Um Ehre.

Erzählung von Freiherrn von Schlicht.
in: „Um Ehre.”.


Wir waren im Schauspielhaus gewesen und hatten „Die Ehre”(1) gesehen, nicht zum erstenmal in unserm Leben, aber dennoch standen wir alle unter dem Eindruck, den das Schauspiel von neuem auf uns gemacht hatte. So war es natürlich und selbstverständlich, daß das Gespräch sich, als wir in einem Restaurant uns zum Abendessen vereint hatten, um die in der „Ehre” aufgeworfenen Fragen drehte.

„Sühnt Graf Trast seine Schuld dadurch, daß er in einem neuen Lande ein neues Leben beginnt?” das war der Kardinalpunkt unserer Erörterungen. „Kann ein Mensch, der sein Ehrenwort brach, jemals wieder in den Besitz seiner Ehre gelangen? Wer giebt sie ihm zurück? Er sich selbst oder seine Mitmenschen? Kann er sich selbst zurückgeben, was er an einen andern verlor, und kann ein andrer einem Mann das zurückerstatten, was schließlich doch in der Einbildung und in der Phantasie eines jeden etwas ganz Verschiedenes ist?”

„Na, da wären wir ja wieder auf dem Ausgangspunkt unseres Gesprächs angelangt,” bemerkte ein Großkaufmann, der zwar kein ständiges Mitglied, aber ein gern gesehener und häufiger Gast an unserem Tische war. „Lassen wir den Disput fallen, wir einigen uns doch nicht, und zwar aus denselben Gründen nicht, die es dem Dichter unmöglich gemacht haben, eine, wie ich so sagen darf, ganz individuelle Frage ganz allgemein zu beantworten. Ein jeder Stand hat seine Ehre; bei dem einen wirkt sie etwas zu wenig, bei dem andern etwas zu viel.”

„Das ist nicht möglich,” rief man dagegen, „ein Zuviel ist in diesem Falle undenkbar. Die Ehre ist wie ein blanker Spiegel, der leiseste Hauch macht sie trübe wie diesen.”

„Gewiß, gewiß,” bestätigte der Kaufherr, „ich bin ganz Ihrer Ansicht, ich habe mich also entweder falsch ausgedrückt, oder Sie, meine Herren, haben mich nicht richtig verstanden. Ich wollte sagen: nach meiner Meinung wird zuweilen von der Ehre und den damit verbundenen Begriffen zu viel gesprochen und geredet. Und wie die Frau nach dem Wort des Dichters die beste ist, von der man gar nicht spricht, so ist, denke ich, auch die Ehre, von der viel Aufhebens gemacht wird, nicht immer gerade die beste. Das klingt hart, soll aber für den Offiziersstand, dem auch ich angehörte, bevor ich Kaufmann ward, nicht der geringste Vorwurf sein. Wie oft hört man nicht von Verstößen, die gerade die sogenannten ,Träger der Ehre' sich gegen dieselbe haben zu schulden kommen lassen! Ich glaube, das liegt zum größten Teil daran, daß in dem Offiziersstand die Ehre zu häufig als etwas Aeußerliches betarchtet wird, das wahre Gefühl hierfür erstirbt zuweilen durch die ewigen Vorlesungen und Besprechungen über Ehre und Ehrengerichte. Auch vor dem Heiligsten verliert man schließlich die Ehrfurcht, wenn es uns zu oft vor Augen geführt wird und alles und jedes, das man nicht in seiner Gesamtheit auf uns wirken läßt, sondern das man uns in lauter Partikelchen vorzeigt, verliert den größten Teil der Ehrfurcht, die es uns sonst einflößen würde. So geht es nach meiner Meinung in dem Offiziersstande mit der Ehre — gewiß, man hört ja oft genug, daß ein Offizier aus diesem oder jenem Grunde zur Waffe greift, um entweder sich selbst, wenn er aus eigener Schuld seine Ehre verlor, oder den Räuber seiner Ehre zu töten, aber ich glaube, daß dieses dann mehr einem Wink ,von oben' als eigener Initiative entspringt.”

Der Großkaufmann schwieg; sprachlos hatten wir ihm alle zugehört. Nun erhob sich aber ein solcher Widerspruch und eine so heftige Widerrede, daß nicht einer den andern verstand. Wir waren entrüstet und empört über die soeben vernommenen Ansichten.

