Ein Uebungsritt.

Von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Zukunft”, 23.April 1898, 23. Band, S. 166-172 und
in: „Excellenz kommt”.


Nach dem Kalender waren wir ja noch im Winter; aber als ich eines Morgens aufstand, war so köstliches Frühlingswetter, daß ich nach eingenommenem Frühstück, meine Morgencigarre rauchend, im Garten auf- und abging und mich an den Veilchen und dem frischen Grün erfreute, das, dem Januar zum Trotz, schon keimte und sproß. Da ertönte auf der Chaussee, die an meiner Villa vorbeiführt, der Hufschlag eines geloppirenden Pferdes und neugierig trat ich an den Zaun, um zu sehen, wer so früh schon unterwegs sei. Es war ein Hauptmann meines früheren Regimentes(1).

„Halloh, Herr Hauptmann,” rief ich ihm zu, „wohin so eilig?”

„Zeit verschlafen — Uebungritt!”(2) lautete die Antwort; und er wollte weiter jagen.

„Cognac gefällig?”

Er kämpfte einen schweren Kampf.

„Wenns nicht zu lange dauert” — meinte er.

Ich eilte davon, um die Stärkung zu holen.

„Wo gehts denn hin?” fragte ich, als ich ihm gleich zwei Gläser auf einmal anbot.

Er nannte einen Ort, der einige zwanzig Kilometer entfernt liegt. „Wollen Sie mich nicht begleiten?” fragte er mich. „Setzen Sie sich auf Ihr Roß und reiten Sie mit.”

Ich lehnte dankend ab. „Aber damit Sie wissen, daß ich in Gedanken bei Ihnen bin, will ich mich an meinen Schreibtisch setzen und einen Uebungritt beschreiben.”

„Bringen Sie nur mich nicht hinein,” bat er.

„Ganz gewiß nicht; aber wie stehts, noch einen kleinen Cognac?”

„Höchstens noch einen halben.”

„Natürlich die obere Hälfte?”

„Das versteht sich — so — nun danke ich aber herzlichst, es wird höchste Zeit — guten Morgen;” und im Galopp jagte er wieder davon.

Ich aber ging an meinen Schreibtisch; und dort saß ich lange und kam fürs Erste nicht vom Tintenfaß los, denn ein Uebungritt ist eine ganz verzwickte Sache.

Wenn Einer etwa glauben sollte, ein Uebungritt sei eine Uebung im Reiten, dann ist er so schief gewickelt, wie es nur immer eine Cigarre sein kann. Au controleur, im Gegentheil, man kann auch an einem Uebungritt zu Fuß theilnehmen. Für den Betheiligten ist Das natürlich sehr schmerzlich, aber was soll man machen, wenn man als alter Premier zu einem Uebungritt befohlen wird und alle Versuche, ein Pferd zu bekommen, auf das Glänzendste scheitern? So man ein „Steckenpferd” hat, kann man ja diesem einen Sattel auflegen, ob es dann aber schneller geht als zu Fuß, ist zweifelhaft.

Der erste Uebungritt in der Welt entstand aus der Meinung eines hohen Vorgesetzten, daß die berittenen Offiziere im Winter zu wenig zu thun haben. Diese Ansicht ist weit verbreitet; daß sie auch richtig ist, giebt mit Ausnahme der berittenen Offiziere Jeder ohne Weiteres zu; die Herren selbst leben natürlich in dem Glauben, sie hätten so viel zu thun, daß sie gar nicht wissen, womit sie anfangen sollen, — und deshalb fangen sie überhaupt gar nicht erst an.

