Erzählung aus dem Offiziersleben von Freiherrn von Schlicht.
in: „Point d'honneur”.
Wir saßen zusammen an unserem Stammtisch, Juristen, Offiziere, Aerzte, kurz, Vertreter eines jeden Standes. Die Unterhaltung drehte sich um den neuesten Roman eines bekannten Schriftstellers, der erst vor wenigen Tagen erschienen war und berechtigtes Aufsehen errgte. Wir waren alle des Lobes voll und selbst die strengsten Kritiker hatten weder an der Charakteristik der Personen, noch an der Technik des Buches das geringste auszusetzen. Wir wandten uns an einen Engländer, der seit einigen Tagen als Gast unter uns weilte, um auch ihn, den Ausländer, nach seinem Urteil zu befragen.
„Leider kann ich mich Ihrem Beifall nicht anschließen,” entgegnete er, „denn die Hauptsache bei der Lektüre eines jeden Buches, das Interesse und die Liebe für den Helden, fehlt mir.”
Verwundert sahen wir ihn an.
„Wie ist es nur möglich, daß Sie sich nicht für den Helden begeistern können, er ist ein guter edler Mensch, dessen Charakter mit wahrer Meisterschaft gezeichnet und durchgeführt ist.”
„Das mag sein,” antwortete der Engländer, „ich bin der deutschen Sprache vielleicht zu wenig mächtig, um alle Feinheiten und Schönheiten derselben zu verstehen. Aber dennoch bleibe ich bei meinem Urtei: ich kann mich für den Helden nicht interessieren, ich habe kein Mitleid mit ihm und seinem Geschick.”
„Und warum nicht?”
„Aus einem sehr einfachen Grunde: er ist kein Mann.”
Ein Sturm der Entrüstung und Entgegnungen erhob sich:
„Ja, was verstehen Sie denn unter einem Mann, welche Eigenschaften verlangen Sie denn von ihm?”
„Zunächst die, daß er nicht weint. Ein Mann, der bei dem Anblick seiner einstigen Geliebten verzweiflungsvoll in Thränen ausbricht, ist nach meiner Meinung eben kein Mann. Man nennt die Deutschen das gefühlvollste Volk der Welt, ob mit Recht oder Unrecht, vermag ich nicht anzugeben, das aber weiß ich, daß bei uns selbst ein Knabe von sechzehn Jahren sich in einem ähnlichen Falle lieber die Zunge abbeißen würde, als daß er seine Empfindungen durch einen Thränenstrom verriete.”
Einige widersprachen:
„Und wann geben Sie einem Mann denn das Recht zu weinen?”
„Nie.” Und es dauerte nur wenige Sekunden, da wurde auf das lebhafteste die Frage erörtert:
„Darf ein Mann weinen oder nicht?”
Die Ansichten gingen weit auseinander, einige wenige, darunter auch ich, stimmten dem Engländer bei, man dürfe stöhnen, klagen, ja selbst schreien vor Schmerz und Kummer, wie uns Homer von den alten Helden berichtete, man dürfe, um sich das Herz zu erleichtern und um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben, alles thun, nur nicht weinen. Dagegen erhoben namentlich die Aerzte Einspruch: Eine solche Frage allgemein zu beantworten, sei unmöglich. Alle Naturen wären verschieden, es gäbe auf der ganzen Welt nicht zwei Individuen, die sich in ihrem Innern, in ihren Gefühlen und Empfindungen gleich seien. Was den einen kalt ließe, mache den anden erzittern und erbeben, bei dem einen äußere sich der Schmerz in dumpfen Klagen, bei dem andern durch Weinen. Nicht immer seien Thränen ein Zeichen der Schwäche.
Dagegen verwahrten sich die Offiziere. Einer erzählte, im letzten Kriege sei sein bester Freund an seiner Seite gefallen, eine Granate habe ihm den rechten Arm abgerissen. Er hätte sich zu ihm herabgebeugt, um ihm zu helfen, da habe er gesehen, wie sein Kamerad vor Schmerz geweint habe; mit Verachtung habe er sich von ihm abgewandt und es nicht über sein Herz gebracht, sich weiter um ihn zu kümmern.
„Und kennen Sie keine anderen Schmerzen als körperliche?” fragte von dem Sofa her die alte, verabschiedete Excellenz. Es war eine große, stattliche Erscheinung, trotz seiner sechzig Jahre war sein dichtes Haar und der große martialische Schnurrbart noch tiefschwarz und seine großen, dunklen Augen blitzten noch in jugendlichem Feuer. Er war das Urbild eines alten Recken.
