Gestatten Sie . . . . .?

Eine Reiseunsitte.
Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Berliner Tageblatt” vom 11.Juli 1906,
in: „Berliner Volks-Zeitung” vom 12.Juli 1906 und
in: „Czernowitzer Tagblatt” vom 15.7.1906.


Wieder hat die allgemeine Reisezeit begonnen, und da soll einmal von einer Reiseunsitte gesprochen werden, die, soviel ich in aller Herren Ländern beobachtete, nur dem Deutschen eigen ist. Ich meine die Angewohnheit, sich jedem Menschen gleich vorzustellen.

Ich sitze im Coupé und rauche eine Zigarre. Mein Gegenüber sucht in allen seinen Taschen nach einem Streichholz, um seine kalt gewordene Zigarre wieder anzuzünden. Gar zu gern würde er mich um Feuer bitten; aus irgendeinem Grunde geniert er sich. Endlich halte ich ihm ein Zündholz hin: „Darf ich Ihnen Feuer anbieten?” „Ach, Sie sind wirklich sehr liebenswürdig, ich danke Ihnen sehr; gestatten Sie, mein Name ist Müller, Ingenieur!” Und wenn ich dann nicht gleich sage, wie ich heiße, dann fragt mich mein Gegenüber: „Darf ich um Ihren werten Namen bitten?” Und sehr häufig folgt dann auch noch ein Austausch der Karten.

Nun frage ich einen erwachsenen Menschen: muß ich denn absolut wissen, daß mein Gegenüber Müller heißt? Bin ich glücklicher, daß man mir einen Namen nennt, bei dem ich mir gar nichts denken kann? Und muß ich auf der anderen Seite dafür, daß ich ein Streichholz annehme, gleich erfahren, wer der freundliche Geber ist, wie er heißt, welchen Beruf er hat, und wo er geboren wurde? Als ich kürzlich in Berlin war, mußte ich wegen Ueberfüllung des Hotels ein Pensionat aufsuchen. Am nächsten Morgen dauerte es sehr lange, bis das Mädchen das Frühstück in das Speisezimmer brachte; ich wurde ungeduldig und klingelte lebhaft. Da ertönte hinter einer Zeitung hervor eine Stimme: „Ja, ja, die Bedienung ist hier nur mangelhaft; gestatten Sie, mein Name ist Schröder, Kaufmann, Stettin!”

Ich fühlte mich nicht veranlaßt, mich gleich wieder vorzustellen, aber der andere ließ nicht locker, bis er wußte, wer ich war, und dann begann die Unterhaltung: „Ich habe schon einmal einen Herrn Ihres Namens kennen gelernt; wohl ein Verwandter von Ihnen? Ein Bruder?” „Nein, ein Vetter.” „Ach, das ist ja sehr interessant!” Warum das interessant war, wußte Herr Schröder, Kaufmann, Stettin, wahrscheinlich selbst nicht. Ich floh davon und hörte nur noch die Worte: „War mir sehr interessant, Ihre Bekanntschaft zu machen!”