„Und doch halte ich meine Behauptung aufrecht,” bemerkte der Kaufherr, als der erste Sturm sich gelegt hatte. „Ich bin ein alter Mann und habe viele sterben sehen, auch manchen, der seiner Ehre wegen zur Waffe griff. Keinen von diesen aber sah ich gern sterben, und doch müßte dies wenigstens der Offizier thun, für den die Ehre doch das Höchste sein soll; hat er diese verloren, so ist sein Leben doch kein Leben mehr. Sie sterben, weil sie nach dem Ehrenkodex sterben müssen; einige wenige handeln wie Graf Trast und bleiben am Leben — ehrlos oder nicht, das sei dahingestellt —, freiwillig aber stirbt keiner, nur in Romanen steht die Ehre höher als das Leben, in der Wirklichkeit ist es anders.”

Wieder erhob sich ein Schrei der Entrüstung, aber ruhig ließ der Kaufmann die Vorwürfe über sich ergehen. „Ja, meine Herren,” bemerkte er schließlich, „ich will mich ja mit Freuden überzeugen lassen, daß ich mich irre; bitte, überzeugen Sie mich von dem Gegenteil meiner Behauptung — aber, bitte, nicht mit Redensarten, sondern durch Anführungen von Thatsachen, — ich will bescheiden sein, eine einzige soll mir genügen. Wer von Ihnen kann mir eine anführen?”

„Ich, ich, ich!” rief es von allen Seiten, und wir, Juristen, Offiziere, Aerzte, kurz Vertreter verschiedener Stände begannen Beispiele zu erzählen, die wir entweder selbst an Freunden und Bekannten erlebt oder die wir aus drittem Munde vernommen hatten. Aber je mehr ein jeder von uns sich dem Kardinalpunkt seiner Erzählung näherte, desto langsamer flossen die Worte, denn überall kam ein „Muß” zum Vorschein, ein „Muß”, das den Tod diktiert hatte; freiwillig — ja, freiwillig war keiner von allen, die wir kannten, für seine Ehre gestorben. Entweder hatte ihn der Fluch der Eltern, oder drückende pekuniäre Verhältnisse, oder die Furcht vor einer gesetzlichen Strafe, oder sonst ein äußerer Umstand in den Tod getrieben, — wirklich freiwillig war keiner gegangen.

Uns überkam eine förmliche Wut, daß wir den Kaufherrn nicht von der Grundlosigkeit seiner Behauptungen überzeugen konnten, wir hätten ihn in der Stimmung, in der wir uns befanden, ermorden können, wir wollten die Ehre eines von ihm beleidigten Standes retten und vermochten nicht einmal das einzige von ihm verlangte Beispiel anzuführen.

„Und doch haben Sie Unrecht!” rief endlich einer von uns; „wenn uns auch augenblicklich kein Beispiel einfällt, das Ihre Behauptung hinfällig macht, so giebt es deren doch Tausende und Abertausende.”

Wir stimmten dem Sprecher lebhaft zu, aber vergebens strengten wir von neuem unser Gedächtnis an, um auch nur ein einziges Beispiel anzuführen. Wir wurden stiller und immer stiller, schließlich sprach keiner mehr von uns, wir hatten den Kopf in die Hand gestützt und sannen und sannen.

„Nun, geben Sie mir endlich recht?” fragte der Kaufmann.

„Nein und abermals nein!” riefen wir ihm entgegen.

„Und sie thun recht daran, meine Herren,” sprach da plötzlich eine Stimme. Wir sahen auf und bemerkten die aufgerichtete, stolze Gestalt eines Herrn, der bisher am Nebentisch gesessen hatte und anscheinend anteilslos unserer Unterhaltung gefolgt war. Auf den ersten Blick erkannte man an der geraden Haltung, dem militärisch geschnittenen Haupthaar und dem Schnurrbart den früheren Offizier, und als Major z. D. von Sch. stellte er sich uns vor. Wir Jungen sprangen auf, um dem älteren Kameraden einen Platz einzuräumen, den dieser auf unsere Bitten einnahm.