„Gewiß, Excellenz,” erwiderte der Gefragte, „aber ich glaube, wenn man den körperlichen Schmerz stumm ertragen kann — und man vermag es, wenn man will — so kann man auch den seelischen Schmerz überwinden, ohne zu klagen und zu weinen, und wer es nicht kann — der ist kein Mann.”
Ich sah, wie die langen Schnurrbartspitzen der alten Excellenz in heftiger Erregung zitterten, wie die dunklen Augen den Sprecher drohend ansahen und eine starke Bewegung ihn ergriff.
„Junger Freund, es ist ein hartes Wort, das Sie soeben gesprochen haben und Sie hätten besser gethan, es für sich zu behalten. Ich weiß nicht, ob und wie viel des Leides Sie bisher kennen gelernt haben, aber auch Sie können nicht wissen, ob der eine oder andere von denen, die hier am Tische sitzen, ob nicht vielleicht ich selbst schon einmal einem Toten eine Thräne nachgeweint habe.”
Der junge Offizier sah verwundert die alte Excellenz an, die, ihn um mehr denn Kopfeslänge überragend, ihm gegenübersaß:
„Ich wollte niemand mit meinen Worten kränken, aber ich glaube kaum, daß irgend einer, am wenigsten Euer Excellenz, sich durch meine Bemerkung getroffen fühlen können.”
Wieder blitzte es in den dunklen Augen des alten Generals auf, aber nur für eine Sekunde, dann fragte er ruhig:
„Und was sagen die anderen Herren zu dem Urteil unseres jungen Kameraden?”
Wieder gingen die Meinungen hin und her, ich trat auf die Seite des Offiziers und machte seine Behauptungen zu den meinigen. Aber so viele Köpfe, so viele Ansichten.
„Gehen wir heim,” sagte endlich die alte Excellenz. „Wortgefechte führen selten oder nie eine Entscheidung herbei und nur in den seltensten Fällen lassen sich allgemeine Fragen allgemein beantworten.” Er wandte sich zu mir: „Kommen Sie mit?”
Ich bejahte es und ergriff Mantel und Hut. Wir schlugen gewöhnlich zusammen den Heimweg ein, es war uns beiden ein Bedürfnis, uns vor dem Schlafengehen noch etwas „die Beine zu vertreten” und nur in den seltensten Fällen benutzten wir die Pferdebahn oder einen Wagen.
„Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir auch heute,” sagte er zu mir, als wir uns draußen wegen des dünnen, feinen Regens den Paletotkragen in die Höhe schlugen — einen Schirm trug die alte Excellenz als früherer Soldat nie und auch ich hatte mir infolge seiner Neckereien dieses überflüssigste aller Bekleidungsstücke abgewöhnt.
Wir waren wohl fünf Minuten schweigend nebeneinander hergegangen, jeder von uns mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, als plötzlich die alte Excellenz stehen blieb, mich starr ansah und mich fragte:
„Glauben Sie, daß ich das bin, was man im allgemeinen und im besonderen unter einem ,Mann' versteht?”
Erstaunt sah ich ihn an.
„Aber Excellenz, welche Frage!”
„Und die Antwort?”
Ich verstand den alten Herrn nicht:
„Aber Excellenz, der höchste militärische Rang, die hohen Orden, die Sie sich wegen persönlicher Tapferkeit vor dem Feind erworben haben, die Auszeichnung, mit der die Kriegsgeschichte Ihr Verhalten erwähnt, das hohe Vertrauen, daß Ihr kaiserlicher Herr stets in Sie gesetzt hat, beantworten die Frage besser, als alle meine Worte es vermöchten.”
Wieder ging er eine ganze Weile schweigend neben mir her, mich im unklaren lassend über den Grund und die Veranlassung seiner Worte. Wieder blieb er neben mir stehen und fragte plötzlich und unerwartet:
„Glauben Sie, daß ich weinen kann?”
Ich sah empor zu der stolzen, breitschulterigen Gestalt, neben der ich mir trotz meiner Größe fast wie ein Zwerg vorkam, ich sah ih in das ernste männliche Gesicht, in die scharf geschnittenen, festen Züge —
„Nun?” fast ungeduldig kam das Wort über seine Lippen.
