Ein Wort zur Regelung der Trinkgeldfrage.
Von
Freiherr von Schlicht (Weimar).
in: „Rigasche Zeitung” vom 20.7.1913
Man könnte das alte Wort: „Man freut sich, wenn die Gäste kommen, man freut sich, wenn sie wieder gehen,” auch auf die Ferien anwenden. Schön ist es, wenn man auf Urlaub gehen kann, aber noch schöner ist das eigene Heim. Man freut sich schon tagelang vorher auf den Tag, an dem es endlich wieder nach Hause geht, nur eins beschäftigt das Gemüt, die Frage: Was mußt du an Trinkgeldern geben? Und unwillkürlich gedenkt man des alten Wortes: Gib dem 'ne Mark und dem 'ne Mark, daher der Name Dänemark! Aber auch die Markstücke summieren sich.
Ich erinnere mich, vor vielen Jahren in einem großen Hotel einmal einen Tag und eine Nacht verbracht zu haben. Bei dem Abschied erwiesen mir fünfzehn Hotelangestellte ihre Reverenzen. Der Himmel allein mochte wissen, woher die alle kamen und was die alle für mich getan hatten. Als dann aber auch noch ein sechzehnter erschien, da wurde es mir doch zu viel und ich frage: „Wer sind Sie?” und ich erhielt die Antwort. „Ich habe im Rauchsalon die Aschenbecher unter mir, und da der Herr doch ein so leidenschaftlicher Raucher sind . . .” Aber seine Hoffnung erwies sich als trügerisch. Als leidenschaftlicher Raucher begnügte ich mich damit, ihm ganz gehörig blauen Dunst vorzurauchen und in einer Tabakswolke an seiner weit geöffneten Hand vorbeizuschweben. Hätte ich nach dem oben zitierten Wort in jede Hand, die sich mir entgegenstreckte, eine Mark oder auch nur eine halbe hineingelegt, dann hätte ich für den einen Tag den Betrag von acht Mark opfern müssen. Hätte ich aber jedem nur fünfundzwanzig Pfennige gegeben, dann hätte man hinter mir her geschimpft, und ich persönlich stehe leider Gottes auf dem Standpunkt, daß ich mir selbst von einem Kellner nicht gern nachsagen lasse, ich sei ein alter Geizkragen, denn man kann nicht wissen, ob man nicht einmal wieder in dasselbe Hotel kommt.
Wie aber soll man bei der Abreise die Trinkgeldfrage lösen? Darüber ist schon viel geschrieben und vieles ist vorgeschlagen worden, aber bisher hat sich noch keine Neuerung bewährt. Die Erhöhung der Trinkgeldablösung durch einen prozentualen Aufschlag zur Rechnung kann nicht dauernd Eingang finden, einmal, weil sie dem Reisenden auf die Verteilung des Trinkgeldes keinen Einfluß einräumt, dann aber auch, weil der Gast mit der Höhe des Aufschlages nicht bimmer einverstanden ist. Oft erscheint sie ihm zu hoch, oft aber auch zu niedrig. Es ist üblich, auf Rechnungen von dreißig Mark 15 Prozent, von dreißig bis zweihundert Mark 10 Prozent, und darüber hinaus 5 bis 8 Prozent drauf zu schlagen. In der Theorie ist der Vorschlag ganz schön, aber in der Praxis will der Reisende es sich vorbehalten, mehr oder weniger geben zu können, je nachdem er Ursache hat, mit der Bedienung zufrieden oder unzufrieden zu sein.
Also entsteht von neuem die Frage: In welcher Art soll ich das Trinkgeld geben? Diese Frage ist heute noch nicht allgemein gelöst, aber sie könnte zur Zufriedenheit aller Beteiligten, der Reisenden, der Angestellten und auch der Hoteliers gelöst werden, wenn alle Hotels in der ganzen Welt sich entschließen könnten, das Troncsystem einzuführen, das bereits in vielen Häusern, namentlich in Berlin, Sitte ist und dessen Vorzüge ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte, als ich auf der Rückkehr von meiner Sommerreise einige Tage in Heidelberg weilte und mit einem dortigen Hotelbesitzer, Herrn Fritz Gabler, zu wiederholten Malen ausführlich über dieses System sprach, in dessen Einzelheiten er mich einweihte.