„Meine Herren,” begann er, „ich bitte um Verzeihung, daß ich mich, von Liebe und Verehrung für den Stand, dem ich noch anzugehören die Ehre habe, hingerissen, in Ihre Unterhaltung gemischt habe. Ich sehe Ihnen an, Sie wollen die Geschichte, die mich veranlaßte, Ihnen beizustimmen, erfahren. So hören Sie denn:

Es sind schon etwa fünfzehn Jahre her. Ich stand damals als aktiver Oberleutnant in der Stadt Z. in Garnison — Sie werden es mir nicht verdenken, meine Herren, wenn ich Ihnen die Namen der handelnden Personen und der Ortschaft nicht nenne. Es war ein gutes Regiment, in dem ich stand, das Offizierscorps ritterlich , liebenswürdig, gut erzogen und von einer wirklich hervorragenden Gesinnung beseelt. Die Kameraden waren, wie man zu sagen pflegt, alles liebe, nette Kerle, nicht ein einziger, der die stets herrschende Harmonie durch seine Ansichten oder sein Benehmen gestört hätte; sie waren alle nett, aber der scharmanteste von allen zusammen war nach dem übereinstimmenden Urteil des ganzen Regiments der kleine Paul.

Als er sich uns zum erstenmal vorstellte — er war aus dem Kadettencorps als Leutnant in unser Regiment gekommen — mußten wir uns zusammennehmen, um bei seinem Anblick nicht laut aufzulachen. Er war noch ein Kind, achtzehn Jahre alt, hell und blauäugig, von kräftiger, aber für einen Offizier fast zu kleiner Gestalt. Aus seinem frischen, unverdorbenen Gesicht sprach eine solche Kindlichkeit und Unerfahrenheit, daß der kleine Paul auf uns den Eindruck eines in Uniform gesteckten Knaben machte.

,Und der soll nun meine Rekruten exerzieren,' stöhnte sein Hauptmann; ,na, das wird nett werden, und ich kann die ganze Arbeit wieder allein machen. Die Kerls lachen ihn ja aus, wenn er vor der Front steht!'

Aber die Kerls lachten ihn nicht aus, und auch wir fanden schon nach vierundzwanzig Stunden an dem kleinen Kameraden nichts Lächerliches mehr. Der kleine Paul, das merkten wir sofort, war zwar äußerlich noch ein Kind, aber sonst ein Jüngling mit eisernen Grundsätzen, der ganz genau wußte, was er wollte, der das Ziel, das er sich selbst gesteckt, fest und unentwegt im Auge behielt, und der mit nicht nachlassender Energie durchsetzte, was er sich vorgenommen.

Sein Charakter war in der Schule des Lebens, die er schon hatte durchmachen müssen, bevor er zu uns kam, gestählt worden. Er war der einzige Sohn seines als Hauptmann frühzeitig verabschiedeten Vaters. Als dieser kurz nach der Verabschiedung starb, stand die Mutter fast mittellos da; die geringe Pension war das einzige, das ihr zum Leben blieb; das Kommißvermögen, das sie bei der Verheiratung eingebracht hatte, war im Laufe der langen Leutnantsjahre aufgezejrt worden.

Die Mutter versuchte die wenigen Groschen, die ihr zur Verfügung standen, zu recken und zu strecken, aber selbst bei dem besten Willen reichten die Mittel nicht. Ein Stück der Einrichtung nach dem andern wanderte ins Pfandhaus; sie wollte ja gern alles entbehren und auf alles verzichten, wenn sie nur ihrem einzigen Kind eine gute Erziehung zu teil werden lassen konnte. Der kleine Paul, wie er schon im Elternhause hieß, sollte etwas Tüchtiges lernen, dann konnte er werden, was er wollte, nur nicht Offizier; nie, nie, schwur sich die Mutter, würde sie hierzu ihre Einwilligung geben. Aus dem Leben ihres Gatten wußte sie, wie leicht oft eine anscheinend glänzende Carriere plötzlich und unerwartet beendet wird. Und was dann? Wie schwer ist es nicht für einen verabschiedeten Offizier, irgend welche lohnende Beschäftigung zu finden!