„Auf eine offene Frage gehört eine offene Antwort: Ich glaube es nicht, Excellenz.”
Er setzte seinen Weg wieder fort und anfangs mehr zu sich selbst als zu mir, später aber nur seine Worte an mich richtend, sagte er:
„Und dennoch habe ich einmal geweint, geweint, daß ich glaubte, daran sterben zu sollen, aber ich schäme mich dieser Thränen nicht.”
„Als ich eben Premierlieutenant geworden war, habe ich mich verheiratet. Sie kennen ja meine Frau, die beste, treueste und liebevollste Gattin, die man sich denken und vorstellen kann. In heiterem, sorglosem Glück ging das erste Jahr unserer Ehe dahin, wohlhabend, ohne reich zu sein, genossen wir die Freuden des Lebens und erfreuten uns an dem Schönen und Edlen, das wir uns mit unserem Geld erwerben und zugängig machen konnten. Meine Frau war immer heiter, immer lustig und fröhlich, wohin wir auch kamen, überall erregte sie Aufsehen und man beneidete mich ob des Juwels an meiner Seite. Aber als ein Jahr vergangen war, da ließ plötzlich ihr Frohsinn mehr und mehr nach, ihr Gesang, durch den sie an den langen Winterabenden mich und unsere Gäste, die kameradschaftlich, ohne große Festlichkeiten, bei uns verkehrten, erfreut hatte, verstummte, ihre Unternehmungslust zu Ausflügen und kleinen lustigen Abenteuern nahm mehr und mehr ab, ihr kleines Gesicht wurde immer blasser, und häufig, wenn ich sie heimlich beobachtete und sie sich unbeachtet glaubte, sah ich Thränen in ihren Augen schimmern. Lange beschwor ich sie vergebens, mir den Grund ihrer Traurigkeit und ihres Kummers zu nennen, aber als wir eines Abends von der Taufe bei einem Regimentskameraden zurückkehrten, gestand sie mir, daß sie sich mit allen Fasern ihres Herzens nach einem Kindchen sehne, das sie pflegen und lieben und mit dem sie sich beschäftigen könne. Sie sei so viel allein, fast den ganzen Tag sei ich dienstlich abwesend, in den Stunden der Einsamkeit stiege der Wunsch manchmal mit verzehrender Sehnsucht in ihrem Herzen auf und ließe sie weinen, klagen und mit dem Schicksal hadern. Ich versuchte sie zu trösten, wir beide seien noch so jung, ein langes Leben stünde uns, wenn Gott uns gnädig, noch bevor, ich verwies ihr das Klagen und deutete auf die Zukunft hin, die eine Erfüllung ihres Wunsches, der auch der meine sei, bringen werde. Meine Worte blieben nicht ohne Erfolg. Die Hoffnung bemächtigte sich ihrer, sie wurde wieder lebenslustiger und heiterer, der Zeit und der Zukunft vertrauend, aber ein Jahr verging nach dem andern. Aus dem Premierlieutenant war ein Stabsoffizier geworden, ich hatte inzwischen den Feldzug mitgemacht und das Glück gehabt, mich vor dem Feinde auszeichnen zu können. Mit der Anerkennung meiner höchsten Vorgesetzten, mit Orden geschmückt war ich zurückgekehrt. Als ich zum erstenmal nach Beendigung des Krieges, in dem Gottes Hand mich vor jeglichem Unglücksfall behütet hatte, mein treues Weib an meine Brust zog und aufjubelnd vor Glück und Freude sie immer und immer wieder in die Arme schloß, dankte ich dem Himmel auf den Knieen, daß er mich diese Stunde hatte erleben lassen, und überwältigt von meinen Gefühlen sprach ich: ,Ist es nicht fast zu viel des Glückes, was wir genießen, was fehlt uns noch zu der höchsten Glückseligkeit?'”
„Ein Kind!” Meine Frau sagte es mit einem so klagenden, jammervollen Ton, daß ihre Worte mir fast das Herz zerrissen und ich mich mit eiserner Energie bezwingen mußte, um nicht zu verraten, wie ihre Gedanken mit den meinigen zusammenträfen. Ich suchte sie zu trösten, aber ich merkte gar bald, Worte waren vergebens, nur die alles heilende Zeit vermochte auch diesen Schmerz zu lindern. Täglich, während ich im Felde war, hatte sie sich um mich geängstigt und gefürchtet, sich mit allen Farben des Schreckens es ausgemalt, wenn das für sie Furchtbare einträfe und eine Kugel mein Leben beendete. Was dann? hatte sie sich gefragt und da jeder Schmerz, selbst der der reinsten, aufrichtigsten Liebe, egoistisch ist, hatte sie mit Schaudern daran gedacht, wie sie dann in Zukunft das Leben ertragen würde, einsam, allein, ohne mich und ohne ein Kind. Und wieder sprach ich ihr Hoffnung ein und wieder vergingen Jahre.”