Der Herr Oberstlieutenant hat sich nach Tisch auf seine Chaiselongue und die theure Perücke, damit sie nicht beschädigt wird, neben sich auf einen Stuhl gelegt. Die zärtliche Gattin hat ihm eine Schlummerrolle mit der gestickten Inschrift „Träume süß” unter den Kopf geschoben und ihm eine Reisedecke mit dem Motto: „Reise glücklich” über die Knie gebreitet. Der Herr Oberstlieutenant fühlt sich nicht ganz extra dry; als guter Vater ist er gestern mit seinen fünf unverlobten Töchtern auf einem Ball gewesen und ist erst spät gegen Morgen mit fünf unverlobten Töchtern heimgekehrt, — es hat Keiner anbeißen wollen. Er hat das Unglück kommen sehen und sich durch fleißiges Trinken bei guter Laune zu erhalten versucht; nun hat er Das, was man beim Militär ohne Charge einen dicken Kopf, bei dem Militär mit Charge einen Jammer zu nennen pflegt.

Er will schlafen; und er schläft.

Er schnarcht sogar.

Da klopft es an die Thür, einmal, zweimal, dreimal.

Der Schläfer hört es nicht.

In vorschriftsmäßiger Haltung, die Hände an der Hosennaht, die Nase gerade über der Knopfreihe, das Kinn an der Binde, die Hacken zusammen, Brust heraus und Bauch herein, bleibt der Herr Gefreite, nachdem er, ohne daß ihm ein „Herein” zugerufen wurde, in das Zimmer getreten ist, in der Thür stehen.

Er wartet, als wäre er eine Wartefrau.

Nach zwei Stunden wacht der Herr Oberstlieutenant auf und erkennt in dem Halbdunkel, das ihn umgiebt, die Umrisse eines Bleisoldaten.

Er reibt sich die Augen. „Wer ist da?”

„Parolebuch.”

Soldaten sind so bescheiden, daß sie nie sagen, was sie sind, sondern nur, was sie bringen.

„Mach einmal Kehrt, mein Sohn.”

Der Herr Gefreite führt den Befehl aus: „Wozu?” denkt er im Stillen, „daß Du keine Haare hast, habe ich ja schon gesehen.”

„Front. So, nun zeig 'mal her, was Du hast.”

Das Buch wird aufgeklappt und der Herr Oberstlieutenant liest: „Morgen früh findet unter Leitung des Herrn Oberstlieutenant ein Uebungritt sämmtlicher berittenen Offiziere statt.”

„Aber davon weiß ich ja gar nichts,” stöhnt der Herr Etatmäßige im Stillen und dann liest er: „Das Weitere hat der Herr Oberstlieutenant selbständig zu veranlassen, Zeit und Ort des Rendezvous ist bis heute Abend um sechs Uhr auf dem Regimentsbureau zu melden.” Und jetzt ist es gleich halb sieben.

Ja, aber Herr Oberstlieutenant, wie konnten Sie auch nur so lange zu Mittag schlafen? So was kommt von so was.

Fünf Minuten später sitzt der Herr Oberstlieutenant an seinem Schreibtisch und studirt die Garnison- und General­stabskarte: in seinem Geiste operirt er mit Armeen, Divisionen, Brigaden und anderen schönen Dingen. Der Herr Gefreite steht immer noch und wartet. Endlich hat der Etatmäßige eine großartige Idee geboren, er mißt mit dem Zirkel die Entfernung nach dem Rendez­vousplatz, berechnet, wie lange man bis dorthin reitet, schreibt das Ergebniß seiner Berechnung fein säuberlich auf ein Quartblatt, beschneidet es hübsch, damit die Augen des gestrengen Herrn Oberst mit Wohlgefallen auf dem Papier ruhen, und schickt den Gefreiten dann los.

Am nächsten Morgen regnet es Bindfaden; einen Augenblick denkt der Oberstlieutenant daran, sich mit einem dieser Faden die Gurgel zuzuschnüren, aber dann kann er ja nicht Oberst werden und Das will er unter allen Umstnden, — weniger aus militärischem Ehrgeiz als wegen der Pension. So steigt er denn in den Sattel, befiehlt dem Burschen, bei seiner Rückkehr gehörig warmes Wasser, nicht zum Baden, sondern zur Mischung verschiedener Grogs, vorräthig zu haben, und reitet davon.