Dieses Sichgegenseitigvorstellen ist geradezu eine Krankheit der Deutschen. Keinem Engländer oder Amerikaner wird es je einfallen, seinem Nachbar bei Tisch oder in der Bahn gleich seinen Namen zu nennen. Ich habe auf einer Orientreise wochenlang vom Morgen bis zum Abend mit Amerikanern verkehrt und weiß heute noch nicht, wer sie waren, will es auch gar nicht wissen, weil es doch ganz gleichgültig ist, ob der Mann nun Smith oder Parker oder sonst wie hieß, es genügt doch vollständig, daß er ein netter, liebenswürdiger Gesellschafter ist. Kaum eine Familie kommt von ihrer Reise zurück, ohne sich nicht darüber zu beklagen, daß sie irgend jemand kennen lernte, der ihr irgendwie die Reise verdarb: „Das war ein ganz unausstehlicher Mensch!” Wer ist schuld daran, daß die Reise verdorben wurde? Nur die Familie selbst! Warum stellt sie sich gleich am ersten Mittag an der table d'hôte ihrem Nachbar vor? Warum möchte sie gleich wissen, wer er ist? Warum geht sie gleich mit ihm auf Suche nach gemeinsamen Bekannten aus? Warum ist sie entzückt, wenn Herr A. auch Fräulein K. kennt, und warum ist ihr Fräulein S. nur deshalb gleich so sympathisch, lediglich weil sie auch Fräulein K., die gemeinsame Bekannte, kennt? Wenn wir im Anfang gleich so intim sind und so tun, als ob wir nicht leben können, ohne alle Leute im Hotel persönlich zu kennen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Zudringlichkeiten und Vertraulichkeiten die Folge sind, und wenn es uns dann nicht gelingt, die Leute wieder abzuschütteln. Vor dieser unserer „Vorstellungs­krankheit” haben die anderen Nationen geradezu Angst. So kommt es, daß in den meisten Hotels die Amerikaner und Engländer nicht an der gemeinsamen Tafel, sondern an kleinen Extratischen speisen. Nicht etwa, als ob sie sich nicht gern an der Unterhaltung beteiligen würden, aber sie haben Angst vor dem ewigen: „Gestatten Sie, mein Name ist H.!” und vor dem Ausfragen nach der eigenen Person, das diesen Worten folgt. Stellt sich aber ein Deutscher trotzdem einem Amerikaner oder Engländer vor, so kann er sicher sein, daß der ihn verständnislos ansieht und gar nicht weiß, was der will. Die Amerikaner sind trotz ihrer freien Gesinung in vieler Hinsicht auf ihren Namen viel zu stolz, um ihn jedem ersten besten zu nennen, und sie denken nicht daran, gänzlich Fremden von ihrer Familie zu erzählen. Wer kennt nicht das Lustspiel: „Der blinde Passagier”, und wer hat nicht schon Tränen über den Bellermann gelacht, der fortwährend herumläuft und Menschen sucht. denen er sich noch nicht vorstellte? Man hält die Figur für eine Uebertreibung, und doch ist jeder reisende Deutsche ein Bellermann — er reist nicht nur, um die Natur zu bewundern, sondern in erster Linie auch um Bekanntschaften zu machen. Er wartet nicht, bis ihm nette Menschen zufällig in den Weg laufen, er sucht sie mit aller Gewalt und wird dadurch den anderen lästig. Und was hat man von dem ewigen: „Gestatten Sie? Mein Name ist H.!”? Man hört Namen und hat nur Aerger und Verdruß, wenn man sich bei späterer Begegnung nicht mehr darauf besinnen kann, daß man sich Herrn A. in Karlsbad und Herrn B. in Konstantinopel vorstellte.

Seit einigen Wochen lebe ich vorübergehend in einer großen Pension in Dresden. Die Passanten gehen wie in einem Taubenschlag ein und aus, und ich habe mir ein- für allemal verbeten, mich den Neuankommenden vorzustellen. Zuerst begriffen die anderen Pensionäre mich nicht; jetzt fangen sie an, meinem Beispiel zu folgen. Was soll es, daß ich mich heute einem Menschen vorstelle, von dem ich nichts weiß, nicht einmal ob er unter seinem wahren Namen wohnt — einem Menschen, den ich vielleicht im ganzen Leben nicht wiedersehe. Kann man sich denn nicht auch so für einige Stunden mit ihm unterhalten? Man macht uns Deutschen sehr oft den Vorwurf, zu vertrauensselig zu sein, und wir schelten, wenn man unser Vertrauen mißbraucht, oder wenn wir Enttäuschungen erleben. Schuld haben wir selbst daran. So manche Enttäuschung, so manche trübe Reiseerinnerung könnten wir uns ersparen, wir würden um so interessantere und nettere Bekanntschaften machen, wenn wir uns nicht immer selbst aufdrängten, wenn wir nicht beständig herumliefen: „Gestatten Sie? Mein Name ist Bellermann!”


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