Der Erzähler schwieg einen Augenblick, es war mir, als ob gar ernste, traurige Gedanken sein Herz bewegten, dann fuhr er fort:
„Durch die Gnade Seiner Majestät war ich inzwischen zum Kommandeur eines Infanterieregiments ernannt worden. Wir hatten den Umzug nach der neuen Garnison vollendet und bald einen liebenswürdigen, geselligen Verkehr gefunden. Als wir eines Abends von einem Ball zurückfuhren, fragte ich besorgt meine Frau, ob sie sich nicht wohl fühle, ob ihr etwas fehle, da sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nicht einen einzigen Schritt getanzt habe. Ich sah, wie sie bei meinen Worten errötete und wie ein leichtes Zittern durch ihren Körper ging, dann schmiegte sie sich fest an mich und flüsterte mir die Worte in das Ohr, die mir die Erfüllung unseres sehnlichsten Wunsches nach siebzehn langen Jahren in nahe Aussicht stellten. Siebzehn Jahre waren wir verheiratet und erst jetzt, da wir beide längst zu hoffen nicht mehr gewagt hatten, wurde unsere Bitte erhört. Unsere Freude, unser Glück und unseren Jubel zu schildern und zu beschreiben, ist unmöglich. Monate vergingen, das Befinden meiner Frau war besser, als wir es je hätten erwarten können und wenige Wochen trennten uns nur noch von der Stunde, die wir seit siebzehn Jahren erhofft und ersehnt hatten. Da hatte ich eines Tages bei dem Regimentsexerzieren das Unglück, mit dem Gaul zu stürzen, eine Sehnenzerrung am linken Fuß und eine stark aufgeschlagene Kniescheibe waren die Folge. Mit den wahnsinnigsten Schmerzen stieg ich wieder zu Pferde, ich wäre lieber gestorben, als daß ich die Uebung meinetwegen abgebrochen hätte, dann ritt ich heim, mich kaum noch im Sattel haltend. Meine Diener hoben mich vom Pferd und trugen mich hinauf in meine Wohnung. Als meine Frau meiner ansichtig wurde, fiel sie in Ohnmacht; in dem Zustand, in dem sie sich befand, mußte ich für sie das Schlimmste fürchten. Ein Diener jagte zum Arzt, der gleich darauf erschien. Meine Frau war mit dem bloßen Schrecken davongekommen, anders aber lautete das Urteil über mich: ,Zu Bett, Eis, Gips', was weiß ich, die ganze Apotheke wurde mir verordnet. ,Seien Sie froh, daß Sie so davongekommen sind', sagte der Arzt zu mir; ,bei Ihrer Größe und Ihrem Gewicht hätte es leicht viel schlimmere Folgen haben können. Immerhin aber werden Sie wenigstens sechs Wochen ganz fest liegen müssen.' Sechs Wochen, gerade in dieser Zeit, bedenken Sie, was das für mich bedeutete. Ich quartierte mich in die Fremdenstube ein, dort konnte ich die Besuche der Adjutanten, die Ordonnanzen und wer sonst noch etwa kam, empfangen, ohne fürchten zu müssen, meine Frau, die am andern Ende des Korridors schlief, zu stören. Ich hatte an meine Schwester geschrieben, sie kam, um zu helfen und nach dem Rechten zu sehen. Wochen lag ich krank, allein mit den Schmerzen. Und eines Abends, als ich aus einem kurzen furchtbaren Schlummer erwachte, öffnete sich die Thür zu meinem Zimmer und herein brachten sie mir, in weiße Windeln vergraben, den kleinen, kahlen Kopf mit einer Zipfelmütze bedeckt, den neugeborenen Erdenbürger, einen Knaben, meinen Sohn. Ich wollte sprechen, aber ich konnte keinen Ton hervorbringen, die Kehle war mir wie zugeschnürt, ich nahm das kleine Wesen in meine