Auf dem Rendezvousplatz erwarten ihn schon die Offiziere, auch der Herr Oberst ist schon da: „sie Alle wünschen ihn zum Teufel, zum Teufel,” wie es in Fatinitza heißt, aber der Herr Oberst denkt an ein anderes Wort der Operette: „Was innerlich sie denken, kann recht wenig mich kränken.” Er bleibt und in Folge Dessen müssen die Anderen auch bleiben. Der Herr Oberstlieutenant „spuckt”, wie der Kunstausdruck lautet, nun seine Idee aus:

„Meine Herren, eine Norddivision ist gegen uns im Anmarsch, wir haben sichere Meldung erhalten, daß sie von der großen Straße abgebogen ist und durch die Haide marschirt.”

„Dann können wir ja ruhig nach Haus reiten,” flüstert ein Hauptmann dem anderen zu, „bei diesem Wetter bleibt ja die ganze Division in der Haide stecken, sie ertrinken dort, — ist ja Unsinn, die ganze Geschichte.”

Der Herr Etatmäßige hört Das nicht; er fährt nach einer kleinen Pause fort. „Wir werden hier dem weiteren Vordringen des Feindes —”

„Der nur in Eurer Phantasie lebt,” denkt Einer.

„ein energisches Halt zurufen —”

„So ruf doch Halt,” denken Alle —

„indem wir uns hier eine Vertheidigungstellung(3) aussuchen und sie fortifikatorisch verstärken.”

„Wie Ihr befehlt, o Majestät, zum Dienen sind wir da,” brummt Einer vor sich hin.

Der Oberstlieutenant sieht sich im Kreise um: „Ich übertrage Ihnen, Herr Major Aberg, den Befehl über die Division.”

„Ueber die feindliche?” fragt der Major sehr erfreut, denn dann hätte er gar nichts zu thun, da der ganze Feind nur supponirt ist.

„Ach so, ich vergaß, meine Herren, wir sind ebenfalls eine Division stark, diese führen Sie natürlich, Herr Major, bitte ernennen Sie Ihre Unterbefehlshaber. Sie haben zwei Infanterie­brigaden, jede zu zwei Regimentern, eine Abtheilung Artillerie und eine Kavallerie-Brigade.”

So schnell wie leider in der Wirklichkeit nie avanciren nun die Hauptleute, ohne erst Major zu werden, zum Oberst und Regiments­kommandeur; der Adjutant wird Kavallerie-General.

„General bin ich jetzt,” flüstert er einem Kameraden zu, „wenn ich nun auch noch das Gehalt bezöge, wollte ich mit dem Avancement wohl zufrieden sein.”

„Darf ich Sie nun bitten, Ihre Stellung auszuwählen,” sagt der Etatmäßige.

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant. Darf ich bitten, meine Herren?” und gefolgt von seiner Suite sprengt die „Excellenz” davon.

Hoch auf spritzt der Schmutz.

In einiger Entfernung folgt der Oberstlieutenant, um zu sehen, welche Stellung der Herr Major für geeignet hielt, und wieder in einiger Entfernung folgt der Herr Oberst, um zu sehen, welche Stellung sein Etatsmäßiger für geeignet hielt.

Beim Militär traut Keiner dem Anderen. Jeder hält sich für klüger, als es der Untergebene wirklich ist. Das klingt zwar etwas dunkel und wunderbar, aber ist wahr.

Vor einem großen Wassertümpel scheut das Pferd des Herrn Majors, selbst Peitsche und Sporen helfen nicht: herunterfallen will der Reiter bei dem herrschenden Schmutz nicht, sein grauer Mantel ist so wie so schon schmutzig genug, — so denkt er denn, es ist Schicksalsfügung und mit hocherhobener Stimme spricht er: „Hier bleibe ich.”