So dachte die Mutter. Und doch sollte ein Tag ihre Ansichten völlig ändern, jener Tag, an dem man ihr den Knaben ohnmächtig aus der Schule nach Haus brachte. Fast besinnungslos warf sie sich neben dem Lager ihres Sohnes nieder, und verzweifelt rang sie die Hände, als der schnell herbeigeholte Arzt ihr das Ergebnis seiner Untersuchung mitteilte: ,Schwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung oder durch Hunger.' Sie schauderte zusammen, als sie dieses Wort hörte, sie kannte dessen ganze schreckliche Bedeutung aus eigener Erfahrung; wie oft war sie nicht hungrig vom Tisch aufgestanden, nur damit die Speisen für ihren Liebling reichten! Wie hatte sie nicht gearbeitet, sich nicht gesorgt und gemüht, um den schrecklichen Gast von ihrer Schwelle fernzuhalten! Umsonst war ihr Ringen gewesen, die Not hatte sie überwunden und war leise und unhörbar in ihre Behausung eingedrungen, hatte sich dort eingenistet in allen Winkeln und Ecken, und keine Arbeit und kein noch so heißes und inbrünstiges Gebet hatte sie wieder verscheucht.

Sie hatte gehungert — aber nicht sie allein, auch ihr Kind, das sie über alles leibte. Nie war ihr der Gedanke heran gekommen, nie, niemals hatte er geklagt, stets hatte er auf ihre Fragen, ob er gesättigt sei, mit einem Scherz geantwortet, und fast täglich hatte er von den Speisen, die sie ihm vorgelegt, noch etwas übrig gelassen. Und nun war der Körper ihres Kindes zusammengebrochen vor Hunger!

Hilfe, schnelle Hilfe mußte gebracht werden. Der alte Medizinalrat mochte wohl mit scharfem Blick die ganze Sachlage überschaut haben, denn anstatt zu schelten, begann er zu trösten und zu raten. Der Sohn mußte aus dem Haus, der Mutter mußte die Last der Erziehung ihres Kindes abenommen werden. Und nur einen Ausweg gab es: Paul mußte in das Kadettencorps, in dem die Mutter durch die Gnade des Königs für ihren Knaben wohl eine Freistelle bekommen würde.

Wenige Wochen später, nachdem Paul seine Krankheit, die ihn dem Tode nahe brachte, überstanden hatte, trennten sich Mutter und Sohn, um sich nicht wiederzusehen; die Mutter starb kurze Zeit darauf an den Folgen der vielen Entbehrungen und Sorgen, die ihre Lebenskräfte geschwächt hatten. Paul blieb allein zurück auf der Welt, arm und mittellos wie nur einer, ohne Verwandte und ohne Freunde, die sich seiner liebevoll angenommen hätten; er war nur auf sich selbst angewiesen, und er mußte sein Leben aus eigener Kraft gestalten.

Dies alles erfuhren wir erst viel später, gelegentlich, lange nachdem der kleine Paul sich schon unsere Liebe und Freundschaft erworben hatte, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätten wir ihn nun natürlich noch fester in unser Herz geschlossen.

Ich sagte es schon vorhin, der kleine Paul war jedem von uns der liebste Kamerad. Stramm und gewissenhaft im Dienst, fleißig und vorwärtsstrebend, ohne auch nur im entfentesten daran zu denken, ein Streber zu sein, gewandt in allen körperlichen Uebungen, dazu ein lustiger, heiterer Gesellschafter, der stets voll der muntersten Einfälle steckte, mit denen er jedermann neckte, ohne je unbescheiden zu werden, der treueste Zechkumpan, den man sich denken konnte, und, obgleich er nur die ,Königszulage' erhielt, der bereitwilligste Geldverleiher und der beste Finanzier im ganzen Regiment. Wenn am Ende des Monats alles ,blank' war, hatte der kleine Paul immer noch in einer verborgenen Tasche ein Goldstück sitzen, das er gern jedem lieh, der ihn darum bat. Das Wort ,Schulden' kannte er, glaube ich, nicht einmal dem Namen nach, nicht einmal Kleiderschulden hatte er, und dabei sah er stets aus wie aus dem Ei gepellt. Na, überhaupt, meine Herren, an dem konnte sich jeder ein Beispiel nehmen, von dem konnte man viel lernen.”

Zum erstenmal schwieg der Erzähler und blickte, seinen Erinnerungen nachhängend, vor sich hin.

„Verzeihen Sie die lange Einleitung,” fuhr er nach einer kleinen Pause wieder fort, „aber wes Herz voll ist, des Mund läuft über, und mein Herz ist noch voll Liebe zu dem kleinen Paul. Auch glaube ich, daß diese Charakteristik des Helden — und er war ein Held — zum Verständnis seiner Handlungsweise nötig war.

