehenden freien Tage verleben sollte, und mit dem Reisegeld war es auch nur mehr als schwach bestellt — na, dafür aber hatte der liebe Himmel den Zahlmeister wachsen lassen. Der Gedanke, zu verreisen, war ihm gestern abend ganz plötzlich gekommen. Wie schon so oft hatte er sich auch gestern, als er ganz allein zu Hause saß, im Geiste eingehend mit seinen Vorgesetzten beschäftigt — das war nach seiner Auffassung sehr viel wichtiger, als wenn die Vorgesetzten sich mit ihm beschäftigten. Mit seinem Hauptmann hatte er angefangen, er hatte sich den Mann gewissermaßen in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, um von neuem zu konstatieren, was eigentlich an ihm dran sei. Dann war der Herr Major an die Reihe gekommen, dann der Herr Oberstleutnant und dann der Kommandeur. Über den hatte er lange nachgedacht und sich endlich gesagt: daß der keinen Urlaub gibt, ist eine Marotte, die man ihm abgewöhnen muß, und wenn einer dies fertig bringt, bin ich es. Verschieben wir nicht auf übermorgen, was wir morgen tun können, ich werde einmal mit dem Manne reden, ich bin es mir selbst schuldig, daß ich morgen mittag sieben Tage Urlaub habe, ich würde mein ganzes Vertrauen auf meinen Einfluß auf die Vorgesetzten verlieren, wenn es anders würde.

So stieg er denn jetzt in aller Gemütsruhe die letzte Treppe hinauf und öffnete gleich darauf die Tür zu dem Vorzimmer, in dem der Regiments­schreiber mit seinen Hilfsschreibern saß. Als Wachwitz eintrat, erklang aus dem Zimmer nebenan die laute und scheltende Stimme des Herrn Oberst, der sich seinen Adjutanten vorgebunden zu haben schien.

Einen Augenblick horchte Wachwitz, dann wandte er sich an den Regiments­schreiber: „Die Stimmung nebenan ist heute wohl nicht besonders?”

Der Unteroffizier sprang in die Höhe und legte den Finger auf den Mund: „Um Gottes willen, Herr Leutnant, nicht so laut — wenn der Herr Oberst uns hört! Was da nebenan herrscht, ist schon überhaupt keine Stimmung mehr. Die Strafbücher der Kompagnien sind von der Division zurückgekommen, und Exzellenz hat seine Monita gleich mitgeschickt, und das kann ich dem Herrn Leutnant nur sagen, solchen Haufen von Monita habe ich auf einmal noch nicht gesehen, und daß unser neuer Herr Oberst so gräßlich fluchen kann, habe ich überhaupt nicht für möglich gehalten.”

„Na, er wird sich schon wieder beruhigen,” tröstete Wachwitz den verzagten Schreiber, der anscheinend auch schon eine gehörige Portion Grobheiten zu hören bekommen hatte. „Jetzt gehen Sie mal hinein und melden Sie mich an.”

Der Unteroffizier glaubte nicht richtig verstanden zu haben, er deutete mit dem rechten Zeigefinger auf die geschlossene Tür und fragte nur: „Da?”

„Wo denn sonst? Natürlich da.”

Der Unteroffizier schüttelte unmerklich den Kopf, dann nahm er allen Mut zusammen und öffnete die Tür; mit einem „Kreuzhimmel­donnerwetter” wurde er empfangen, und ein „Kreuz­himmel­donnerwetter” folgte ihm, als er wieder zurückkam. Er atmete ordentlich erleichtert auf, als er sich endlich dem Leutnant wieder gegenüber befand.

„Gott sei Dank, daß ich wieder draußen bin, der Herr Oberst sind natürlich für den Herrn Leutnant nicht zu sprechen, der Herr Oberst haben keine Zeit, der Herr Leutnant möchten morgen oder übermorgen wiederkommen.”

„Aber ich denke ja gar nicht daran,” meinte Wachwitz, „ich werde doch nicht zum Spaß hier die Treppen emporgestiegen sein. Wenn der Herr Oberst keine Zeit hat, mag er sich mit mir trösten, ich habe auch keine Zeit. Bitte, melden Sie das dem Herrn Oberst und sagen Sie ihm, ich wünschte ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.”

Der Unteroffizier sperrte Mund und Nase auf: „Was? — — Ich soll da noch einmal hineingehen?” Und abermals zeigte er mit dem Finger auf die verschlossene Tür.