Arme und küßte es immer und immer wieder. Endlich fand ich die Sprache wieder: ,Und die Mutter, wie glückselig wird auch sie sein, wie geht es ihr?' — ,Gut', antwortete meine Schwester, ,aber auch sie wird lange, lange Zeit gebrauchen, ehe sie wieder aufstehen kann.' Ich wollte mich erheben, mich mit Hilfe meiner Schwester an das Bett meiner Frau schleppen, aber bei dem Versuch, das kranke Bein zu bewegen, sank ich in die Kissen zurück. Durch den Mund meiner Schwester sandte ich ihr den herzlichsten Gruß und Kuß, dann verschwand sie wieder mit dem Knaben und ich war wieder allein. Wie ein Sonnenschein wandelte das Kind in den nächsten Tagen von einem Krankenbett zu dem andern, Sorgen und Schmerzen verscheuchend, wo es mit seinen großen Augen unbewußt hinblickte. Und wenn mein kleiner Sohn, den ich aus Furcht, ihn mit meinen großen, harten Händen zu zerbrechen, kaum anzurühren wagte, unter meiner Decke neben mir lag, dann machte ich mir für ihn die kühnsten Pläne und versprach ihm, daß er ein tüchtiger Soldat, ein treuer Diener seines Herrn werden sollte. Aber so sind wir Menschen, immer beschäftigen wir uns in Gedanken mit der Zukunft, von der wir alles erwarten und erhoffen, und schätzen die Freuden, die die Gegenwart uns bietet, gering. Wieder waren einige Tage verflossen; wie bei meiner Frau, so machte auch bei mir die Genesung langsame, aber stetige Fortschritte, dennoch konnten Wochen vergehen, bevor daran zu denken war, daß wir aufstehen, einander sehen und sprechen könnten. ,Wo bleibt das Kind?', fragte ich eines Morgens den Diener, als die Stunde, in der mein kleiner Sohn mir sonst hereingebracht wurde, längst verflossen war. Er ging, sich zu erkundigen und gleich darauf erschien meine Schwester: ,Der Kleine ist nicht ganz wohl, wir wollen ihn lieber heute ruhig in seiner Wiege lassen', lautete die Antwort. Besorgt schaute ich sie an: ,Doch nichts Ernstliches?' Aber ich verwarf den Gedanken selbst, was sollte dem kleinen, strammen, nach Aussage der Aerzte kerngesunden Bengel wohl fehlen? Auch meine Schwester verlachte mich wegen meiner Sorge, ein leichtes Unwohlsein, weiter nichts; was ihm eigentlich fehlte, wußte keiner. Drei Tage später war er tot.”
Wieder schwieg die alte Excellenz, ich ging stumm nebenher, jedes Wort des Trostes hätte leer und nichtig geklungen gegenüber einer solchen schmerzlichen Erinnerung. Ein paarmal drehte er sich mit der Rechten die dichten Enden seines Schnurrbarts, um seiner Erregung Herr zu werden und fuhr dann fort:
„Als sie mir zuerst die Nachricht brachten, habe ich es nicht geglaubt, ich habe es nicht glauben wollen um meiner Frau, um meiner selbst, um unseres Kindes willen. Aber als ich an den Worten nicht mehr zweifeln konnte und durfte, als ich zu begreifen begann, daß unser kleiner Sohn, auf den wir siebzehn Jahre lang gewartet hatten, jetzt schon wieder von uns gegangen sei, da habe ich die Fäuste geballt in ohnmächtiger Wut gegen das Schicksal und mich immer und immer wieder gefragt: ,Warum mußte dies Kind denn erst geboren werden, warum, warum? Und die Frau, wie erträgt sie das Furchtbare?' fragte ich die Schwester. ,Sie weiß es noch nicht, sie schläft ganz fest und ihre rechte Hand ruht in der Wiege auf dem toten Liebling.'
