Ein Traum.

von

Freiherr von Schlicht.

aus: Das Album. Monatsschrift für Kunst und Literatur. VIII.Jahrgang, 1905, Heft 1.

Weinend und schluchzend hing sie an seinem Hals und küsste ihn immer wieder aufs neue. „Und nicht wahr, Du bleibst mir treu?” fragte sie endlich mit tränenerstickter Stimme. „Auch wenn ich nicht mehr bei Dir bin, bleiben wir die alten und Du kommst zu mir, so oft Du kannst.”

„Gewiss, gewiss,” tröstete sie der Baron.

„Und Du wirst Dir keine neue Freundin anschaffen? Auch in Zukunft bleibe ich Deine einzige Liebe?”

„Gewiss, gewiss,” tröstete er sie noch einmal, „aber wirst auch Du mir treu bleiben, Gerda?”

Sie sah ihn mit ihren grossen Augen erstaunt an.

„Wie kannst Du nur so fragen? Glaubst Du, dass je die Stunde kommen könnte, in der ich mich in einen anderen verliebe, glaubst Du, dass es überhaupt einen Mann gibt, der, nach Dir, würdig ist, von mir geliebt zu werden, glaubst Du, dass ich je vergessen könnte, was Du mir Gutes getan, was ich Dir verdanke? Mein Herz, meine Schönheit, meine Liebe, alles gehört nur Dir, nur Dir allein auf der Welt.” Und wieder warf sie sich weinend an seine Brust und bedeckte sein Gesicht mit feurigen Küssen.

Endlich erschien der Diener, um zu melden, dass der Wagen vorgefahren sei und Gerda brach in einen neuen Tränenstrom aus.

„Ich kann Dich nicht lassen, begleite mich, bleib wenigstens die ersten paar Tage bei mir, mir graut vor dem Alleinsein.”

Aber der Baron schüttelte den Kopf.

„Es geht nicht, Liebling. Du weisst, ich habe morgen vormittag eine sehr wichtige Konferenz, die ich unter keinen Umständen versäumen darf, aber in den nächsten Tagen komme ich zu Dir. Und nun, mein Liebling, wird es Zeit für Dich, der Zug wartet nicht, Glück auf den Weg und auf ein frohes Wiedersehen.” –

Und fast gewaltsam drängte er sie zur Tür hinaus, dann trat er an das Fenster und lauschte dem Rollen des davonfahrenden Wagens, um sich gleich darauf in einen Stuhl fallen zu lassen und vor sich hinzustarren. Nun war der gefürchtete Tag da, nun war er allein. Drei Jahre waren es her, dass er Gerda, die damals kaum 17 Jahre alt, in einem grossen Herrenmodengeschäft kennen gelernt hatte. Aus einer flüchtigen Bekanntschaft, aus einem lustigen Abend in einem Chambre separé hatte sich eine Liaison entwickelt, die sich von Tag zu Tag fester knüpfte. Es fing damit an, dass er sie aus dem Geschäft herausnahm und ihr eine reizende, kleine Wohnung mietete, aber schliesslich wohnte sie fast ganz bei ihm, er musste sie immer um sich haben, er musste ihr fröhliches Lachen hören, und wenn er einmal nach Hause kam, ohne sie in seinen Räumen anzutreffen, war er schlechter Laune, bis sie lachend und trällernd zu ihm ins Zimmer trat und ihre Arme um ihn schlang. Gerda war keine blendende Schönheit, aber sie hatte Verstand und Temperament. Sie war von mittelgrosser, schlanker Figur, ihr Gesicht hatte einen etwas dunklen Teint, unergründlich tiefe, schwarze Augen, die fast noch schwärzer waren, als ihr dunkles Haar. In ihrem ganzen Wesen hatte sie etwas Zigeunerhaftes, so dass er sie nie anders als seine Carmen nannte. Zwei Jahre gingen so dahin, ohne dass einer von den beiden je darüber nachdachte, wie lange dieses Zusammenleben noch anhalten würde. Der Baron war sehr reich, so konnte er sich den Luxus seiner kleinen Zigeunerin gestatten und ihre Wünsche erfüllen. Sein Beruf, er war Legationssekretär bei einer Botschaft, nahm ihn nur wenige Stunden des Tages in Anspruch, und wenn er des Abends durch gesellschaftliche Verpflichtungen einmal ferngehalten wurde, freute er sich schon im Voraus auf den zärtlichen Empfang, den Carmen ihm bei seiner Rückkehr bereitete. Sie war der Inbegriff einer zärtlichen Geliebten und noch eins kam dazu und bewirkte, dass er mit aufrichtiger Liebe an ihr hing, sie war ihm unbedingt treu. Es fehlte nicht an guten Freunden, die ihm seine Carmen abspenstig zu machen versuchten und namentlich der kleine Graf, ein zur Botschaft kommandierter Offizier, hatte offen erklärt, „diese Carmen erobere ich mir”. Aber auch ihm war es nicht geglückt, und der Baron war einmal darüber gekommen, wie Gerda den kleinen Grafen auf das schmählichste abfallen liess. Lachend hatte der Baron den Grafen, den einzigen, auf den er zuweilen im stillen eifersüchtig gewesen war, getröstet, und der Graf hatte geschworen, ein für allemal von seiner Leidenschaft kuriert zu sein. Und doch hat er sie einmal gefragt, „Gerda, Du bist zu schön, um treu zu sein” und à la Lohengrin, hatte er halb lachend und halb beunruhigt gesungen, „Carmen, mit wem betrügst Du mich?” Statt jeder Antwort hatte sie ihn nur mit ihren unergründlich tiefen Augen angesehen, er hatte gefühlt, wie er unter ihren vorwurfsvollen Blicken rot geworden war, und er hatte nichts weiter zu sagen vermocht, als „vergib mir, das ich an Dir habe zweifeln können.”