„Na natürlich — — — warum denn nicht?”

Der Schreiber kratzte sich nachdenklich mit der Rechten hinter dem Ohr: „Herr Leutnant, ich glaube, ich werde hinausgeworfen.”

„Na, wenn schon,” tröstete ihn Wachwitz, „wäre es das erste Mal?”

Der Unteroffizier dachte einen Augenblick nach: „Das nun gerade nicht, aber — — —”

„Na also, dann sind Sie ja Kummer und Elend gewöhnt, nur Mut.”

Zögernd schritt der Unteroffizier zur Tür, es blieb ihm ja auch schließlich nichts anderes übrig, als den Befehl des Vorgesetzten auszuführen, aber auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen: „Herr Leutnant, ich bin da schon oft hineingegangen, aber so wie heute hat es da drin selbst unter dem vorigen Herrn Oberst noch nie getobt.”

„Lassen Sie es weiter toben.”

Der Unteroffizier machte den letzten Versuch, das Herz des Vorgesetzten zu rühren: „Herr Leutnant, ich möchte nicht gern, daß meine Kapitulation aufgehoben wird, ich bin verheiratet — —”

„Ich nicht,” unterbrach ihn Wachwitz gelassen, „aber nun haben Sie bitte die Güte —” und mit der ausgestreckten Rechten wies er nach der Tür.

Noch einmal schöpfte der Schreiber tief Atem, dann verschwand er. Als er zurückkam, war er ganz blaß.

„Aber Mann, wie kann man nur — —”

Der Unteroffizier machte ein Gesicht, das da deutlich sagte: „Wir beide sprechen uns nachher wieder,” dann öffnete er abermals die Tür: „Der Herr Oberst lassen den Herrn Leutnant bitten.”

„Das heißt: ,bitten' lasse ich Sie absolut nicht,” empfing der Oberst, der die letzten Worte gehört hatte, den Eintretenden. „Ich habe Sie sogar bitten lassen, mich nicht zu stören, aber wenn es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt, wie Sie mir sagen ließen, da muß ich Sie ja annehmen. Was führt Sie zu mir?”

„Ich bitte den Herrn Oberst ganz gehorsamst um sieben Tage Urlaub.”

Der Kommandeur war, während er vorhin sprach, mit großen Schritten im Bureau auf und ab gegangen, jetzt blieb er spötzlich wie vom Schlage getroffen stehen und starrte den Sprecher mit großen Augen an.

Endlich hatte er sich wieder gefaßt: „Was wollen Sie?”

„Sieben Tage Urlaub, Herr Oberst.”

Der Kommandeur stand noch einen Augenblick unbeweglich, dann lachte er plötzlich laut auf und wandte sich an seinen Adjutanten: „Haben Sie es gehört? Der Wachwitz will Urlaub haben . . . Urlaub . . . noch dazu sieben Tage . . . ist die Möglichkeit . . . warum nicht gleich vierzehn Tage?”

Auf diese Frage war jede Antwort überflüssig, das wußte Wachwitz ganz genau, trotzdem sagte er: „Wenn ich mehr Urlaub wünschte, würde ich mehr erbitten.”

Der Oberst schien diese Worte gar nicht gehört zu haben: „Ist die Möglichkeit,” fing er abermals an, „sieben Tage Urlaub! Meinetwegen hätten Sie auch gleich drei Monate erbitten können, denn ich bewillige Ihnen keinen einzigen Tag. Ich danke.”

Leutnant von Wachwitz war entlassen, aber er ging nicht.

„Ich danke,” wiederholte der Herr Oberst, aber Wachwitz ging noch nicht.

„Ich habe Ihnen bereits zweimal gedankt, Herr Leutnant, wenn ich Ihnen zum drittenmal danken muß, dann werde ich grob, oder wollen Sie noch etwas?”

„Zu Befehl, Herr Oberst, ich wollte den Herrn Oberst ganz gehorsamst bitten, mir den Grund zu nennen, der den Herrn Oberst veranlaßt, mir den Urlaub abzuschlagen.”

Abermals glaubte der Kommandeur nicht richtig gehört zu haben. „Was wollen Sie? Sie wollen den Grund wissen, weshalb ich Ihnen keinen Urlaub gebe? Aus dem einfachen Grunde, weil ich nein sage, das ist Grund genug.”