Der kleine Paul war ungefähr ein Jahr bei uns im Regiment, er war also kaum neunzehn Jahre alt, als er eines Abends sich durch meinen Diener bei mir anmelden ließ und, bevor dieser ihm den Bescheid gebracht hatte, daß ich mich sehr über seinen Besuch freue und ihn bitten ließe, näherzutreten, schon bei mir eintrat. Ich wollte mich von meinem Schreibstuhl erheben, um ihn zu begrüßen, aber wie vom Schlage gerührt blieb ich sitzen und sah den kleinen Paul an. Ich glaubte, einen Toten vor mir zu sehen: wirr hing ihm das Haar um die Schläfen, sein sonst so frisches, rotwangiges Gesicht war aschfahl, nur ein breiter, blutroter Streifen lief von seinem linken Ohr bis zur Nase, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen.

,Um Gottes willen, was ist geschehen?' rief ich, nachdem ich mich von meinem ersten Schrecken erholt hatte und aufgesprungen war. ,Was ist geschehen?' wiederholte ich, als er nicht gleich antwortete, sondern sich auf einen Stuhl niederließ und vor sich hinstarrte.

Ich versuchte ihn zu trösten und zu beruhigen, ohne zu wissen, was vorgefallen war, und endlich, für mich nach einer Ewigkeit, kam der kleine Paul mit der Sprache heraus. Er war zu mir gekommen, um mir, der ich damals Präses des Ehrenrats war, von einem Rencontre Meldung zu erstatten, das er vor wenigen Minuten gehabt hatte.

Der kleine Paul war mit einer jungen Dame seiner Bekanntschaft in einer nur spärlich erleuchteten Allee gegangen, um die junge Dame nach Hause zu begleiten, als er plötzlich hinter sich Stimmen vernahm und gleich darauf merkte, daß die Sprecher sich über ihn und seine Begleiterin unterhielten. Er wandte sich unwillkürlich um und sah sich zwei dem gewöhnlichen Volke angehörenden, etwas angezechten Männern gegenüber. Paul bot seiner Dame wieder den Arm und setzte seinen Weg ruhig fort, ohne sich weiter um die Redensarten zu kümmern. Zum Glück war seine Begleiterin nach kaum einer Minute zu Hause angelangt, und der kleine Paul verabschiedete sich von ihr in durchaus vornehmer Weise.

Aber schon da fielen von den beiden Männern, die den Vorgang beobachtet hatten, unflätige Redensarten, die noch zunahmen, als er allein seinen Weg weiter fortsetzte. Er ging auf die andere Seite der Straße, um seine Verfolger loszuwerden, und sah sich nach einem Schutzmann um, den er hätte bitten können, ihn zu schützen. Endlich glaubte er an einer Ecke einen Konstabler zu entdecken, und mit lauter Stimme rief er: ,Bitte, Schutzmann, notieren Sie diese beiden Leute!'

In demselben Augenblick fühlte er, wie er mit einem Stock einen Schlag in das Gesicht bekam, während eine rauhe Stimme rief: ,Was will der Knirps? Arretieren lassen will er uns? Prügel muß solch dummer Junge haben!'

Von der Wucht des Schlages war der kleine Paul für eine Sekunde zurückgetaumelt, dann aber raffte er sich sofort wieder auf, um die Waffe, die er an der Seite trug, gegen seinen Angreifer zu ziehen. Aber bevor der kleine Paul seinen unter dem Paletot aufgehakten Säbel losmachen und ihn ziehen konnte, waren beide Männer in der Dunkelheit verschwunden.

Mit gezogener Klinge war der kleine Paul ihren flüchtigen Schatten gefolgt — die beiden konnten und durften ihm nicht entgehen, er mußte Rache nehmen, sofort, das verlangte der Ehrenkodex, unter dem er stand. aber in der tiefen Finsternis, die ihn umgab, war eine Verfolgung unmöglich, sein Fuß strauchelte im Gebüsch und in den Baumwurzeln, und endlich gab er sein Bemühen auf. Er hatte den Säbel, ohne ihn benutzt zu haben, wieder in die Scheide gesteckt und war dann zu mir, dem ihm zunächst wohnenden Mitglied des Ehrenrats, gekommen, um den Vorfall sofort zu melden.