Darüber freuen sich Alle, die es hören, denn je näher sie der Stadt bleiben, desto kürzer ist der Rückweg.

Alle finden die Stellung „Sr. Excellenz” des Herrn Majors ganz ausgezeichnet, — nur der Herr Etatmäßige macht: „Hm, Hm” und der Herr Oberst ebenfalls. Wem gilt dieses „Hm, Hm” des Herrn Kommandeurs? Der Ansicht seines Majors oder dem „Hm, Hm” seines Etatmäßigen? Genau weiß mans nicht.

„Hier ist mein rechter Flügel,” spricht der Herr Major, „und dort,” er zeigt auf ein Loch in der Natur, „mein linker.”

Wieder zwei verschieden „Hm, Hm.”

Den Major ärgert Das nicht, er denkt: „O wäre ich weiter, o wär' ich zu Haus und hätt' ich doch erst meine Stiefel aus,” denn in seinen sogenannten „Wasserdichten” plätschern die Wellen.

„Meine Herren,” damit wendet sich der Major an seine Begleiter, „Brigade 1 den rechten, Brigade 2 den linken Flügel, von jeder Brigade zwei Bataillone in die Reserve, Kavallerie auf den linken Flügel, Artillerie dort auf die Höhe, — ich bitte, sich die Stellungen anzusehen und mir dann zu sagen, wo und wie Sie Ihre Truppen die Stellung besetzen lassen wollen.”

Es geschieht und Jeder erstattet seine Meldung: „Hier rechter, dort linker Flügel, hier Reserve.”

Dann wird noch Etwas darüber gesprochen, wie die Herren ihre Stellungen fortifikatorisch verstärken wollen, und Se. Excellenz der Herr Major sagt zu Allem Ja und Amen. Am Liebsten würde der Herr Oberstlieutenant zu Dem, was der Major spricht, auch Ja und Amen sagen, denn erstens ist es ganz niederträchtig, Stunden lang im strömenden Regen auf den [sic! D.Hrsgb.] Gaul zu sitzen, zweitens sehnt er sich nach dem häuslichen Grog, drittens nach einem Paar trockener Strümpfe, viertens ist er der Ansicht, daß solch Uebungritt eigentlich wenig praktischen Nutzen hat, da im Ernstfalle nur der Feind entscheiden kann, ob die Stellung falsch oder richtig ist.

Der Herr Oberstlieutenant studirt das Antlitz des Herrn Oberst und entschließt sich dann, die Anordnungen des Herrn Majors nicht zu billigen; es thut ihm leid, auch um seiner selbst willen, aber er kann nicht anders.

So sagt er denn: „Diese Stellung — gewiß ja — jawohl — ja — sie ist . . . Hm, Hm —” er bricht ab, weil er selbst nicht weiß, was er sagen will.

„Ich meinte, Herr Major, auf welchem Wege und wie würden Sie sich zurückziehen, wenn Ihre Division den Feind nicht aufhalten kann?”

„Sie kann ihn aufhalten,” spricht der Major voll Zuversicht, „und sie wird ihn aufhalten.” Muthig blickt der Major um sich: es ist kein Feind da, der ihn zum Rückzug zwingen könnte.

Der Herr Oberstlieutenant ärgert sich über die Bockbeinigkeit seines Untergebenen, er winkt ihm mit den Augen und deutet mit der Hand heimlich nach dem heimathlichen Herde. Da begreift der Major, was der Vorgesetzte will: „Wenn ich trotzdem zurück muß, so würde ich den nächsten Weg einschlagen, der von hier aus in die Stadt führt, und kurz vor der Stadt selbst noch einmal eine Stellung nehmen und mich dort nochmals auf das Hartnäckigste vertheidigen.”

„Wollen Sie mir, bitte, diese Stellung zeigen?”

„Zu Befehl, Herr Oberstlieutenant.”