Wie sie ihm fehlen würde! Der Baron sprang auf und ging erregt im Zimmer auf und ab. Schliesslich hatte er ihr ja selbst beigestimmt, als sie den Wunsch äusserte, zur Bühne zu gehen, er hatte sie ja selbst ausbilden lassen, sich um ihr erstes Engagement in einer der Residenz benachbarten Stadt bemüht, er hatte ihr bei der Durchführung ihrer Pläne geholfen, ihre Zukunft für die nächsten Jahre gesichert, alles für sie getan, was er konnte. Er begriff jetzt selbst nicht, wie er ihr die Hand dazu geboten hatte, dass Carmen von ihm fortging. Und doch war es vielleicht das beste so, über kurz oder lang hätte die Sache doch ein Ende genommen, denn keine Liaison währet ja ewiglich. Einmal musste ja doch geschieden sein, dann am liebsten so, in alter Liebe, in alter Freundschaft, beide einander dankbar für alles, was sie sich gegenseitig gewesen waren. So blieben sie auch getrennt das, was sie jahrelang gewesen waren, und sie konnten sich wiedersehen, so oft der Wunsch dazu auf beiden Seiten vorhanden war.

Und plötzlich überfiel ihn die Lust, Carmen doch noch heute zu besuchen. Er hatte ihr eine reizende, kleine Wohnung mieten lassen und diese mit den Möbeln, die er ihr hier geschenkt, entzückend eingerichtet. Er hatte ihr eine gute Wirtschafterin besorgen lassen, die ihr den Haushalt führte, an alles hatte er gedacht, und für den Tag des Empfangs hatte er ihre Wohnung in einen Blumenhain umwandeln lassen. Nichts hatte er vergessen, ja sogar den grossen Veilchenstrauss, der jeden Abend neben ihrem Bett stehen musste, hatte er hinstellen lassen. Vor zwei Tagen hatte er seinen Kammerdiener hingeschickt, um nachsehen zu lassen, ob auch alles in Ordnung sei, und um die letzten Vorbereitungen für ihren Empfang zu treffen. So wusste er, dass alles auf das beste besorgt sei. „Was Carmen wohl sagen wird,” dachte der Baron. „Wie wird sie sich freuen, wenn ich den ersten Abend in ihrer neuen Wohnung bei ihr bin. Allerdings kann ich nur wenige Stunden bleiben, ich muss spätestens morgen den Frühzug benutzen.” In fröhlicher Ungeduld rief er seinen Diener, liess sich die notwendigsten Sachen zusammenpacken, und fuhr wenig später zur Bahn. In einer Stunde konnte er bei ihr sein. „Wie wird Carmen sich freuen.” Dieser Gedanke liess ihn auch während der Eisenbahnfahrt nicht los. Als er bald darauf am Ziel der Reise angekommen, in einer Droschke nach Carmens Wohnung fuhr, strahlten ihm die hellerleuchteten Fenster entgegen: „da oben sitzt sie nun ganz einsam und verlassen und denkt an mich, arme kleine Carmen, na gleich wird die Freude ja um so grösser sein.”