,Es ist nur, damit Sie wissen, warum ich sterbe,' schloß der kleine Paul seine Beichte und wollte sich entfernen. Aber ich sprang auf und hielt ihn zurück. Der kleine Paul und sterben? Er, der Liebling aller, ein Kind von neunzehn Jahren, sterben, weil ein Betrunkener seine Roheit an ihm ausgelassen hatte? Er sollte das Leben verlassen, das er kaum noch kannte, das ihm bisher nur Not, Sorgen und Arbeit gebracht hatte? Alle Freuden dieses Daseins sollten ihm versagt bleiben? Der Lohn dafür, daß er stets der beste Sohn, der pflichteifrigste Soldat, der treueste Kamerad gewesen war, sollte darin bestehen, daß er gezwungen wurde, sich selbst eine Kugel vor den Kopf zu schießen? Nein und abermals nein, schrie es in mir auf, nein, er mußte leben für sich, für uns, für den Beruf, dem er angehörte, und in dem er mit der Zeit Großes zu leisten versprach.

Lange und ernsthaft sprach ich auf ihn ein und ließ mir noch einmal den Hergang ausführlich und haarklein erzählen. Ich machte mir Notizen und ließ mir genau den Ort bezeichnen, an dem das Rencontre stattgefunden hatte.

,Paul, geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie sich kein Leid anthun wollen, ehe ich nicht mit dem Kommandeur gesprochen habe.'

Ein unnennbar trauriges Lächeln umspielte seinen Mund: ,Wie gern thäte ich's, doch meine Ehre nahm mir jener Trunkenbold!' Und schluchzend verbarg er sein Gesicht in den Händen.

Ich begleitete ihn nach Haus, und er versprach mir endlich, sich, bis er mich wieder gesprochen hätte, jedes weiteren zu enthalten. Dann ging ich nach jener verhängnisvollen Stelle, wo der kleine Paul angefallen worden war; ich untersuchte den Thatort mit der Genauigkit eines Kriminalbeamten, ich lief in derselben Richtung, in welcher der kleine Paul seinen Angreifern gefolgt war, ich stolperte wie er über viele Wurzeln und Baumstümpfe, vergeblich suchte ich bei der ringsumher herrschenden Dunkelheit einen Gegenstand zu erkennen oder auch nur eine Handbreit zu sehen — das Licht der Gaslaternen erleuchtete nur notdürftig den Weg selbst, nicht seine Umgebung, und je mehr ich fand, daß alles genau so war, wie der kleine Paul es geschildert hatte, desto glücklicher wurde ich, desto mehr drängte sich mir die Ueberzeugung auf: der kleine Paul hat gethan, was in seinen Kräften stand, um an dem Beleidiger seiner Ehre Rache zu nehmen; daß es ihm nicht gelungen war, war nicht seine Schuld. Der kleine Paul brauchte nicht zu sterben.

Das Gefühl eines grenzenlosen Glücks überfiel mich, als ich zu diesem Ergebnis gekommen war; es war mir, als wäre mir selbst ein neues Leben geschenkt worden; ich hätte jubeln und singen mögen vor Freude.

Noch aber war dazu keine Zeit. Ich saß die ganze Nacht an meinem Arbeitstisch und schrieb über den Vorfall einen langen Bericht, mit dem ich am nächsten Morgen zum Kommandeur ging. Auch er war, gleich mir, außer sich über das Unglück, das dem kleinen Paul zugestoßen war, das jeden von uns jede Minute treffen konnte, und auch er pflichtete mir bei, daß der kleine Paul vollständig korrekt gehandelt habe und daß ihn nicht der Schatten eines Vorwurfes treffen könne. Er forderte mich auf, bei der Polizeibehörde Nachforschungen nach dem Thäter zu veranlassen; selbstverständlich müsse er gerichtlich exemplarisch bestraft werden.

,Und was soll aus dem kleinen Paul werden?' wagte ich zu fragen, als der Oberst mir eine Verbeugung machte, zum Zeichen, daß ich entlassen sei. ,Er befindet sich naturgemäß in der höchsten Erregung, und nur mit der größten Mühe habe ich ihn abgehalten, sich gestern abend ein Leid anzuthun.'

Sprachlos blickte der Kommandeur mich an: ,Nein, nein, das darf nie und nimmermehr geschehen — so jung und wegen einer solchen Veranlassung! Ich werde selbst zu ihm gehen und mit ihm Rücksprache nehmen; bitte, melden Sie mich bei ihm an.'