Schon wenden Alle ihre Pferde, um nach der Stadt zurückzugaloppiren, da bannt sie die Stimme des Herrn Oberst: „Meine Herren, noch einen Augenblick —” und nun kommt eine zweistündige Kritik, warum, wieso, weshalb diese Stellung ganz unbrauchbar sei; er weiß eine viel bessere. „Darf ich bitten, meine Herren,” — und in sausendem Galopp geht es über Stock und Stein immer gerade aus, nicht nach der Stadt zurück, ach nein, sondern immer weiter von ihr fort.

Endlich macht der Kommandeur Halt.

„So, meine Herren, hier sehen Sie sich einmal um: Das ist die einzig richtige Stellung, betrachten Sie diese Flanken­anschauung(4) rechts — darf ich bitten, meine Herren,” und im Galopp saust er nach dem rechten Flügel, „und nun erst die Flankenlehnung links — darf ich bitten, meine Herren,” und im Galopp saust er nach dem linken Flügel „und dann diese herrliche Artilleriestellung — darf ich bitten, meine Herren.” Wieder galoppirt er von dannen. „Ja meine Herren, wenn man solch köstliches Stück Erde sieht, da wird man wieder jung und frisch. Sehen Sie nur dieses Hünengrab, welche wundervolle Deckung für die Reserven! Da wird Einem ordentlich das Herz weit. Sehen Sie nur diese prächtige Terrainfalte — darf ich bitten, mein Herren? Bitte, Galopp, meine Herren, unsere Pferde haben ja heute noch nichts geleistet und dieser feine Sprühregen genirt weder sie noch uns, — ach so, ja, diese Terrainfalte, die gedeckte Annäherung unserer Leute erlaubt, wundervoll! Dazu dieses herrliche Schußfeld: Wie weit, meine Herren, werden wir hier mit unserer Infanterie schießen können?”

„Zwölfhundert Meter,” sagt Einer, nur um überhaupt Etwas zu sagen; „doch kaum ist ihm das Wort entfahren, möcht ers im Busen gern bewahren.”

Der Herr Oberst wendet sich ihm lebhaft zu: „Zwölfhundert Meter? Glauben Sie wirklich? Das überträfe ja meinen [sic! D.Hrsgb.] kühnsten Erwartungen! Auf der Karte läßt sich so Etwas ja schlecht sehen; wollen Sie mir einen großen Gefallen thun?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Dann galoppiren Sie, bitte, 1200 Meter geradeaus; wie viele Galoppsprünge macht Ihr Pferd auf hundert Meter?”

„Das weiß ich nicht, Herr Oberst.”

„Ja, mein lieber Herr Hauptmann, so Etwas muß man aber wissen, Das ist ungemein wichtig, nun, nehmen Sie den Durchschnitt, fünfunddreißig Galoppsprünge auf hundert Meter, Das sind für zwölfhundert — na, wie viel ist es — hundertmal fünfunddreißig sind dreitausend­fünfhundert, dann zweimal fünfunddreißig sind neunzig —”

„Siebenzig,” verbessert ein Adjutant.

„Richtig, ich versprach mich, wie weit hatten wir doch — ach so ja, Das macht zusammen viertausend­zweihundert Galoppsprünge!”

„Dann ist mein Gaul tot,” denkt der Hauptmann und er sagt: „Wenn ich vierhundert­undzwanzig Galoppsprünge mache, habe ich zwölfhundert Meter zurückgelegt, der Herr Oberst haben sich verrechnet.”

Der Herr Oberst will es nicht glauben; also muß der Adjutant den schwierigen Fall auf Papier ausrechenen: der Hauptmann hat Recht.