Das Wort tronc ist „bekanntlich”, wie diejenigen zu sagen pflegen, denen etwas nicht bekannt ist — also das Wort ist bekanntlich französisch und heißt auf gut deutsch „Stamm” oder auch der „Almosenstock”. Das Troncsystem beruht auf der Einrichtung von Almosenstöcken für die Trinkgelder, und zwar ist ein solcher Almosenstock oder, der Einfachheit halber gesagt, eine solche Kasse für die Kellner des Restaurants, vom Oberkellner angefangen bis hinunter zum jüngsten Piccolo, eine zweite Kasse für die Etage (Zimmermädchen, Hausmädchen und Hausdiener), eine dritte und letzte Kasse für das Vestibül (Portier, Nachtportier, Lift, Page, Telephonist, Kondukteur und was da unten sonst noch herumkreucht und fleucht). Diese stehen entweder unter der Aufsicht des Hoteliers oder des Direktors. Ihre Verwaltung erfolgt nach dem System der Selbstverwaltung. Alle Trinkgelder werden entweder von den Reisenden selbst oder von den Angestellten in diese Kassen abgeführt, und der Inhalt wird alle vierzehn Tage von der Direktion in einer prozentualen Weise unter die Beteiligten verteilt, die jedem Angestellten bei Antritt seines Dienstes von der Direktion bekannt gegeben wird. Erscheint dem einzelnen sein pozentualer Anteil, der ihm in Aussicht gestellt wird, zu klein, dann mag er sich entweder eine andere Stellung suchen, oder aber, und das ist die Hauptsache, er mag durch aufmerksame Bedienung den Gästen gegenüber dazu beitragen, daß möglichst viel Geld in die ihn betreffende Kasse fließt, wodurch sich naturgemäß sein prozentualer Anteil erhöht. Keiner der Angestellten wird ein Trinkgeld, das man ihm für die Gesamtheit gibt, unterschlagen, da jeder einzelne den Ehrgeiz hat, daß seine Kasse, an der er partizipiert, die vollste ist. Die Angestellten kontrollieren sich gegenseitig, und wenn sich trotzdem einer der Unterschlagung schuldig macht und nur einen Teil des ihm für alle überwiesenen Geldes an die Kasse abführt, so ist das eine Sache, die die Angestellten unter sich abzumachen haben und die den Reisenden nichts angeht.
Sollte das Troncsystem, wie die Hoteliers und die Angestellten es selbst am meisten wünschen, in allen Hotels eingeführt werden, so hätte der Reisende beim Abschied nur drei Personen ein Trinkgeld zu geben: dem Oberkellner, der ihm die Rechnung überreicht, für seine eigene Person und für die gesamten Kellner des Restaurants, dem Portier für das Vestibül und dem Zimmermädchen für die Etage. Er kann aber auch, und das ist ein weiterer Vorzug dieses Systems, das gesamte Trinkgeld dem Hotelier oder dem Direktor übergeben und entweder selbst bestimmen, welcher Betrag in die einzelnen Kassen abgeführt werden soll, oder er kann diese Verteilung dem Direktor überlassen, ganz einerlei, ob es sich bei diesem Trinkgeld um den Betrag von zehn oder um hundert Mark und darüber handelt, und er hat dann, was bei dem prozentualen Aufschlag zu der Rechnung nicht der Fall war, die Gewißheit, daß das Geld der einzelnen Kassen eine den Leistungen entsprechende Verteilung findet. In einigen Hotels sind diese verschlossenen Kassen oben auf dem Korridor der Etage, in der Portierloge und in den Restaurants angebracht, in die man direkt seinen Obulus hineinwerfen kann. Das erscheint mir persönlich, wenn man das Trinkgeld nicht dem Direktor übergeben will, als der Idealzustand, nicht nur für den Reisenden, sondern auch für die Angestellten, denn dadurch verliert das Trinkgeld seinen persönlichen Charakter, man erspart dem Angestellten die Demütigung, ein Trinkgeld annehmen zu müsen. Wie oft ist nicht schon gesagt und geschrieben worden, das Trinkgeldunwesen sei beschämend und erniedrigend. Das Troncsystem würde einen Uebergang schaffen, der sich am besten mit dem jetzigen Zustande verträgt und aus dem sich nach und nach der Idealzustand einer gänzlichen Ablösung heraus entwickeln könnte.
Aber dauernd Eingang finden und dauernd bestehen kann dieses Troncsystem nur dann, wenn das Publikum die Angestellten auch tatsächlich vor der weiteren persönlichen Annahme des Trinkgeldes schützt, das heißt, wenn es in die Kassen auch tatsächlich den Betrag wirft, den die Beteiligten, natürlich unter Berücksichtigung der Höhe der Hotelrechnung, verdient haben, und wenn sie vor allen Dingen bares Geld in die Kassen werfen und nicht wie in den Klingelbeutel einen alten Hosenknopf, weil ja hinterher keiner kontrollieren kann, von wem der Hosenknopf stammt. Die alten Hosenknöpfe, die ohnehin nicht sehr hoch im Kurs stehen, müßten als Münze ganz abgeschafft werden. Dann kann und wird durch das Troncsystem die Trinkgeldfrage in kürzester Zeit nicht nur für die Angestellten, sondern auch hauptsächlich für die Reisenden selbst gelöst sein.