Als ich die Wohnung des kleinen Paul betrat, fand ich ihn apathisch auf seiner Chaiselongue liegen, kaum daß er sich bei meinem Eintritt erhob. Ich setzte mich neben ihn und begann auf ihn einzusprechen, aber er schien meine Worte gar nicht zu verstehen.

Da meldete der Bursche den Kommandeur, und gleich darauf trat die hohe, stattliche Gestalt in die armselige Leutnantsstube.

,Ich komme zu Ihen, mein lieber junger Freund,' so etwa sprach er zu dem kleinen Paul, der bei dem Besuch seines Vorgesetzten in die äußerste Aufregung geriet, ,zunächst um Ihnen im Namen des Offizierscorps unser aufrichtiges Beileid auszusprechen über den Unfall, der Sie gestern abend betroffen hat, dann aber — und das ist der Hauptzweck meines Erscheinens — um Ihnen zu sagen, daß Sie nach meiner und des Ehrenrates Meinung vollständig korrekt gehandelt haben, daß Sie nicht der geringste Vorwurf treffen kann, daß Sie in meinen Augen wie in denen Ihrer Kameraden auch nicht den leisesten Makel an Ihrer Ehre erlitten haben, und daß wir es uns zur hohen Ehre anrechnen, Sie den Unsrigen nennen zu dürfen.'

Der Kommandeur schwieg und sah den kleinen Paul erwartungsvoll an, der in stramm dienstlicher Haltung vor ihm stand; wieder bedeckte eine Totenblässe sein Gesicht, aber keine Miene zuckte, als er antwortete: ,Ich kann dem Herrn Oberst nicht genug für die mir bewiesene Güte und Liebe danken, aber selbst das Urteil des Herrn Obersten, ja selbst ein freisprechendes Urteil des Ehrengerichts, dem ich mich stellen müßte, kann die Schmach, die ich erlitten, nicht löschen. Wie höllisches Feuer brennt der Schlag, den ich empfangen, auf meiner Wange, ich habe die tödlichste Beleidigung erlitten, die ein Mann erleiden kann — niemals kann ich vergessen, was mir widerfahren ist. Möge der Herr Oberst, mögen alle Herren noch so nachsichtig urteilen, der Schlag wird sichtbar bleiben, auch wenn die Narbe verschwunden ist. Und wenn auch kein Mensch mir die Schmach ansieht, ich werde sie immer sehen, und deshalb darf ich nicht mehr leben.'

,Es ist natürlich, mein lieber junger Freund,' entgegnete der Oberst, dem alles Blut aus den Wangen gewichen war, ,daß Sie heute in der Erregung, in der Sie sich befinden, Ihre Lage trostloser beurteilen, als sie thatsächlich ist. Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, den Schuldigen zu ermitteln und zr Rechenschaft heranzuziehen, ich fühle es Ihnen aber nach, daß es Ihnen lieber ist, wenn die Sache nicht an die Oeffentlichkeit kommt. Auch daß es Ihnen unangenehm ist, ferner hier mit den Kameraden zu verkehren und in einer Stadt zu bleiben, wo Sie der Gefahr ausgesetzt sind, vielleicht zufällig Ihrem Angreifer wieder zu begegnen, obgleich ich kaum glaube, daß Sie sich gegenseitig wiedererkennen würden — das alles begreife ich sehr wohl. Lassen Sie sich versetzen; ich will Ihnen helfen, eine schöne neue Garnison zu erlangen, aber mehr als meine Worte wird Ihnen dazu Ihre brillante Konduite verhelfen, die Sie sich selbst, Ihrer eigenen Tüchtigkeit zu verdanken haben.'

Aber der kleine Paul blieb hart und unerbittlich: ,Ich habe den Mut nicht mehr, Herr Oberst, einem Ehrenmann offen und ehrlich ins Gesicht zu sehen — beleidigen kann mich ein Mann jener Art nicht, dazu steht er zu tief unter mir, aber einen Schlag ins Gesicht erhalten zu haben, ohne den Angreifer zu töten, das ist eine Schmach, die kein Mensch und keine Macht der Erde von mir abwälzt.'