„Verzeihung, Herr Oberst,” klang es gelassen zurück, „das ist kein Grund, — — das „Nein” hat seinen Grund in einem Grund, den ich mir ganz gehorsamst zu nennen bitte.”

Völlig fassungslos ließ der Kommandeur sich auf einen Stuhl fallen und sah den Sprecher an, dann wandte er sich abermals an seinen Adjutanten: „Haben Sie gehört — Wachwitz verlangt, daß ich ihm den Grund nenne, weshalb ich ihm den Urlaub verweigere. Ist so etwas überhaupt schon dagewesen, solange die Armee existiert? Sie verdienten, daß ich Sie einsperre, Herr Leutnant!”

Aber diese Drohung machte auf Wachwitz nicht den leisesten Eindruck, er war noch nie eingesperrt worden und wußte auch, daß es nie dahin kommen würde. Er gab hierzu keine Veranlassung.

„Stehen Sie immer noch da?” nahm der Oberst nach einer kleinen Pause das Wort, „Sie sehen, ich bin beschäftigt. Ich kann Ihnen den Grund, der mich veranlaßt, Ihre Bitte abzulehnen, nicht nennen. Ich hoffe, das genügt Ihnen.”

„Gewiß, Herr Oberst, das genügt mir, denn ich weiß, daß der Herr Oberst mir den Grund nennen würden, wenn der Herr Oberst es könnten.”

Das waren dieselben Worte, die der Herr Oberst selbst gebraucht hatte, aber aus dem Munde des Untergebenen klangen sie ganz anders, sie sagten klar und deutlich: Mein Herr, Sie können nur deshalb den Grund nicht nennen, weil Sie ihn selbst nicht kennen.

Das hörte der Kommandeur auch deutlich heraus, und wohl eine Minute saß er starr und unbeweglich und sah seinen Untergebenen an: aus dessen Zügen sprach eine geradezu klassische Ruhe, seine Augen ruhten durchdringend auf dem Vorgesetzten und trafen den bis in das innerste Herz. Der Kommandeur merkte: er war durchschaut, — erst wurde er verlegen, dann hielt er den Blick seines Untergebenen nicht mehr aus, weil er sich schämte, und schließlich wandte er sich ab und machte sich in den Akten, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zu schaffen.

Wachwitz erriet, was in dem Vorgesetzten vorging, er wußte, daß der Oberst sich jetzt im stillen sagte: Wenn der Mann auf seinem Urlaub besteht, kannst du ihm denselben gar nicht verweigern, aber nie und nimmer wirst du das zugeben.

Das alles wußte Wachwitz, und deshalb nahm er jetzt allen Mut zusammen: wenn der Oberst ihm den Urlaub nicht gab, dann mußte er ihn sich selbst geben, und so sagte er denn jetzt: „Ich melde mich ganz gehorsamst von morgen mittag ab auf sieben Tage beurlaubt.”

Als Wachwitz diese Worte gesprochen hatte, hätte er beinahe selbst einen Schreck bekommen. Für einen Augenblick herrschte wahre Totenstille im Zimmer, dann sagte der Kommandeur, ohne seinen Untergebenen anzusehen: „Ich danke.”

„Ich danke auch gehorsamst, Herr Oberst.”

Als Wachwitz aus dem Bureau heraustrat, sah sein Gesicht genau so gleichgültig aus wie vorhin, so daß der Schreiber seinen Augen nicht traute. Und die Kameraden trauten ihren Ohren nicht, als er ihnen das Resultat seiner Unterredung mitteilte.

Während unten im Kasino die erste Urlaubsflasche entkorkt wurde, saß der Herr Oberst immer noch in tiefen Gedanken. Er hatte zum erstenmal einem Untergebenen nicht imponiert, und das war im Interesse der Disziplin und der Subordination sehr zu beklagen. Aber noch viel trauriger war es, daß der Untergebene mit seiner kolossalen Frechheit ihm imponiert hatte. Klug, wie er war, sah er voraus, daß es auch in Zukunft so bleiben würde.

Der Herr Oberst war ein mutiger Mann, er hatte im letzten Feldzug mit Auszeichnung gekämpft und das Eiserne Kreuz erster Klasse schmückte seine Brust, an Mut fehlte es ihm nicht, aber er wagte es doch nicht, sich die Frage zu beantworten: wie oft wird Wachwitz fortan auf Urlaub gehen?


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