„,Vater im Himmel, hab Erbarmen, schenke ihr das Erwachen, nimm auch sie zu dir hinüber und laß sie mit dem Kinde zugleich vor dein Angesicht treten.' Ich habe verzweiflungsvoll die Hände gerungen und immer und immer wieder den sündhaften Wunsch zum Himmel hinaufgesandt. Da klang über den langen Korridor her ein Schrei, so fürchterlich, so gräßlich und entsetzlich, wie ihn nur ein Mutterherz auszustoßen vermag, das das Liebste, was es besaß, auf immer verloren hat. — ,Sie ist erwacht,' flüsterte meine Schwester und eilte davon, um zu trösten und zu helfen. Ich bin kein Feigling, ich habe Mut und habe es bewiesen. Ich habe als einer der ersten die Spicherer Höhen erklommen und bin weder vor dem Wutgeheul der Feinde, noch vor den Klagelauten der Freunde, die scharenweise neben mir fielen, zurückgebebt; aber als ich den Schrei aus dem Munde der Mutter hörte, da bin ich unter die Decke gekrochen und habe mir die Kissen um die Ohren geschlagen, um nur nichts zu hören von dem Kummer und dem Elend, die sich so dicht bei mir abspielten. Und ich lag krank, ich durfte und konnte nicht zu ihr hingehen, sie in meine Arme nehmen, sie trösten, küssen und zu ihr sprechen: ,Verzage nicht, noch bin ich bei dir.' Lassen Sie mich schweigen von den folgenden Tagen, in denen die fremden Menschen unser Kind in den kleinen Sarg legten, es hinaustrugen in die harte, kalte Erde. Lassen Sie mich schweigen von dem Augenblick, wo ich hörte, wie die Wagen sich vor der Hausthür in Bewegung setzten und lassen Sie mich schweigen von der Minute, in der mein Adjutant wortlos wieder zu mir ins Zimmer trat und ich wußte: Nun ist alles vorbei. Ich habe die Zähne aufeinander gebissen, ich habe mir die Nägel in das Fleisch gebohrt, daß es blutete und mein Herz ist mir schier zerrissen. Endlich, nach einer Ewigkeit sprach der Arzt das Erlösungswort. ,Sie dürfen auf kurze Zeit aufstehen und mit einer Stütze zu gehen versuchen.' Mit Hilfe meines Dieners erhob ich mich und kleidete mich an, auf seine Schultern gestützt, schleppte ich mich an die Zimmerthür meiner Frau und winkte ihm zu gehen. Leise öffnete ich die Thür, ich wollte sie überraschen, sie erfreuen durch meinen plötzlichen, unerwarteten Besuch. Ich wandte meine Blicke dem Lager zu. In den Kissen, um Jahre gealtert, mit schneeweißen Haaren, ruhte meine Frau, vor ihr auf einem Tischchen lagen die kleinen Jacken und Mützen, die unser Sohn während seines kurzen Lebens getragen hatte. Mit weicher, liebevoller Hand streichelte sie die winzigen Andenken und von Zeit zu Zeit führte sie eine der kleinen Sachen zum Kuß an ihre Lippen, leise vor sich hinflüsternd: ,Mein Kind, mein über alles geliebtes Kind.' Da hatte sie mich bemerkt, sie wandte ihren Kopf mir zu, richtete sich auf ihrem Lager halb empor, hielt mir die winzigen Kleidchen entgegen und mit einem Schrei, der mir durch Mark und Bein ging, der mir das Blut in den Adern erstarren ließ, rief sie: ,Sieh her, das ist alles, was sie uns von unserem Kinde gelassen haben.' Ich hatte mir zugeschworen, fest und hart zu sein wie Eisen, nicht zu klagen und nicht zu jammern, um nicht durch meinen Schmerz den ihrigen zu vergrößern, aber als ich dies Wort aus ihrem Munde hörte, in dem sich ihre ganze Verzweiflung, ihre ganze Mutlosigkeit und Verzagtheit ausdrückte, als ich in das vor Kummer und Gram alt gewordene Gesicht blickte — da war es mit meiner Fassung zu Ende. Selbst zu leiden ist manchmal hart, aber das Liebste, das man hat, leiden zu sehen, ohne helfen zu können, ist furchtbar. Auf den Knieen bin ich zu dem Bett meiner Frau herangerutscht, ich habe meinen Kopf in die Kissen vergraben und habe geweint wie ein Kind.”
Der alte Herr schwieg, wir waren schon ein paarmal an seiner Hausthür vorübergegangen, nun zog er den Schlüssel aus seiner Tasche und reichte mir zum Abschied die Hand:
„Nun habe ich Ihnen alles erzählt, glauben Sie noch, daß ich ein Mann bin, oder verachten Sie mich wegen meiner Thränen?”
Stumm drückte ich ihm die Hand, ich wollte sprechen und ihn wegen meines harten Urteils um Verzeihung bitten, aber ich vermochte es nicht. Wortlos wandte ich mich ab, um die Thränen zu verbergen, die mir heimlich in die Augen gestiegen waren.