Aber als er an der Etagentür klingelte, war Carmen nicht zu Haus: „das gnädige Fräulein ist eben mit dem Herrn Baron zur Post gegangen, um ein Telegramm aufzugeben, aber die Herrschaften müssen gleich zurückkommen, sie haben das Abendessen auf ein halb acht bestellt und bis dahin fehlen nur noch zehn Minuten.”

Der Baron glaubte nicht recht zu hören, und blickte die Haushälterin, die sein Kammerdiener engagiert hatte, und die ihn selbst heute zum erstenmal sah, verständnislos an.

„Welcher Baron?” fragte er und drückte ihr, um sie gesprächig zu machen, ein Geldstück in die Hand.

„Nun, der Baron, der dem gnädigen Fräulein die Wohnung hier eingerichtet hat, und der auch mich engagierte. Vorgestern schickte er seinen Kammerdiener, und heute hat er das gnädige Fräulein selbst herbegleitet.”

„Ach nee, wirklich?” fragte der Baron, das war alles, was er vor Erstaunen sagen konnte.

„Wollen der gnädige Herr nicht näher treten? Der gnädige Herr kennt das gnädige Fräulein wohl von früher her?”

„Flüchtig,” gab der Baron zur Antwort.

„Dann kennen der gnädige Herr wohl den Herrn Baron?”

„Allerdings, er ist mein bester Freund.”

„Na, da werden sich die Herrschaften aber freuen, da will ich nur gleich noch ein Kuvert auflegen, der gnädige Herr bleiben doch zum Abendbrot?”

Aber der Baron lehnte ab: „ich will nur ein paar Worte aufschreiben.” Er ging durch die Räume und sah sich alles an, dann trat er in das Schlafzimmer. Dort stand neben dem Bett auf dem Toilettentisch sein Veilchenstrauss, aber neben dem seinen stand noch ein zweiter. Also der andere musste auch Carmens Gewohnheit kennen, nie ohne einen Veilchenstrauss neben ihrem Bett einschlafen zu können. Wer war der andere, mit dem sie ihn sicher schon monatelang betrogen hatte, der sie hierher begleitet hatte und den sie für den Baron ausgab. Er fragte die Wirtin aus und erfuhr, dass kein anderer als der kleine Graf sein glücklicher Nebenbuhler sei. Für einen Augenblick packte ihn wilde Wut, er wollte hier bleiben und die beiden zur Rede stellen, aber er besann sich doch eines besseren, er wollte vor der Wirtin keine Szene machen, und er wollte zu dem Schaden nicht auch noch Spott und Hohn ernten. So reiste er denn wieder ab und zu Haus fand er ein Telegramm von Carmen vor: „Tausend Dank für alle deine Güte, durch grenzenlose Treue will ich Dir danken mein Lebenlang, ich sitze traurig und weinend alleine zu Hause, ach wärest Du doch bei mir.”

Der Baron lachte bitter auf: „Was Carmen wohl sagen wird, wenn sie heute abend ihr Schlafzimmer betritt?” Er hatte der Wirtin fünfzig Mark gegeben und dieselbe Summe für den nächsten Tag versprochen, wenn er den Beweis dafür hätte, dass sie schweigen könnte. Dann war er in das Schlafzimmer gegangen und hatte seinen Veilchenstrauss fortgenommen, und er war der Wirtin sicher, Carmen konnte suchen und fragen, soviel sie wollte, die Veilchen waren und blieben verschwunden.

Am nächsten Morgen telegraphierte der Baron an Carmen. „Wie hast Du geschlafen, mein Lieb?” Und mit einem Eilbrief kam die Antwort: „Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und kein Auge geschlossen, ich glaubte beständig, zärtliche Liebesworte zu hören, ich fühlte flammende Küsse, mir war, als hielten starke Arme mich umschlungen. Wie kann man nur wachend etwas so Schönes träumen?”

Und gleich darauf telegraphierte der Baron zurück: „Sollte das alles wirklich nur ein Traum gewesen sein?”

Da erriet Gerda, wer ihr gestern die Veilchen fortgenommen hatte und sie gab es auf, den Baron von ihrer grenzenlosen Treue zu überzeugen.


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© Karlheinz Everts