„Also nur vierhundert­undzwanzig, Herr Hauptmann; dann steigen Sie, bitte, ab und legen sich platt auf die Erde, ich werde hier einen der Herren bitten, sich gegenüber­zulegen, dann können wir am Besten kontroliren, ob liegende Schützen sich auf diese Entfernung noch sehen und folglich auch totschießen können.” Ach, hätte der Hauptmann doch den Mund gehalten oder wenigstens nicht gesagt, daß er seinem Oberst einen Gefallen thun wolle, — obgleich ein „Nein” auf dessen Frage ja auch eine Unmöglichkeit war; so reitet er denn davon.

Als er zurckkommt, sieht er aus wie ein lebendiger Chokoladenmann; aber das Schußfeld ist da.

„Ob wir auch noch auf weitere Entfernungen schießen können?” fragt der Kommandeur, aber Niemand antwortet und dem Herrn Oberstbleibt nichts übrig, als seine Frage als eine rhetorische zu betrachten, auf die man, wie man ja in der Schule schon gelernt hat, auch keine Antwort erwartet.

Der Herr Oberst hat einen langen, wasserdichten Mantel an, der bis zu den Fußspitzen reicht, die Hände stecken in Gummihandschuhen, er ist ganz trocken und hat daher gar keine Eile.

„Wir wollen nun noch einmal zu der ersten Stellung zurückreiten und die beiden mit einander vergleichen.”

Jetzt, wo Alle wünschen, daß der Kommandeurs en carrière ritte, bändigt er sein Leibroß zum Schritt.

Noch nie ward so geflucht.

Wieder erfolgt eine lange Besprechung, dann endlich macht man sich auf den Heimweg. Alles ruft „Hur —” aber sie kommen nicht dazu, auch „rah” zu sagen, denn plötzlich hält der Herr Oberst sein Pferd an: „Meine Herren, noch Eins. Haben Sie doch die Güte und zeichnen Sie Jeder ein Croquis der von mir ausgesuchten Stellung und tragen Sie doch auch die Truppen ein, Jeder nur die, über die er verfügte, ich überlasse es Ihnen, ob Sie die Zeichnung in Blei, Bunstift oder Tusche ausführen wollen, aber ich glaube, in Tusche macht es sich am Besten, es ist ja nur eine kleine Arbeit. Es ist jetzt ein Uhr, um drei sind wir zu Hause, na, sagen wir, daß Sie die Arbeiten um fünf Uhr dem Herrn Oberstlieutenant in die Wohnung schicken.” Er wendet sich an seinen Etatmäßigen: „Sie haben dann wohl die Güte, mir die Zeichnungen heute Abend um acht Uhr mit Ihren Bemerkungen zuzusenden, ich gebe sie den Herren dann gelegentlich zurück.”

Bums!

Auch Das noch.

„Hat einer der Herren noch eine Frage? Nun, dann danke ich Ihnen sehr.”

Wie der Teufel reitet er davon, — nur, um schnell nach Haus zu kommen, oder, um nicht zu hören, was seine Unterthanen sagen? Wer kanns wissen?

. . . Am Nachmittag sitzen die Herren zu Hause und legen ihre Skizze in Tusche an, weil es sich nach der Ansicht des Herrn Oberst so am Besten macht, und am Abend versammeln sich alle Theilnehmer am Ritt zu einem gewaltigen Männertrunk und es giebt Leute, die allen Ernstes behaupten, Das sei das Beste am ganzen Uebungritt.


Fußnoten:

(1) Schlicht/Baudissin war zur Zeit der Veröffentlichung dieser Erzählung noch aktiver Soldat; er wurde erst am 25.11.1898 à la suite seines Regiments gestellt (siehe auch „Lebensdaten”). Vielleicht will er durch diese Fomulierung seine Urheberschaft verheimlichen. (zurück)

(2) In der Buchfassung findet sich durchweg an Stelle des Wortes „Uebungritt” die Form „Uebungsritt”. (zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es: „Verteidigungsstellung”. (zurück)

(4) In der Buchfassung heißt es: „Flankenlehnung”. (zurück)


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