Wohl noch eine Stunde saßen wir bei dem kleinen Paul und versuchten, ihm seine unglückseligen Gedanken(2) auszureden. Wir baten ihn, falls er wirklich nicht mehr Offizier sein wolle, seinen Abschied einzureichen, sich hier oder in einem andern Weltteil eine neue Existenz zu gründen. Der Oberst, ein sehr reicher, kinderloser Herr, der den kleinen Paul wie seinen Sohn liebte, stellte ihm in der liebenswürdigsten Weise eine große Summe zur Verfügung; er bat, er flehte ihn endlich mit Thränen in den Augen an, zu leben für sich selbst und für alle, die ihn kannten.

Nach langer; nutzloser Unterredung erhoben wir uns, um zu gehen. Der kleine Paul begleitete uns bis zur Etagenthür, und draußen auf dem Korridor überreichte ihm der Bursche die Visitenkarten sämtlicher Kameraden. Alle waren sie dagewesen, um ihn zu sprechen und zu trösten; sie waren fortgegangen, weil sie das Gespräch mit dem Kommandeur weder stören durften noch wollten. Alle hatten aber den Bescheid hinterlassen: ,Sagen Sie dem Herrn Leutnant, wir würden nachher wieder vorsprechen.'

Wir sahen, wie tief den kleinen Paul diese Aufmerksamkeit und dieser sichtliche Beweis der Liebe seiner Freunde rührte, und leise baten wir: ,Denken Sie auch an die Kameraden? Was sollen die wohl ohne Sie anfangen?'

„Er lächelte trübe, dann erwiderte er unseren letzten Zuruf mit einem ,Auf Wiedersehen!'”

Wieder schwieg der Erzähler einen Augenblick, währenddessen er sich mit beiden Händen die langen Spitzen seines Schnurrbarts zurechtstrich, als wolle er eine gewisse Erregung niederkämßpfen, dann fuhr er fort:

„Das Wiedersehen erfolgte schneller und anders, als ich geahnt; im stillen hatte ich doch noch die Hoffnung gehabt, daß er uns das Schwerste nicht anthun würde.

Schon nach einer Stunde erhielt ich die Meldung, der kleine Paul habe sich erschossen. Zuerst wollte ich es nicht glauben, dann eilte ich, so schnell ich konnte, in seine Wohnung. Der Bursche öffnete mir mit verweinten Augen die Thür und führte mich in das Wohnzimmer. Da lag der kleine Paul lang ausgestreckt auf dem Teppich, die blassen Schläfen nur wenig mit Blut bedeckt, die Waffe noch in der Rechten. Ich fand sein Gesicht ruhig und unverändert; nur schien es mir, als ob die Narbe des ruchlosen Schlages deutlicher sichtbar wäre als am Morgen.

Ich hob den Toten auf, um ihn auf sein Lager zu betten, und während ich die leichte Last in meinen Armen trug, dachte ich: ,Welch ein Kind war doch der kleine Paul und doch welch ein Mann!'

Da fiel mein Blick auf die Photographie eines älteren Offiziers; unschwer erkannte ich an der Aehnlichkeit den Vater Pauls, und das Bild trug die Unterschrift: ,L'honneur pour moi' — die Ehre für mich.

Täglich hatte er den Spruch vor Augen gehabt, er hatte gelebt und war gestorben wie ein Held. Rein und unbefleckt hatte er sich seine Ehre erhalten, nie haben wir alle vor jenem Vorfall geahnt, welch strenges Ehrgefühl in ihm wohnte — erst durch seinen Tod bewies er, wie er darüber dachte. Und wiederum konnten wir alle nur von ihm lernen.”

Der Erzähler schwieg, und auch wir andern saßen still und schweigend, unseren Gedanken nachhängend, nur richteten sich unsere Blicke fast unwillkürlich auf den Kaufherrn; der aber hatte seinen Kopf auf die Rechte gestützt und blickte wie weltvergessen vor sich hin. Wir sahen ihm an, daß seine Gedanken bei dem Toten weilten, der freiwillig für seine Ehre starb, und wir verstanden, warum er still und schweigend sich von seinem Platz erhob und von uns ging, ohne ein Lebewohl gesagt zu haben.


Fußnoten:

(1) „Die Ehre”, Drama von Hermann Sudermann, Première 27.11. 1889 Lessingtheater Berlin (zurück)

(2) Sowohl der Erzähler in diesem Text als auch der Verfasser bezeichnen die Auffassung des ,kleinen Paul' von der Ehre als ,unglückselige Gedanken'!!! (zurück)


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